Donnerstag, 28. März 2024

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Musik-Thanatologie
Sterbende mit der Harfe in den Tod begleiten

Sterbenden und Angehörigen mit Musik den Übergang zum Tod zu erleichtern - das ist das Ziel von Musik-Thanatologen. Etwa von Barbara Jean O'Brien. Sie versucht, Angst, Trauer und Sprachlosigkeit am Krankenbett mit der Harfe zu überwinden. Eine Tradition, die sich bis ins Hohe Mittelalter und den Mönchen von Cluny in Frankreich zurückverfolgen lässt.

Von Sonja Beeker | 10.02.2016
    Barbara Jean O´Brien ist Musikthanatalogen - mit Stimme und Harfe in den Tod begleiten
    Die Stimme und die Harfe sind die Instrumente eines Musikthanatalogen (Sonja Beeker)
    An kalten Wintertagen muss Barbara Jean O´Brien die 31 Saiten ihre Harfe ständig nachstimmen. Sobald Quinn, ihr schwarzer Königspudel, die ersten Klänge hört, kommt er aus dem Nebenzimmer und macht es sich in unmittelbarer Nähe zur Harfe bequem. Er liebt Harfenmusik.
    Barbara lebt in einem alten weißen Holzhaus auf dem Land und ist im Ostküstenstaat Maine die einzige zertifizierte Musik-Thanatologin. Deshalb muss sie auch nach sieben Jahren in diesem Berufsfeld immer wieder erklären, was genau sie da eigentlich macht, wenn sie sich mit ihrer Harfe ganz nah an das Bett eines Sterbenden setzt und zu spielen beginnt.
    "Es gibt viele Leute, die in Krankenhäusern Musik für Kranke und Sterbende machen - und das ist eine wunderbare Geste. Aber mit Musikthanatologie hat das nichts zu tun."
    Barbara gibt keine Konzerte vor Patienten oder spielt ein Repertoire von eingeübten Liedern. Ihre Musik ist auf die aktuellen Bedürfnisse des Sterbenden zugeschnitten und entsteht erst vor Ort. Sie holt den Patienten in dem Zustand ab, in dem er sich gerade befindet.
    "Wir schauen uns die Atmung an. Das ist unser erster Anhaltspunkt. Manchmal ist sie schnell und flach, manchmal gaaanz langsam und oft zum Lebensende hin ganz unregelmäßig. Und dann beziehen wir unsere Musik auf den Atem."
    Mal ist die Musik schnell, mal langsam, mal besteht sie aus vielen Wiederholungen, mal ist sie unvorhersehbar, aber immer gilt: Die Stimme und die Harfe sind die Instrumente eines Musikthanatalogen. Die Harfe eignet sich deshalb besonders gut, weil sie sich transportieren lässt und mehr Resonanz hat als etwa eine akustische Gitarre. Und: Auf der Harfe lassen sich sowohl Melodie als auch Akkorde spielen.
    Hautoberfläche wird zum Hörorgan
    "Wenn der Patient zum Ende hin sehr zerbrechlich ist, dann wird die gesamte Hauptoberfläche zum Hörorgan: wie eine Erweiterung des Ohrs. Die Vibrationen der Harfe erfüllen den Raum - so, dass es fast wie eine körperliche Massage wirkt."
    Somit kann sie auch Patienten erreichen, die kaum noch hören können oder die das Bewusstsein verloren haben. Die Reaktionen des Patienten nimmt sich über die Atmung wahr - auch über die Hautfeuchtigkeit oder die Position der Augenbrauen. Ziel ist es, eine Verbindung herzustellen und dem Patienten das Gefühl der Isolation zu nehmen.
    "Am Lebensende fehlen einem oft die Worte. Was sollst Du noch sagen? Es bleibt einzig, anwesend zu sein. Bei Alzheimerpatienten scheint es fast unmöglich, einen Kontakt herzustellen."
    Über die Musik kann genau dieser Kontakt hergestellt werden, sagt Barbara und erinnert sich an einen Einsatz, der bereits Jahre zurück liegt, aber einen tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen hat. Damals saß sie am Bett einer sterbenden Alzheimerpatientin, die seit Monaten ihren Ehemann nicht mehr erkannt hatte.
    "Ich hab gespielt, und der Mann der Patientin saß auf der anderen Bettseite und hat bitterlich geweint. Auf einmal wendet sie sich ihm zu, sagt seinen Namen und dass er nicht traurig sein solle. Es war unbeschreiblich."
    Die Lady mit der Harfe
    Die Gedankenwelt eines Alzheimerpatienten ähnelt einer Schallplatte mit Sprung. Der Patient bleibt in dieser Endlosschleife stecken. In medizinischen Erklärungsansätzen wird vermutet, die Musik könne dabei helfen, aus dieser Schleife auszubrechen. Doch jeder Patient reagiert anders, sagt Barbara, die im Krankhaus besser als die "Lady mit der Harfe" bekannt ist. Immer wieder lernt sie hinzu, besonders dann, wenn ein Besuch nicht nach Plan verläuft. Eine Patientin, die nach einem Schlaganfall aufgehört hatte zu sprechen, erinnert sich Barbara, begann auf einmal mit so viel Elan zu erzählen, dass auch ihr Herzmonitor wild zu piepen begann.
    "Sie hat geredet und geredet. 'Ich sehe junge Menschen am Strand. Das ist so romantisch.' Ihre Tochter konnte es fassen, ihre Mutter war wie wachgeküsst und hat sich an alles Mögliche erinnert. Ihr Herz hat immer schneller geschlagen. Das war einerseits wunderschön mit anzusehen, aber gleichzeitig auch ein bisschen beängstigend."
    Musikthanatologie ist keine neue Erfindung. Schon im 11. Jahrhundert praktizierten Mönche im französischen Cluny sakrale Begleitgesänge, ohne medizinisch erklären zu können, warum sie den Sterbenden Erleichterung verschafften. Heute ist Musik-Thanatologie eine Ausbildung, die Bereiche der Anatomie und Physiologie ebenso umfasst wie Musikunterricht und die Wissenschaft vom Sterben, die Thanatologie. In der Regel spielt und singt Barbara Jean O'Brien gut eine Stunde lang für ihre Patienten, oft über den Lärm der piependen medizinischen Geräte hinweg. Dafür verlangt sie zwischen umgerechnet 55 und 80 Euro. Leben kann sie davon nicht, denn anders als an Amerikas Westküste, wo Musikthanatologen festangestellt in Krankenhäusern und Hospizen arbeiten, ist diese Art von Palliativpflege an der Ostküste nicht Teil des Gesundheitsbudgets.
    Manchmal ist sie aber auch dankbar, keine Vollzeit-Musik-Thanatologin sein zu müssen.
    "Bislang hab ich noch nie für Kinder spielen müssen, aber ich weiß, dass der Tag kommen wird. Für diesen Beruf muss man mit beiden Beinen auf dem Boden stehen. Aber damit ich mich voll auf meinen Patienten konzentrieren kann, muss ich mit mir selbst im Reinen sein."