Umweltproteste in Georgien

Die Retter des Rioni-Tals

22:02 Minuten
Stadtansicht von Kutaissi mit Blick auf Rioni-Fluss.
Im Rioni-Tal am Rande des Kaukasus, hier ein Blick auf die Stadt Kutaissi, gibt es eine einzigartige Natur- und Kulturlandschaft. © picture alliance / dpa / imageBROKER / A. Scholz
Von Christoph Kersting · 13.10.2021
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Was im Herbst 2020 mit kleinen Demonstrationen begann, wurde zu einem landesweiten Protest: der Kampf gegen zwei geplante Wasserkraftwerke samt Staudämmen am Fluss Rioni. Es ist das bisher größte Energievorhaben in der Geschichte Georgiens.
Nino Gugua und Gacha Asatyani übernehmen heute die Nachtschicht im Protestcamp in Gumati. Draußen vor den ehemaligen Armeezelten weht inzwischen ein lauer Abendwind, im Innern der düsteren Behausungen steht noch immer die stickige Luft eines heißen Spätsommertages mit Temperaturen an die 40 Grad. Gacha Asatyani, 27 Jahre alt, lange Haare und Bart, steht der Schweiß auf der Stirn:
"Es sind immer Leute von uns vor Ort, rund um die Uhr. Ich wohne in Kutaissi einige Kilometer flussabwärts, stamme aber aus einem der fünf Dörfer weiter oben am Fluss, die alle geflutet werden sollen für das Wasserkraftprojekt. Wir haben hier im Tal vor einem Jahr ungefähr angefangen mit dem Protest, fünf Leute waren wir damals, heute unterstützen uns Tausende im ganzen Land."
Anfänglich gab es Proteste im nahen Kutaissi mit einigen hundert Menschen, Ende Mai dieses Jahres dann zogen bis zu 10.000 Demonstranten an drei aufeinanderfolgenden Tagen durch die Hauptstadt Tiflis - die größten Umweltproteste, seitdem die ehemalige Sowjetrepublik Georgien 1991 ihre Unabhängigkeit wiedererlangt hat.

Am Anfang ging es vor allem um den Schutz der Umwelt im Rioni-Tal: Der Fluss schlängelt sich durch eine der schönsten Landschaften Georgiens, seit vielen Jahrhunderten wird Wein angebaut, den es nur hier gibt. Vieles von dem würde verschwinden, wenn das sogenannte Namakhvani-Wasserkraftprojekt realisiert werden würde mit seinen zwei Staudämmen, 60 und 111 Meter hoch.
Historische Darstellung vom Wasserkraftwerk Rioni, aus der UdSSR 1933. Gefunden in der Sammlung der Russischen Staatsbibliothek, Moskau. 
Historische Darstellung vom Wasserkraftwerk Rioni, aus der UdSSR 1933. Gefunden in der Sammlung der Russischen Staatsbibliothek, Moskau. © picture alliance / Heritage-Images / Fine Art Images
"Das Rioni-Tal ist einzigartig im Hinblick auf Biodiversität, Flora, Fauna. Im Fluss gibt es zum Beispiel viele Stör-Arten, die sehr sensibel sind und den Bau der Staudämme nicht überleben würden. Es gibt zwar bereits einige Dämme aus Sowjetzeiten in der Region, die sind aber alle nicht sonderlich groß und haben keinen großen Einfluss auf die Tier- und Pflanzenwelt. Das Namakhvani-Projekt aber sieht vor, dass sechs Quadratkilometer an Fläche geflutet werden, und das betrifft auch Wälder, die bislang völlig unberührt sind, weil es dort weder Straßen noch Siedlungen gibt."
Sagt der Energie- und Umweltexperte David Chipashvili von der georgischen NGO "Green Alternative". Hinzu kommt: In der gesamten Region gibt es immer wieder Erdrutsche und Beben. 1991 etwa bebte die Erde in Racha, unweit des Protestcamps, mit einer Stärke von sieben auf der Richterskala. 300 Menschen kamen damals ums Leben, 100.000 wurden obdachlos. Und beim verheerenden Erdbeben 1988 rund um das armenische Spitak, 250 Kilometer südlich vom Rioni-Tal, starben 25.000 Menschen in den Trümmern ihrer Häuser.

