Behördendeutsch

Ein Satz mit 81 Wörtern

30:20 Minuten
Eine Illustration zeigt einen Mann mit Aktentasche und Ärmelschonern vor einem stapelweise Papier aus denen zum Teil Häuser gebaut sind.
Oft steht man ratlos vor den Verlautbarungen deutscher Behörden und Ämter. Das muss nicht so sein – an einer verständlichen Sprache arbeiten Praktiker und Linguistinnen. © imago / Ikon Images / Maxim Usik
Von Susanne Gugel und Thorsten Gabriel · 22.08.2022
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Rechtsbehelfsbelehrung, Zwangsmittelverhängung, Versagung: Die deutsche Behördensprache ist verquast, umständlich und für die meisten unverständlich. Dabei gibt es seit Jahrzehnten Versuche, sie einfacher zu gestalten. Warum klappt es nicht?
"Gemäß Paragraf 26 Absatz 1 Medienstaatsvertrag in Verbindung mit Artikel 5 Absatz 1 Grundgesetz senden wir Ihnen folgendes Feature – Kostenstelle 4350 – zur freundlichen Kenntnisnahme. Wir weisen Sie darauf hin, dass Sie zum Zuhören verpflichtet sind. Im Verhinderungsfalle ist der Widerspruchsführer aufgefordert, dies schriftlich binnen zwei Wochen ab Sendung mitzuteilen. Mit freundlichen Grüßen, gezeichnet: Ihre Sendeanstalt öffentlichen Rechts."
Ähm, was genau muss ich jetzt machen?
Erstmal nur zuhören! Es geht um Behördendeutsch. Ist nicht immer ganz einfach. Aber keine Angst: Es wird spannend. Lehnen Sie sich einfach entspannt zurück! Wir fangen nämlich jetzt an.
Das erste Schreiben kommt nicht von einer Behörde, sondern geht an eine: eine E-Mail an die Kreisverwaltung Gütersloh. Denn in Gütersloh, so erzählt man sich, hätten sie verstanden, wie man das mit dem Briefeschreiben richtig macht. Behördenpost in verständlichem Deutsch, klar strukturiert, freundlich im Ton. Klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Deshalb lieber mal direkt nachfragen. Ganz oben, beim Landrat. Der heißt in Gütersloh seit 22 Jahren: Adenauer. Und sagt:
"Da bin ich ganz ehrlich. Wenn Sie jetzt nicht gekommen wären, hätte ich über dieses Thema jetzt nicht mehr so nachgedacht."

"Kommunikations-Check" für die Behörde

Sven-Georg Adenauer reagiert schnell auf die Mailanfrage, muss sich aber erstmal sachkundig machen. Oberste Priorität scheint das Thema "Verständliche Sprache" für ihn nicht mehr zu haben. Dabei war er selbst 2009 die treibende Kraft. Er war es, der seiner Behörde einen umfassenden "Kommunikations-Check" verordnete. "Adenauer verabschiedet Amtsdeutsch", hieß es damals. Schluss sollte sein mit "Rechtsbehelfsbelehrungen", "Versagungen" und "Zwangsmittelverhängungen", zumindest sprachlich.
"Weil ich auch von Bürgern das Feedback immer wieder bekommen habe: ‚Ja, was meint ihr denn damit?‘ Und: ‚Ich kann das nicht verstehen.‘ Und ich selber habe auch das eine oder andere Schreiben bekommen, jetzt nicht von meiner Behörde, wo ich mir dann überlegt habe: Wenn hier Ebenen miteinander kommunizieren, die sich nicht verstehen, dann kann das nur zu Missverständnissen führen."
Tausende Bescheide verschickt die Kreisverwaltung jedes Jahr. 2009 strotzen die nur so vor hochachtungsvoller Amtlichkeit: gemäß Paragraf sowieso. Adenauer geht das Problem von oben an.
"Wir haben mit allen Führungskräften hier im Haus Kontakt aufgenommen, haben die geschult, haben erst einmal gesagt: ‚Schaut euch mal alle Briefe an, alle Schreiben, die rausgehen!‘ Und dann haben wir gesagt: Jetzt bilden wir uns fort. Wir haben die Politik auch mit einbezogen, denn die Politiker, die bei uns im Kreistag sitzen, sind ja auch Multiplikatoren, und haben die eigentlich alle geschult."

