Berlin-Tegel und die Wabe

Die Durststrecke des Sechsecks

06:15 Minuten
Gerkan, Marg und Partner tragen sechseckige Pappbrillen.
Die Architekten Gerkan, Marg und Partner bei der Eröffnung des Flughafen Tegel 1974 – mit sechseckigen Pappbrillen. © Otto Stark
Von Marietta Schwarz · 03.11.2020
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Mit der Schließung des Flughafens Berlin-Tegel nehmen die Berliner auch Abschied von einer Ikone des sechseckigen Baus. Einst war die Wabenform in der Architektur populär. Heute scheinen Rentabilitätserwägungen eher das Rechteck zu befördern.
Von den Architekten Gerkan, Marg und Partner existiert ein lustiges Schwarz-Weiß-Foto von der Flughafeneröffnung in Berlin-Tegel 1974: Drei junge Männer in Partylaune mit Zigarette und Drink in der Hand. Auf ihren Nasen sitzt eine sechseckige Brille aus Pappe. Die "Wabenbrille" – kleiner Partyscherz, große Idee: "Das, was Sie als sechseckiges Gebäude in der Mitte sehen, ist im Grunde eine Erweiterung des Dauerparkplatzes, genau das berechtigt erst zu der Bezeichnung Drive-in-Flughafen."

Waben aus Glas

Innen parken – außen abfliegen: Das war das Konzept von Tegel, und das Sechseck die perfekte Form dafür. Der Flughafen besteht im Prinzip aus zwei mehrgeschossigen Waben aus Glas. Die Innenräume sind ebenfalls sechs- beziehungsweise dreieckig geschnitten. Ein Sechseck in der Architektur setzt sich häufig aus Dreiecken zusammen, was man auch an den Deckenpaneelen in Tegel ablesen kann.
Der Architekt Meinhard von Gerkan war bekennender Frank-Lloyd-Wright-Fan, sagt der Architekturhistoriker Felix Torkar. Und der US-Architekt hat die Sechseckform bereits in den 1930er-Jahren popularisiert: "Wright war fasziniert von der Kombination aus Naturformen und Mathematik. Er verstand das Sechseck als weniger hierarchische und befreiende Planform", sagt Torkar. "Mitte der 60er-Jahre hat dann der Architekt Paul Schneider Esl eben die sechseckige Wabenform schon beim Flughafen Köln-Bonn angewendet, aber noch nicht so konsequent wie in Tegel."
Ein weiterer Impuls für Tegel war der Flughafen London Gatwick, erbaut 1936, bekannt auch unter dem Namen "Beehive", so Torkar. Gatwick ist rund, orientiert sich aber ebenfalls an der Idee des Bienenstocks. Und die Biene, warum baut die sechseckig, hab ich mich gefragt, und dann den Bienenforscher Jürgen Tautz kontaktiert.

Der Kreis als Ursprungsform

Die Ursprungsform, auch für die Biene, ist der Kreis, sagt Tautz. Ein kreisförmiger Raum bietet maximalen Rauminhalt bei minimalem Materialverbrauch für die Wände. "Wenn man aber jetzt mehrere Räume unter der gleichen Prämisse anlegen wollte, dann stellt man fest, dass zwischen diesen runden Räumen Leerräume bleiben, einfach weil diese Kugeln nur punktuell aneinanderstoßen. Und wenn man da zum Sechseck übergeht, hat man die perfekte Situation."
Die Bienen ziehen ihre Wabenwände aus Wachs zunächst kreisförmig nach oben. Dann erzeugen sie mit ihrem Flügelschlag eine solche Hitze, dass das Wachs zu schmelzen beginnt – hin zu den Wänden der Nachbarwabe. Tautz spricht von der "Selbstorganisation des Materials". Ein Sechseck entsteht! "Man kann das sogar beobachten im Backofen, das Fenster zumachen, wenn man einen geeigneten Plätzchenteig herstellt, runde Formen aussticht und dann zu backen beginnt. Die Ausdehnung des Teiges führt dann dazu, dass genau sechseckige Plätzchen entstehen, die exakt aneinander angrenzen."

Sechsecke waren mal überall

Kein Wunder, dass Architekten, Designer und Ingenieure sich mit dem Aufkommen der Bionik in die Wabenform verlieben. In den 1960er- und 1970er-Jahren taucht das Sechseck schließlich an vielen Stellen auf: Nicht nur als Show-Wand, leider mit biederen Blumengestecken, bei TV-Moderator Hans Rosenthal und seiner Quizsendung "Dalli Dalli", sondern auch bei Kaufhausfassaden aus Metall oder Betonformstein, bis hin zu den sechseckigen Blumenkübeln aus Waschbeton in unseren Fußgängerzonen.
Die Quizsendung "Dalli Dalli" mit dem Moderator Hans Rosenthal und den Kandidatinnen Maria Schell (rechts) und Barbara Rütting. 
Die Quizsendung "Dalli Dalli" mit dem Moderator Hans Rosenthal und den Kandidatinnen Maria Schell (rechts) und Barbara Rütting. © picture-alliance/United Archives
Dazu Torkar: "Raster, Gitterstrukturen und Elementierungen sind eh schon Großthemen der Nachkriegsarchitektur, und die Wabe ist da der Versuch, es raffinierter, aber trotzdem rational und effektiv zu machen." Die Wabe war etwas Neues, das Material Beton boomte und ermöglichte, auch große Räume stützenfrei zu überspannen. Heute taucht die Wabenform meist nur noch als modische Reminiszenz an diese visionären Zeiten auf. Wenn das Sechseck so genial ist, warum hat es sich dann in der Architektur nicht durchgesetzt?

Heute unrentabel am Bau

"Es stellt sich raus, dass sechseckige Formen zwar gut funktionieren, aber leider beim Bau viel komplizierter sind als rechteckige", sagt der Architekturhistoriker. "Bei den niedrigen Lohnkosten und hohen Budgets in den 60ern konnte man sich das leisten, aber dann ist es ziemlich unrentabel geworden."
Bei den Bienen geht es zum Glück nicht um Rentabilität. Ihre kleine, nachhaltige, perfekte Wabe bleibt uns erhalten. Ansonsten: Seufzer unter den Sechseck-Freunden und –Freundinnen. Es ist eine ziemliche Sechseck-Durststrecke gerade.
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