Das Rioni-Tal ist nicht erdbebensicher

All das sei doch hinlänglich bekannt, sagt die Aktivistin Nino Gugua. Nicht umsonst sei etwa die komplette Straße flussaufwärts schon seit Jahren gesäumt von Hinweisschildern: Vorsicht! Erdrutschgefahr! Dennoch habe all das bei den Planungen für das Namakhvani-Projekt keine Rolle gespielt, kritisiert auch Tea Godoladze. Die Direktorin des Instituts für Erdbebenforschung an der Staatlichen Universität Tiflis stammt aus dem Rioni-Tal und kennt die Gegend daher gut.


An diesem Morgen sitzt sie in einem Café der Hauptstadt, kommt gerade von einem Interviewtermin mit einem lokalen TV-Sender. Das Thema: Eine neu gebaute Ausfallstraße in der Hauptstadt, die droht wegzurutschen. Nur eins von vielen Beispielen dafür, wie unzureichend solche oder ähnliche Projekte geplant würden in Georgien, sagt die Seismologin Godoladze auch mit Blick auf das Rioni-Tal:
Eine junge Frau und einen Mann sitzen in der Natur und führen ein Interview.
Das Rioni-Tal ist nicht erdbebensicher, das sei auch bekannt, sagt Aktivistin Nino Gugua. Dennoch soll gebaut werden.© Deutschlandradio / Christoph Kersting
"Was im Namakhvani-Fall wirklich alarmierend für uns als Seismologen ist: Es gab und gibt einfach keine umfassenden geologischen Studien, die im Vorfeld des Projekts gemacht wurden. Das existiert alles nur auf dem Papier. Dabei haben wir dort eine unter geologischen Aspekten hochkomplexe Region. Aber nein, offiziell wurde das Rioni-Tal als "aseismisch", also erdbebensicher für die nächsten 10.000 Jahre ausgewiesen. Und das ist ein Verbrechen gegen den Staat, gegen die Menschen und ihre Zukunft."
Die geplanten Dämme würden laut Godoladze wohl schon bei einem Beben der Stärke fünf an ihre Belastungsgrenze gelangen, die Folgen eines Dammbruchs mag sie sich kaum ausmalen: Eine riesige Flutwelle würde auf die nur wenigen Kilometer flussabwärts liegende Stadt Kutaissi mit ihren 150.000 Einwohnern zurollen.

Offiziell geht es um die Unabhängigkeit von Russland

Offiziell begründet wird der Bau der Staudämme damit, dass Georgien neue Energiequellen bei höherem Strombedarf erschließen müsse und sich in Energiefragen unabhängiger vom Nachbarn Russland machen wolle. Ein entsprechendes Videostatement von Premierminister Irakli Garibashvili ist auf den Regierungsseiten online abrufbar. Auf diverse Interviewanfragen zum größten Energievorhaben in der Geschichte Georgiens hat das Deutschlandradio jedoch bis heute keine Rückmeldung erhalten.

Das Argument, von Russland unabhängig zu sein, könne man nicht von der Hand weisen, sagt Sonja Schiffers, die Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Tiflis, zuständig für die Südkaukasus-Region. Aber man sei auch nicht unbedingt auf Wasserkraft angewiesen, auf die man im Rioni-Tal setze, die zudem gravierende Folgen für Menschen und Umwelt hätte. Es gebe auch Wind zur Energiegewinnung. Dennoch haben bei den Kommunalwahlen, die am 2.10. in Georgien stattfanden, zwei Kandidaten gewonnen, die beide für das Projekt der georgischen Regierung sind. Zwischen ihnen findet die Stichwahl am 30.10.2021 statt. Das ganze Interview hören Sie am Ende der Weltzeit.

Der Fluss Rioni und die Stadt Kutaissi in Georgien.
© picture alliance / dpa / picturedesk.com / Nicholas Bettschart
Tatsächlich spielt Wasserkraft zunächst einmal eine besondere Rolle im georgischen Energiemix. Zwar deckt das Land laut Internationaler Energieagentur damit nur rund ein Fünftel seines Bedarfs ab, aber Wasserkraftwerke sind die einzige nennenswerte Energiequelle, über die Georgien selbst verfügt.
Erdgas etwa, das rund 40 Prozent zum Energiehaushalt beiträgt, muss fast komplett importiert werden, vor allem aus Aserbaidschan und Russland. Mit dem Bau der Namakhvani-Staudämme nun will Tiflis den Wasserkraftanteil am Energiemix erhöhen: Zwölf Prozent des landesweit benötigten Stroms sollen künftig von den Turbinen im Rioni-Tal produziert werden. Viele unabhängige Expertinnen und Experten aber kritisieren: Das Namakhvani-Projekt zeige einmal mehr, dass Georgien keine wirkliche Strategie in Energiefragen verfolge.