Verständlich und trotzdem rechtssicher

Der Landrat holt sich professionelle Hilfe. Und zwar bei IDEMA, einer Firma mit Sitz in Bochum, die eng mit der dortigen Ruhr-Universität zusammenarbeitet. 2010 ging das Unternehmen aus einem wissenschaftlichen Projekt hervor, das sich der Vision verschrieben hatte, das Amtsdeutsch zu verschönern. IDEMA stand damals für "Internet-Dienst für eine moderne Amtssprache". Davon ist heute nur noch die Abkürzung geblieben. Und das Thema.
"Wir qualifizieren Mitarbeiter weiter in Behörden, aber auch in Unternehmen, wie man sich in Texten verständlich und zugleich rechtssicher ausdrücken kann, beziehungsweise wie man sich in Texten verständlich und inhaltlich korrekt ausdrücken kann. Dann überarbeiten wir auch für Kunden Texte. Das heißt, wenn ein Kunde sagt: ‚Ich habe hier 200, 300 Texte, habe aber gar nicht die Kapazitäten, die selber alle neu zu gestalten‘, dann können wir das auch übernehmen."
Michaela Blaha hat IDEMA mitgegründet. Besonders die Zusammenarbeit mit der Stadt Bochum im Jahr 2000 bescherte dem Projekt schnell Aufmerksamkeit. Gefragt ist ihre Beratung auch 20 Jahre später noch. Für Blaha ist das durchaus ein Dilemma: Als Beraterin hat sie einen krisenfesten Job – als Steuerzahlerin aber zeigt sie sich empört über so viele Behördenschreiben, die noch immer schwer verständlich sind.
"Es ist eigentlich ein Skandal! Man kann es auch ruhig mit solchen drastischen Worten sagen. Wieso finanziere ich was, was ich aber nicht verstehen kann? Wieso muss ich da immer anrufen? Und dann wird mir teilweise gesagt: ‚Ja, jetzt lesen Sie den Brief erst mal und dann können Sie mich noch mal anrufen.‘ Ich habe den gelesen, fünfmal. Habe es trotzdem nicht verstanden. Das ist ein Skandal. Deutschland ist in der Hinsicht ein Entwicklungsland."
Auf dem Bogen für eine Steuerklärung liegt ein blauer Kugelschreiber.
Für viele Bürger ein jährlich wiederkehrender Albtraum: das schwer verständliche Formular für die Steuererklärung.© imago images / Shotshop
Verehrte Hörerinnen und Hörer! Herzlich willkommen zu unserer amtlichen Schulungsmaßnahme: "Behördisch lernen leicht gemacht!" – Fangen wir gleich mit Aufgabe eins an. Sie wollen einem Bürger mitteilen, dass er verpflichtet ist, eine Steuererklärung abzugeben. Wie würden Sie das formulieren?
Vielleicht: "Bitte geben Sie eine Steuererklärung ab"?
Fast richtig! Sie würden schreiben:
"Gemäß Paragrafen 149, 150 AO in Verbindung mit Paragraf 25, Absatz 3, EStG ergibt sich für Sie eine Verpflichtung zur Abgabe der Einkommensteuererklärung."
Post vom Finanzamt – was viele am liebsten gar nicht lesen, schaut sich Christine Möhrs ganz genau an. Die Sprachwissenschaftlerin arbeitet am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Seit drei Jahren begleitet das Institut das Projekt "Bürgernahe Sprache" der deutschen Finanzbehörden.
"2018 gab es eine Finanzministerkonferenz, in der dieses Thema thematisiert wurde: Wie können wir uns sozusagen als Finanzverwaltung den Bürgerinnen und Bürgern über die Sprache nähern?"

Schöner, freundlicher, verständlicher – geht das?

Bund und Länder gründeten Arbeitsgruppen. Die Beschäftigten durchkämmen bis heute einen Wust an Steuertexten.
"Zum Beispiel gibt es eine Unterarbeitsgruppe, die sich mit den sogenannten Erläuterungstexten im Steuerbescheid beschäftigt. Das sind diese kleinen Texte, die erläutern, wenn von einer Angabe, die ein Steuerbürger gemacht hat, vonseiten des Finanzamts abgewichen wird und dann kurz erklärt wird, warum das so ist."
Vorlagen, Musterbriefe, Anleitungen – an die 600 Schreiben, sagt Möhrs, habe man sich bereits vorgeknöpft, um die amtliche Post schöner, freundlicher und verständlicher zu machen. Eine gemeinsame Stilfibel entsteht. Und auch die Bürgerinnen und Bürger konnten mitreden. In einer Onlineumfrage haben ihnen Christine Möhrs und ihr Team Texte vorgelegt, die sie bewerten sollten. Texte, wie sie die Steuerbehörden seit Jahrzehnten verschickt haben. Daneben Texte, die überarbeitet wurden.
"Etwas, was uns natürlich irgendwie auch erfreut hat, war zum Beispiel: Gerade bei diesen Vergleichsaufgaben haben über 70 Prozent der Befragten gesagt, dass ihnen die Nachher-Texte besser gefallen und dass sie damit besser zurechtkommen."
Statt beispielsweise erst Paragrafen zu zitieren, aus denen sich eine "Verpflichtung zur Abgabe einer Einkommenssteuer-Erklärung" ergibt, heißt es jetzt schlicht: "Sie sind verpflichtet, eine Einkommenssteuer-Erklärung abzugeben." Punkt. Erst danach folgen, mit Aufzählungszeichen versehen, die Rechtsgrundlagen.

