Leslie Jamison: "Es muss schreien, es muss brennen"

Essays über Gefühle im Übermaß

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Das Buchcover "Es muss schreien, es muss brennen" von Leslie Jamison istvor einem grafischen Hintergrund zu sehen.
Mit "Es muss schreien, es muss brennen" zeigt sich Leslie Jamison erneut als intelligente Erzählerin, urteilt Susanne Billig. © Deutschlandradio / Hanser Verlag
Von Susanne Billig · 05.05.2021
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Auch in ihrem neuen Buch bleibt Leslie Jamison ihrem Kernthema treu: Gefühl und Selbstreflexion. Ihre essayistischen Werke über Empathie oder ihren mühsamen Ausstieg aus der Alkoholsucht haben die US-amerikanische Schriftstellerin berühmt gemacht.
Bridgette McNeal lebt in Atlanta, wo sie acht Stunden am Tag in einem Callcenter arbeitet und vier Kinder großzieht, darunter schwer autistische Zwillinge.
Jeden Morgen steht die berufstätige Mutter in aller Frühe auf, um eineinhalb Stunden auf der Online-Plattform "Second Life" zu verbringen: mit Villa, perfektem Grundstück am Fluss, rosa Bettwäsche und Ausschlafen bis in die Puppen.

Einsamkeit, Albträume, Fantasiewelten

"Es muss schreien, es muss brennen" heißt die neue Essaysammlung von Leslie Jamison. Darin bleibt sie ihrem Kernthema treu: Es geht um Menschen, die in verschiedenster Weise ein Übermaß der Gefühle suchen und gleichzeitig schwer daran tragen.
Sie jonglieren mit völlig unterschiedlichen Lebensentwürfen wie jene Mutter in Atlanta; sind furchtbar einsam und verwenden ihre gesamte Freizeit darauf, sich im Internet über die Wanderungen eines einzelgängerischen Wals auszutauschen. Sie verstricken sich zusammen mit ihren Kindern in wiederkehrenden nächtlichen Albträumen oder geistern liebessehnsüchtig durch die glitzernden Fantasiewelten von Las Vegas, wo sie sich in pinkfarbenen Kirchen ewige Treue schwören und tags darauf scheiden lassen.

Das Elend mit Blitzen ausgeleuchtet

"Sehnen", "Schauen", "Bleiben". Unter diese drei Überschriften stellt die Autorin sehr treffend die Abschnitte ihres Buches, dessen Aufsätze immer persönlicher werden, bis hin zur Geburt des Kindes von Leslie Jamison – eine neue Hoffnung auf noch mehr Spüren und Lieben.
In einigen Geschichten beobachtet sich die Autorin selbst, in anderen tritt sie als reisende Reporterin auf oder behandelt historische Themen wie die Armutsreportagen von James Agee und seiner Mitstreiter in den USA der 1920er-Jahre.
In diese Zeit datiert auch die Episode, die dem Buch seinen Titel gegeben hat: Jacob Riis, ein Pionier der sozialdokumentarischen Fotografie, fackelte mit seinen Blitz-Apparaturen die elenden Hütten mitunter fast ab, die er der Welt zeigen wollte. Es musste schreien, es musste brennen.

Wohldosierte Selbstenthüllung

Auch in ihren jüngsten Arbeiten zeigt sich Leslie Jamison als intelligente Erzählerin, die auf dem schmalen Grat zwischen beobachtender Distanz, wohldosierter Selbstenthüllung und dem harten Griff in die Abgründe der menschlichen Seele zu wandeln weiß.
Meistens – denn mitunter beginnen ihre essayistischen Kunstwerke auch zu schwanken. Wenn sie etwa endlos lang die Männer in ihrer Familie Revue passieren lässt und all die Figuren doch seltsam blass bleiben. Oder wenn sie von ihrem Missbehagen auf den Hochzeiten anderer erzählt und wie sie selbst entdeckt, was Liebe wirklich ist: viel Alltag und Nachsicht. Dann wird es fast schon banal.

Ermüdend wie das wahre Leben

"Es war doch gut und gut genug!" Das möchte man Leslie Jamison beim Lesen dann mitunter zurufen. Noch mehr Assoziationen und Gedankenanhäufungen machen nicht jeden Aufsatz besser.
Irgendwann verwandelt allein die Länge eines Textes das literarisch gebändigte in so etwas wie das gelebte Leben: eins zu eins, mit Schleifen, Wiederholungen, ermüdenden Redundanzen.
Doch wer weiß? Vielleicht nimmt Leslie Jamison genau das gerne in Kauf.

Leslie Jamison: "Es muss schreien, es muss brennen"
Aus dem Englischen übersetzt von Sophie Zeitz
Verlag Hanser Berlin, Berlin 2021
320 Seiten, 25 Euro

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