"Wasserkraft ist keine stabile Energiequelle"

David Chipashvili von "Green Alternative" etwa verweist darauf, dass für eine industrielle Produktion vor allem konstante Energiequellen notwendig seien. Wasserkraft aber, betont der Energieexperte, sei eine stark saisonale Energieform, im Winter gebe es eher wenig davon, im Frühjahr umso mehr.
"Und genauso schwammig ist das Argument, wir wollen weniger Importe, aus Russland zum Beispiel, denn da muss man sich doch genau anschauen: Wie teuer sind denn diese Stromimporte exakt, die aus Russland kommen, aus der Türkei, aus Aserbaidschan, aus Armenien? Und wie teuer ist dann im Vergleich der Strom, den die Namakhvani-Dämme produzieren sollen? Wenn also der Strom aus der Türkei viel billiger ist als der eines neuen Wasserkraftwerks, für das ganze Landstriche vor deiner eigenen Haustür zerstört werden, dann halte ich das für hochproblematisch. Und es geht dabei nicht um die Frage, Wasserkraft ja oder nein, sondern es geht darum, ob ein solches Projekt gerechtfertigt ist. Und das sehen wir hier einfach nicht."

Wenn schon neue inländische Energiequellen erschlossen werden sollen, dann müsste Georgien, so Chipashvili, diversifizieren, sprich: Alternativen zur Wasserkraft prüfen.
"Die georgische Regierung aber setzt weiterhin auf Wasserkraft, anstatt ernsthaft über andere Möglichkeiten wie Wind- und Solarenergie nachzudenken. Wir könnten auch die bereits existierenden Wasserflächen hinter Staudämmen mit schwimmenden Solaranlagen bestücken. Das spart Landfläche, und die technische Infrastruktur ist ja schon vorhanden für den Transport des Stroms etwa. Also: Wir haben Wind in Georgien, wir haben Sonne. All das wird aber seit Jahren schon blockiert, weil es einfach keinen politischen Willen gibt, etwas zu ändern. Wir hören dann immer: Wind und Sonne sind zu teuer. Alles Quatsch. Wenn ich heute Solarenergie aus Aserbaidschan kaufe, kostet das 2,7 Cent pro Kilowattstunde. Die Kilowattstunde in Namakhvani wird aber 6,2 Cent kosten, und der Preis wird dann jedes Jahr noch steigen."

Kritik am Vertrag mit türkischer Betreibergesellschaft

Die 6,2 Cent pro Kilowattstunde sind tatsächlich Bestandteil des Vertrags mit der türkischen Bau- und Betreibergesellschaft Enka. Viele Klauseln im Vertrag haben für harsche Kritik gesorgt in Georgien, so etwa eine Abnahmegarantie für die im Rioni-Tal produzierte Energie: Demnach verpflichtet sich der georgische Staat, den Strom mindestens 15 Jahre lang zu den genannten Konditionen von Enka zu kaufen. Diese und andere Vereinbarungen werden nicht nur von außen kritisiert: Im Frühjahr deckte eine lokale Zeitung auf, dass sogar das georgische Justizministerium den Vertrag in einer internen Stellungnahme als "inakzeptabel" bewertet hat.