Verständlich schreiben ist kein Hexenwerk

Verständlich zu schreiben ist eigentlich kein Hexenwerk, es ist vor allem Handwerk. Das weiß auch der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider. Als Professor an der Universität Hohenheim ist sein Arbeitsgebiet die Verständlichkeitsforschung.
"Die Verständlichkeitsforschung oder auch Lesbarkeitsforschung hat eine lange Tradition. 30er-Jahre etwa in den USA, kommt ursprünglich aus der Schulbuchforschung. Da hat man versucht herauszufinden, welche Texte für Schulbücher in welcher Jahrgangsstufe geeignet sind", erklärt er.
Das hat zu tun mit der formalen Schwierigkeit von Texten, gemessen an der Satzlänge beispielsweise in Wörtern oder an der Wortlänge in Buchstaben. Das musste man damals alles noch per Hand auszählen und messen. Und dann kam meinetwegen ein Wert von sieben raus und dann wusste man: Dieser Text gehört in die Jahrgangsstufe sieben ohne Sitzenbleiben. Und neun war dann die neunte Jahrgangsstufe."
Neben dieser formelgestützten Verständlichkeitsforschung gibt es auch noch das Hamburger Verständlichkeitsmodell. Es fragt unter anderem danach, wie gut ein Text gegliedert ist und ob er neben dem Hirn auch das Herz anspricht. Aus alldem ließen sich ein paar Grundsätze ableiten, wie man verständlich textet:
"Dazu gehört zum Beispiel die Regel: ein Gedanke, ein Satz. Und wenn es einen zweiten oder dritten Gedanken gibt, dann verdienen die auch einen zweiten oder einen dritten Satz und nicht diese Monstersätze, Schachtelsätze, die endlos dahinmäandern. Das ist der eine Punkt. Das Übersetzen von Fachbegriffen gehört dazu", sagt Brettschneider.
"Dann gehört auch dazu, dass man möglichst Substantive meidet, -ung, -heit und -keit, das haben wir in unserer deutschen Sprache sehr gerne. Aber wir haben auch schöne, kraftvolle Verben, die geeigneter sind, etwas auszudrücken. Dann gehört dazu, dass man, wenn es nur irgend geht, auf zusammengesetzte Wörter verzichtet. Auch die machen es sich in der deutschen Sprache so richtig gemütlich. Aber da gehören sie eigentlich nicht hin. Der Nutzfahrzeugvollsortimenthersteller oder der Donaudampfschifffahrtskapitänsgesellschaftsmützenhalter, sowas kann man ja immer noch weitertreiben, das sollte man nicht tun. Das sind Verständlichkeitsbarrieren."

"Erklären" ist nicht gleich "erklären"

Je kürzer, desto verständlicher also – das gilt bei einzelnen Wörtern wie ganzen Sätzen. Sprachwissenschaftlerin Christine Möhrs nimmt neben dieser Oberflächengestaltung auch das Innere der Wörter in den Blick: ihre Bedeutung. Auch hier kann es knifflig werden, wenn wir im Alltag ein Wort anders verwenden, als es in Behördenbriefen gemeint ist:
"Zum Beispiel das Wort ‚erklären‘. So im ganz normalen täglichen Gebrauch würde man vielleicht sagen: ‚Hier, ich erkläre dir das noch mal!‘ Wenn jemand sagt: ‚Das habe ich noch nicht verstanden‘, sage ich: ‚Komm, ich erkläre es dir noch mal!‘ Das heißt, hier geht es irgendwie von der Wortbedeutung her um etwas, was einer anderen Person noch nicht deutlich geworden ist oder was die Person nicht verstanden hat, noch mal in anderen Worten erläutern.
Und im Verwaltungskontext wird – wir denken mal an die Steuererklärung – hier nicht unbedingt etwas erklärt, was noch nicht verstanden wurde, sondern man erklärt etwas, indem man etwas angibt. Da rutschen wir so in eine Sphäre von Fachsprache, die etwas damit zu tun hat, dass Wörter polysem sind, also dass Wörter unterschiedliche Bedeutungen haben können."

"Funktionsverbgefüge" statt Verben

Manchmal sind es auch Stilfragen, die einen Text leichtgängig oder schwerfällig daherkommen lassen. Und da zählen Verwaltungen nicht gerade zu den Werbetextern für schnurgerades Deutsch. Im Zweifel darf es lieber mal ein bisschen komplizierter sein, wenn es auch einfacher ginge.
"Das ist zum Beispiel etwas, was mich auch ganz besonders interessiert, dass zum Beispiel sogenannte ‚Funktionsverbgefüge‘, sagen wir im Linguistischen, benutzt werden in Verwaltungskontexten, also so etwas wie ‚zur Anzeige bringen‘ anstatt ‚anzeigen‘. So was kommt uns auch sehr, sehr häufig vor. Und es ist sehr spannend, sich die Frage zu stellen in Satzkontexten: Warum wird jetzt hier dieses Funktionsverbgefüge und nicht das Verb verwendet?"
Mit gesprochenem Alltagsdeutsch haben "Funktionsverbgefüge" jedenfalls recht wenig zu tun. Auch deshalb kommen sie uns in behördlicher Post so umständlich, manchmal auch antiquiert vor. Ähnlich ist das bei einem Wort wie "Kraftfahrzeug". Die meisten von uns sagen nun mal "Auto". Dass sich einige dieser Wörter, die eigentlich keiner sagt, in Verwaltungsdokumenten bis heute halten, habe mit dem Versuch zu tun, das Deutsche künstlich zu verändern, sagt Michaela Blaha von IDEMA. Um 1900 versuchte der Allgemeine Deutsche Sprachverein, in die Sprache einzugreifen. Begründung: Das Deutsche verkomme zunehmend durch fremde Wörter.

Wörter, die am Schreibtisch entstanden sind

"Damals waren Wörter verpönt, die beispielsweise aus dem Französischen kamen, wie ‚Fotografie‘. Da hieß es dann, das sollte man lieber ‚Lichtbild‘ nennen, das ist viel deutscher. Oder zum Beispiel ‚telefonieren‘: Da sollte man lieber ‚fernen‘ sagen. Eine ‚Telefonistin‘ ist eigentlich eine ‚Fernerin‘. Oder statt ‚Kopie‘ könnte man besser ‚Ablichtung‘ sagen. Oder ‚Abklatsch‘ war auch so ein Vorschlag, den der Allgemeine Deutsche Sprachverein gemacht hat.
Und das Interessante war – und so ist es ja letztlich auch heute: Diese, wie soll man sagen, sprachpraxisfernen Vorschläge, die hat sich ja jemand am Schreibtisch ausgedacht, die wurden von der Bevölkerung nicht angenommen. Die Menschen haben weiterhin Telefon gesagt, Fotografie und auch Kopie, und die einzigen, die das umgesetzt haben, waren dann per Erlass die Behörden. Und das ist auch der Grund, warum man bis heute in den Behörden solche Wörter findet wie Fern und so weiter. Das haben Menschen nie gesagt."
Und weiter geht es mit unserem amtlichen Seminar "Behördisch lernen leicht gemacht!" – Hier kommt schon Aufgabe zwei! Sie wollen Folgendes mitteilen: "Zu Weihnachten werden die Corona-Kontaktbeschränkungen gelockert. An Heiligabend und den Feiertagen darf ein Haushalt bis zu vier Personen aus dem engsten Familienkreis einladen. Kinder unter 14 Jahren zählen dabei nicht mit." Na, wer will anfangen? Niemand?
Könnte man das nicht einfach genau so sagen?
Könnte man. Die Bundesregierung hat es so gelöst:
"In Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Infektionsgeschehen werden die Länder vom 24. Dezember bis zum 26. Dezember 2020 – als Ausnahme von den sonst geltenden Kontaktbeschränkungen – während dieser Zeit Treffen mit vier über den eigenen Hausstand hinausgehenden Personen zuzüglich Kindern im Alter bis 14 Jahre aus dem engsten Familienkreis, also Ehegatten, Lebenspartnern und Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft sowie Verwandten in gerader Linie, Geschwistern, Geschwisterkindern und deren jeweiligen Haushaltsangehörigen zulassen, auch wenn dies mehr als zwei Hausstände oder fünf Personen über 14 Jahren bedeutet."
Porträtaufnahme von Frank Brettschneider, Inhaber des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim.
Mittels einer Software analysiert der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider die Verständlichkeit von Texten.© picture alliance / dpa / Marijan Murat
An der Uni Hohenheim fühlen sie Texten wie diesem mit Technik auf den Zahn. "TextLab" heißt die Software, die das Institut für Kommunikationswissenschaft mitentwickelt hat. Und die wird von Frank Brettschneider und seinem Team mit allem Möglichen gefüttert:
"Wir gucken uns alles an, was man so messen kann. Das fängt an mit der Bäckerblume und der Apotheken-Umschau und geht über die Reden von Vorstandsvorsitzenden von DAX30-Unternehmen, Reden von Politikerinnen und Politikern, Dissertationen, Medienberichterstattung, die Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Banken und Versicherungen, Gebrauchsanleitung für die Elektroindustrie, aber auch Packungsbeilagen aus der pharmazeutischen Industrie, Broschüren, Flyer, wirklich alles, was in Textform vorliegt."
Und die Software? Brütet kurz darüber und spuckt dann eine Zahl zwischen 0 und 20 aus:
"Null heißt formal sehr unverständlich. 20 ist formal sehr verständlich."
Wobei der Spitzenwert von 20 nicht immer das Ziel ist. Es komme auf die jeweilige Textgattung an.
"20 ist ein Wert, den man erreichen möchte, wenn man leichte Sprache schreibt, also für etwa lese- und lernbehinderte Menschen. Aber jetzt für eine Rede beispielsweise, würde ich sagen, ist so ein Wert um die 15, 16 ausreichend."