Im Protestcamp der "Rioni-Hüter" herrscht inzwischen reges Treiben. Viele Unterstützerinnen und Unterstützer schaffen es erst nach der Arbeit zu kommen, studieren tagsüber oder gehen noch zur Schule. Es gibt ein Zelt nur für Frauen, unter einer großen Plane steht ein Gasherd, daneben Kühlschränke, sogar eine kleine überdachte Bibliothek haben die Staudammgegner eingerichtet.
Die Zeltstadt allerdings ist jetzt fast verwaist, das Leben hat sich auf ein kleines Plateau oberhalb des Camps und der Straße verlagert. An diesem Abend findet eine Infoveranstaltung mit Neuigkeiten rund um den Namakhvani-Protest statt, die Gespräche werden per Stream live im Internet übertragen, nur die Technik hakt noch.
Auf einer der Holzbänke in der Mitte des Platzes hat auch Maka Suladze einen Sitzplatz gefunden. Die 51-Jährige trägt Kopftuch und ein knöchellanges Kleid, so wie viele Frauen im ländlichen Georgien. Maka hat ihr ganzes Leben im Dorf Mekvena verbracht, es liegt flussaufwärts 20 Kilometer vom Camp entfernt. Sie ist fast jeden Tag hier.
Auch ihr Haus müsste beim Bau der Staudämme geflutet werden, doch bislang weigert sich Maka standhaft, ihr Land zu verkaufen an die türkische Betreibergesellschaft. Enka hat inzwischen fast alle für das Projekt relevanten Flächen im Tal aufgekauft – das Land, das vorher öffentlicher Grund war, hat die Betreibergesellschaft dabei fast umsonst, für einen symbolischen Preis bekommen.

Protest gegen die Hinterzimmerpolitik der Regierung

Auch das steht im Vertrag zwischen georgischer Regierung und Enka. Spätestens seitdem das Schriftstück von unabhängigen Medien geleakt wurde, hat der Protest gegen das 800-Millionen-Dollar-Projekt eine politische Note erhalten. Es gehe um Hinterzimmerpolitik, die ohne Beteiligung der Menschen und im Interesse ausländischer Investoren gemacht wird, sagt die Aktivistin Maka Suladze:
"Als ans Licht kam, was in diesem Vertrag steht, war klar: Unsere Interessen, die Umwelt, das Land waren ja schon längst verkauft worden an einen ausländischen Investor. Niemand hat uns aber darüber informiert, geschweige denn uns um unsere Meinung gefragt. All das ist klammheimlich geschehen. Darum ist das unsere wesentliche Forderung an die Regierung in Tiflis: Gebt den Leuten die Entscheidungsgewalt zurück, denen ihr sie gestohlen habt. Erst dann gibt es eine Basis für Gespräche auf Augenhöhe, ob und in welcher Form so ein Projekt sinnvoll ist."
Immerhin hat sich die Lage vor Ort vorerst beruhigt, nachdem es in der ersten Jahreshälfte immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei im Tal gekommen war. Viele Aktivistinnen und Aktivisten wurden ohne weitere Begründung verhaftet und erst nach Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt. Und: Aus ihrem ersten Protestcamp weiter flussaufwärts wurden die Rioni-Hüter bereits im April vertrieben.

Kontrollpunkt beim Protestcamp mit Polizei im Hintergrund.
Ein Kontrollpunkt beim Protestcamp Gumati. Noch hält sich die Polizei zurück.© Deutschlandradio / Christoph Kersting
Die Polizei ist nach wie vor präsent, hält sich aber zurück. An diesem Abend stehen drei uniformierte Beamte etwas gelangweilt in Sichtweite zum Camp an der Straße, die sich das Tal hinauf schlängelt. Und vor einigen Wochen hat unter Federführung der EU ein Mediationsprozess begonnen. Regierungsvertreter sitzen hier mit Bewohnerinnen des Rioni-Tals und Vertretern von Umwelt-NGO's wie "Green Alternative" an einem Tisch.
Die Regierung in Tiflis, allen voran Wirtschaftsministerin Natia Turnava, wird dabei nicht müde zu betonen: Auch, wenn Fehler gemacht worden seien bei der Planung und die Arbeiten aktuell ruhten – die Namakhvani-Staudämme würden am Ende gebaut, daran könne es keinen Zweifel geben. Das sieht die Aktivistin Maka Suladze anders. Die Proteste würden am Ende erfolgreich sein, sagt sie leise, aber bestimmt zum Abschied:
"Wir werden das hier gewinnen, vor allem, weil der Protest im Rioni-Tal zu einem symbolischen Kampf gegen ignorante Politikereliten in Tiflis geworden ist. Das ist kein Umweltprotest mehr, es geht um mehr. Und am Ende wird die Wahrheit über das Unrecht siegen, da bin ich mir sicher."
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