Sätze mit mehr als 20 Wörtern sind ein Problem

Auch bei Hörfunknachrichten messe man solche Werte.
"Die liegen so bei 16, 16,3, 16,5. Deutschlandfunk beispielsweise 16,5. Das ist auch gar nicht so überraschend, weil im Hörfunk wie bei einer Rede man auch formal schon deswegen verständlicher sein muss, weil man nicht zurückblättern kann. Man muss es sofort verstanden haben."
Und wie ist das nun mit amtlichen Texten?
"Ich nehme jetzt mal einen Beschluss eines Treffens der Ministerpräsidentenkonferenz gemeinsam mit Angela Merkel zum Thema Corona. Das ist vom Ende letzten Jahres."
Sekundenschnell ist die Pressemitteilung hochgeladen und ausgewertet. Ergebnis?
"0,56. Da muss man jetzt kein Verständlichkeitsforscher sein, um zu erkennen: Da gibt es Verbesserungspotenzial. Da haben wir hier drüben die Anzeige der einzelnen Parameter und Rot sehen wir schon: Sätze mit mehr als 20 Wörtern. Das ist offenbar ein Problem. Der zweite Satz: 40 Wörter. Der dritte Satz: 27. 23, 46, 31 Wörter. 81. Das ist einer meiner Lieblinge. Ein Satz mit 81 Wörtern. Da wissen Sie am Ende nicht mehr, wie er angefangen hat."

Der Staat muss sich verständlich mitteilen

Aber auch Fremdwörter, juristische Fachsprache, Wortungetüme, Modalverben oder Füllwörter fischt die Software heraus – damit die Schreibenden sie kritisch prüfen können: Sind diese Wörter wirklich nötig oder geht es auch einfacher? Es sei für einen Staat wichtig, sich verständlich mitzuteilen – gerade in Krisenzeiten, sagt Brettschneider. Schließlich erwarten die Menschen dann von offiziellen Stellen Orientierung.
"Jetzt könnte man sagen: Naja, Pressemitteilung richten sich ja auch nicht an die Bevölkerung, sondern an die Journalistinnen und Journalisten, die das dann übersetzen müssen. Deswegen haben wir uns auch die Verständlichkeit der Antworten auf häufig gestellte Fragen im Internet angeschaut, die sogenannten FAQs. Wo man denkt: Na gut, da kommen jetzt Menschen auf die Website eines Ministeriums, weil sie die Antwort auf eine spezifische Frage suchen. Sie gucken, finden sie die? Sie sind glücklich, dass sie sie finden. Sie lesen sie und dann sind sie nicht mehr glücklich. Weil sie nämlich die Antwort genauso wenig verstehen wie die Pressemitteilung."
So, liebe Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer. Hier noch ein schönes Praxis-Beispiel für Sie. Sie fragen beim Gesundheitsministerium nach: Haben Corona-Selbsttests denselben Wert wie Antigen-Schnelltests? Was antwortet man da?
Naja – kommt drauf an. Die verschiedenen Tests sind ja unterschiedlich zuverlässig. Und bei den Selbsttest hängt die Zuverlässigkeit natürlich davon ab, ob man sie korrekt anwendet.
Stimmt. Aber machen wir es doch behördisch korrekt. In den "Häufig gestellten Fragen" zu Corona schreibt das Bundesgesundheitsministerium folgendes: "Die Antigentests zur Eigenanwendung mit Sonderzulassung durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) müssen bereits über eine CE-Kennzeichnung für professionelle Anwender verfügen und positiv durch das PEI evaluiert worden sein. Weiterer Schwerpunkt der BfArM-Prüfung sind mit Blick auf die verlässliche Nutzung durch Laien Nachweise zur Gebrauchstauglichkeit der Tests."

Ein Corona-Vokabel-Schnelltest

Und weil wir gerade dabei sind, hier noch ein Schnelltest – ein Corona-Vokabel-Schnelltest!
Begriff Nummer eins: Wie nennt man das, was in Clubs und Discos geschieht, auf Behördisch?
Richtig! Der behördisch korrekte Begriff, der in keiner Corona-Verordnung fehlen darf, lautet: "Tanzlustbarkeiten"!
Begriff Nummer zwei: Wie heißt "Quarantäne" in korrektem Behördendeutsch?
Korrekt! Corona-Fachleute nennen das: "Häusliche Absonderung".
Und der letzte Begriff: Sie wollen Wandertage von Schulklassen verbieten. Wie sagen Sie dazu?
Genau! Schulausflüge sind "pädagogisch begleitete Außenaktivitäten"!
Gut gemacht!

Angst um die Rechtssicherheit

Zurück in Gütersloh erinnert sich Landrat Sven-Georg Adenauer an die Anfänge seiner Reform.
Er: gerade frisch wiedergewählt und voller Tatendrang. Seine Verwaltung: zunächst nur mittelmäßig begeistert, als er mit dem Thema "Schöner schreiben" um die Ecke kommt.
"Zunächst mal ist da natürlich Skepsis. Und vor allen Dingen das Thema Rechtssicherheit war ein ganz großes Thema. Da haben viele gesagt: ‚Oh, wenn das dann vor Gericht landet?‘"
Genau das ist der wunde Punkt. Die Rechtssicherheit. Sie unterscheidet Behörden von privaten Wirtschaftsunternehmen: Was Ämter mitteilen, muss juristisch wasserdicht sein. Denn amtliche Bescheide haben meist Konsequenzen. IDEMA-Geschäftsführerin Michaela Blaha beobachtet oft in Amtsstuben: An scheinbar bewährten Textbausteinen lieber nicht rühren. Nah am Gesetzestext bleiben, das sei am sichersten. Doch sie weiß aus Erfahrung: Auch Verwaltungsbeschäftigte verstünden nicht immer, was sie da verschickten.
"Das ist auch ein Fehlschluss, den viele Behörden leider haben. Die denken, dass sie an den Texten nichts ändern möchten, die sie jetzt haben, weil sie glauben, die sind wenigstens rechtlich einwandfrei. Aber das ist häufig nicht der Fall."
Zum Beispiel, weil sich Gesetze im Laufe der Jahre geändert haben. Merke: Auch komplizierte Satzungetüme sind nicht automatisch rechtssicher. Oder, wie es der Hohenheimer Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider ausdrückt:
"Ich habe noch keinen Gesetzestext gefunden, in dem explizit drinsteht, dass nur Schachtelsätze rechtssicher sind. Also man kann auch rechtssichere Texte formulieren, die aus kürzeren Sätzen bestehen."

Das Staatsverständnis zeigt sich zwischen den Zeilen

Und zur Rechtssicherheit kommt dann noch die Haltung, mit der Behörden Bürgerinnen und Bürgern begegnen. Welches Staatsverständnis zeigt sich zwischen den Zeilen?
"Wir haben teilweise von der Tonalität her immer noch so einen Befehlston. Da bedankt man sich nicht unbedingt für ein Schreiben der Bürgerinnen und Bürger, sondern man ‚nimmt es zur Kenntnis‘, man ‚hat es erhalten‘. Und dann finden sich solche Infinitivkonstruktionen wie ‚ist zu‘. Irgendetwas ist bis dann und dann ‚zu erledigen‘. Uuuah! Und wenn ich es nicht tue, was passiert dann? Also, eine zugewandte, empathische, wertschätzende Kommunikation sieht da durchaus anders aus."
Michaela Blaha erzählt: "Wenn ich zum Beispiel sage: Statt das Wort ‚entrichten‘ zu verwenden, können Sie auch das Wort ‚zahlen‘ benutzen – weil, wenn man in den Supermarkt geht, sagt man ja auch, man ‚zahlt‘ und nicht man ‚entrichtet‘ den Betrag –, dann habe ich schon mal zu hören bekommen: ‚Ja, aber wir sind hier nicht im Supermarkt! Wir sind eine Behörde!‘"
Diese Behördenmentalität hat eine historische Tradition: Hier oben die Behörde – da unten der Bürger. Ein Ungleichgewicht, das über Jahrhunderte das Staatsverständnis geprägt hat, erklärt die Sprachwissenschaftlerin Christine Möhrs:
"Dieses Obrigkeitshandeln ist natürlich etwas, das ein Stück weit gewollt war, dass das Gegenüber diese Geheimsprache, diese Fachsprache, gar nicht verstehen soll, um wirklich dieses Gefühl zu haben: ‚Nein, ich bin wirklich ein ganz kleines Glied in einer Kette.‘ Und die Bestimmer sind da ganz oben."
Frank Brettschneider ergänzt: "Das heißt nicht, dass heute noch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Verwaltung obrigkeitsstaatlich orientiert wären. Aber ihre Sprache schleppen sie noch mit. Das sind dann Floskeln, die man da findet, oder Begriffe, die kein Mensch mehr verwendet. Aber in den Verwaltungsschreiben sind sie nach wie vor drin."
Historische Wandaufschrift in einem Durchgang neben dem Rathaus von Glückstadt an der Elbe Kreis Steinburg: Das Abstellen von Fahrzeugen aller Art innerhalb der Durchfahrt ist nach der St.V.O. ßß 1, 16 Abs. 2 verboten.
Dass die Behördensprache so kompliziert ist, hat auch mit der deutschen Geschichte zu tun.© imago images / Eckhard Stengel
Hier ein besonders gelungener Einschüchterungsversuch. Kürzlich hat sich eine Hamburger Bürgerin darauf testen lassen, ob sie gegen Keuchhusten immun ist. Das Ergebnis wurde ihr mit höchster Alarmstufe zugestellt.
Ja, aber das ist ja auch richtig so. Und das kann man ja auch klar formulieren: Sie ist immun – oder eben nicht.
Könnte man meinen. Aber das Gesundheitsamt Hamburg-Wandsbek entschied sich dann doch für folgenden Text:
"Dem Gesundheitsamt wurde am 06.08.2021 durch ein Untersuchungslabor mitgeteilt, dass bei Ihnen der Erreger Keuchhusten nachgewiesen wurde. (…) Sie werden daher gemäß Paragraf 25 Absatz 2 in Verbindung mit Paragraf 16 Absatz 2 Satz 3 Infektionsschutzgesetz verpflichtet, die erforderlichen Auskünfte zu erteilen. Bitte beachten Sie: Für den Fall, dass Sie der Aufforderung nicht Folge leisten, können Zwangsmittel gemäß Paragraf 11 HmbVwVG verhängt oder ein Ordnungswidrigkeitenverfahren gemäß Paragraf 73 lfSG eingeleitet werden."

Kompliziert gleich kompetent?

Viel zu sehr hängt das Thema "Verständliche Sprache" in Behörden immer noch davon ab, dass einzelne sich leidenschaftlich engagieren. Gehen sie von Bord, verschwindet oft auch das Augenmerk auf die Sprache. Wie ist das also mit der "Nachhaltigkeit"? Der Gütersloher Landrat Sven-Georg Adenauer ließ vor zwölf Jahren auch die Auszubildenden schulen. Richtig so, sagt die Sprachwissenschaftlerin Christine Möhrs. Einen festen Platz habe das Thema in der Ausbildung allerdings nicht:
"Und deswegen verwundert es auch überhaupt nicht, dass dann Personen, die die Ausbildung abgeschlossen haben und ihre erste Stelle antreten, sicherlich nicht als erstes und als kleiner Anfänger hergehen und dem Vorgesetzten erzählen: ‚Hier, irgendwie finde ich, kann man dieses Schreiben Bürgerinnen und Bürgern nicht zumuten. Wollen wir da nicht mal was ändern?‘"
"Dann ist es oft die Vorstellung davon, was der Vorgesetzte oder die Vorgesetzte von einem erwartet", sagt Frank Brettschneider. "Die Vorstellung ist: Naja, wenn ich einfach formuliere, dann gelte ich vielleicht als weniger kompetent. Also schreibe ich erstmal kompliziert."
Etwas ändern könne sich nur, wenn alle an einem Strang ziehen, argumentiert der Verständlichkeitsforscher:
"Eine gute Kommunikation einer Verwaltung ist am Ende Teamwork, das Zusammenarbeiten verschiedener Kompetenzen. Da gehört die fachliche Richtigkeit dazu. Da gehört die Rechtssicherheit dazu. Und dazu gehört aber dann auch die Verständlichkeit. Und jede Gruppe sollte der anderen nicht die Fähigkeit absprechen, zu einer Verbesserung des Textes beizutragen. Aber die Juristen sollten nicht darüber entscheiden, was verständlich ist. Das ist Sache der Kommunikatoren, und die Kommunikatoren sollten nicht darüber entscheiden, was juristisch richtig oder falsch ist. Das wissen sie nämlich meistens auch nicht."

"Kleine Initiativen, die meistens versanden"

Werden wir erleben, dass es so kommt? Ganz Deutschland ein Land, in dem man Behördenpost gerne liest und sofort versteht? Frank Brettschneider bleibt optimistisch – und verweist auf Baden-Württemberg, wo sich die neue Landesregierung das Thema "Bürgernahe Sprache" in ihren Koalitionsvertrag geschrieben hat. Auch Christine Möhrs am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim ist zuversichtlich. Sie treffe noch immer Leute auf den oberen Ebenen, die das Thema wichtig fänden. In Bochum mag Michaela Blaha dagegen nach all den Jahren im Geschäft nicht mehr so recht daran glauben.
"Optimismus ist mir fremd geworden in dem Bereich. Es ist halt so: Irgendjemand muss es ja finanzieren, wenn einen Veränderungsprozess machen wollen. Da sind andere Länder tatsächlich weiter. Zum Beispiel hat Schweden auf Regierungsebene 300 Mitarbeiter, die sich ausschließlich mit diesem Thema befassen, wie man als Behörde verständlich kommunizieren kann. Davon sind wir in Deutschland Lichtjahre entfernt. Und da mache ich mir eigentlich überhaupt keine Hoffnung, dass sich da irgendetwas tut. Es wird immer wieder etwas gemacht, aber es sind alles kleine Initiativen, die meistens versanden."
Da wirkt der Gütersloher Landrat Adenauer fast wie ein Beleg für Blahas desillusionierten Blick. Vor zwölf Jahren hat er etwas bewegt. Hunderte Beschäftigte wurden geschult, Texte verbessert. Doch die Frage, was davon heute noch übrig ist, kann er nicht beantworten. Zumindest seien ihm in letzter Zeit keine nennenswerten Beschwerden bekannt geworden. Er wolle das Thema aber jetzt noch einmal neu anstoßen. Und wie genau?
"Jetzt habe ich gerade eine Abteilungsleiterkonferenz gehabt! Blöd! Da hätte ich das noch mal ansprechen können. Aber bei der nächsten Zusammenkunft mit meinen Führungskräften werde ich das zum Thema machen. Da kommt es auf die Tagesordnung, einfach, um das noch mal aufzufrischen. Das ist möglicherweise jetzt auch in Vergessenheit geraten. Und da muss man an so einem Thema tatsächlich dranbleiben."

Autorin und Autor: Susanne Gugel und Thorsten Gabriel
Sprecherinnnen und Sprecher: Cathlen Gawlich, Maria Lang und Oliver Urbanski
Regie: Roman Neumann
Ton und Technik: Andreas Stoffels
Redaktion: Martin Mair

Fremdsprache Amtsdeutsch: Seit 25 Jahren übersetzt Lothar Wiegand unverständliche Verwaltungstexte und gibt an der Landesakademie für öffentliche Verwaltung in Brandenburg Schreibseminare für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Ministerien. Diese Nachhilfe kommt ihm allerdings vor wie "ein Tropfen auf den heißen Stein", sagt er in unserer Sendung Studio 9 im Gespräch mit Nicole Dittmer .

Dieses Feature wurde erstmals am 04.10.2021 ausgestrahlt.
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