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Ein neues Selbst

Der englische Titel Inventing Elliot", also "Elliot erfinden", sagt präzise, worum es in Graham Gardners Debütroman geht: sich selbst neu zu erfinden. Genau dafür entscheidet sich der fünfzehnjährige Elliot Sutton, als er knapp eine Woche vor Schulbeginn (es ist – symbolträchtig - am Neujahrstag) die staubigen Umzugskisten und Plastiktüten in seinem Zimmer anstarrt. Er will die Erinnerungen an seine Vergangenheit nicht auspacken, nicht das Fotoalbum aus der Zeit als seine Eltern und er noch eine glückliche Familie waren, und erst recht nicht den Rest, der ihn mit den qualvollen letzten drei Jahren verbindet. Was er da durchlitten hat, ist aus der Eingangsszene des Romans ersichtlich: Im Umkleideraum hinter der Schule wird er von drei Mitschülern brutal zusammengeschlagen. Die Intensität, mit der Gardner diese Gewaltsituation vergegenwärtigt, hat nichts mit gängigen Schulhofprügeleien zu tun, und sie reicht weit hinaus über den papierenen Typus eines Lehrstücks zur Psychologie von Opfer und Täter. Kalter Schweiß und Blut kennzeichnen bis zum Schluss die beklemmende Atmosphäre, in der sich die Geschichte abspielt.

Von Martina Wehlte | 26.06.2004
    Mit Bedacht hat der Autor die Episode zu Beginn des Romans als "Prolog" bezeichnet und so als Vorgeschichte zu einer dramatisch sich zuspitzenden Handlung hervorgehoben, in der Gegenwart und Vergangenheit des Protagonisten durch Rückblenden miteinander verzahnt sind. Wie ein schwerer Monolith aus Angst, verzweifelter Wut und stumpfem Erdulden von Demütigung und Schmerz lässt sich das Ereignis nicht aus dem Gedächtnis schieben, weder vom Leser noch von der Hauptfigur Elliot, der am Ende dieses Prologs stirbt. Dass es sich hier um einen Albtraum handelt, in den die Erinnerung eingeschmolzen ist, bestätigt sich im letzten Drittel des Buches, wo jene Eingangspassage wörtlich wiederholt wird; allerdings mit der entscheidenden Fortführung, dass Elliot in seinem Traum aus einer Ohnmacht erwacht – und: überlebt! Das ist die Schlüsselstelle des Romans und der entscheidende Wendepunkt in Elliots Leben, - der zweite Wendepunkt; denn der erste war ja sein Entschluss nach dem Umzug in eine andere Stadt aus dem Verlierer Elliot, dem drangsalierten "underdog", einen coolen Typ aufzubauen. Äußerlich durch eine gute Schuluniform, neue Sporttasche, eine schicke Frisur, alles finanziert mit seinem Lohn fürs Zeitungen austragen. Innerlich durch das Verdecken seiner existenziellen Erschütterung, die das Schicksal des Vaters hervorgerufen hat.

    Der erfolgreiche Kleinunternehmer war brutal überfallen worden, sein Geschäft ging pleite, und der soziale Abstieg war unaufhaltsam, bis die Suttons dank staatlicher Opferentschädigung in einer anderen Stadt noch einmal neu anfangen können. Elliot, der seinen vormals tatkräftigen Vater täglich als apathischen Pflegefall vor Augen hat, sucht auch bei der überforderten Mutter keinen Rückhalt mehr. Statt als der verunsicherte Außenseiter, der er an seiner alten Schule war, über kurz oder lang zum Opfer perfider Schikanen zu werden, entscheidet er sich beim Eintritt ins Holminster Gymnasium zunächst für eine Strategie der Anpassung. Ein Gesicht in der Menge will er sein, wachsam, unauffällig. Und es klappt. Doch auch Holminster hat seine Hackordnung, seine bulligen Schläger und die schmächtigen, ungeschickten Jungs, deren Status als Versager im wörtlichen Sinne festgeklopft wird. Hinter diesem Extrem-Mobbing steckt ein subtiles "System" aus Spitzeln und unsichtbaren Tätern, den drei sogenannten "Wächtern". Sie sind die Auftraggeber, die sich wichtigtuerischer Handlanger bedienen, um eine Auswahl zu treffen, die Bestrafung zu veranlassen und so eine allgegenwärtige Kontrolle zu dokumentieren. "Hochgestochene Bezeichnungen für vertraute, hässliche Dinge", wie Elliot findet, als er in diese Geheimnisse eingeweiht wird. Er ist den Wächtern – drei smarten Vorzeigesportlern aus der elften Klasse –recht bald in der richtigen Weise aufgefallen, durch sein souveränes Auftreten und durch ein taktisch kluges Verhalten, das sich als systemkonform bewährt. Richard, der Wortführer des Triumvirats, will in Elliot daher seinen Nachfolger heranziehen und hämmert ihm aus George Orwells "1984" gerade die Maximen ein, die es auf ein Lehrbuch des Totalitarismus reduzieren. "Der Zweck der Kontrolle ist die Kontrolle. Der Zweck der Macht ist die Macht. Der Zweck der Folter ist die Folter. So einfach ist das."

    Etwas Manisches, Irrwitziges hat dieser Richard, wenn er sein Gegenüber mit glühenden Augen wie ein Raubtier packt oder sein Blick visionär in die Ferne schweift. Wohldosiert hat Gardner hier den Habitus eines Führers ironisiert, belässt die Figur aber im Unberechenbaren. In einer idealen Verbindung aus psychologischer Analyse und Einfühlung ist dem Autor die Zeichnung Elliots gelungen, dessen Selbstüberwindung und virtuoses Rollenspiel ihn zu einer multiplen Person werden lassen. Das wird besonders deutlich an seinem Verhältnis zu Ben, einer Spiegelung des unsicheren "alten" Elliot. Gardner erweist sich als ein Meister der Figurenkonstellation, die er vollständig der Charakterisierung seines Protagonisten andient. Dessen Reflexionen, Erinnerungen und stumme Ermahnungen verdichten sich zu einer zwanghaften Selbstkontrolle, die schließlich zum Verlust des eigenen Ich führt. Elliots Unangreifbarkeit, der "kalte Stahl in ihm" hat ihn erst eigentlich zum Opfer gemacht, ihn um sein Leben gebracht. Diese Erkenntnis lässt ihn endlich zu sich selbst finden, zu einem neuen alten Elliot. Auch das vermag der Roman glaubwürdig zu erzählen.

    Graham Gardner
    Im Schatten der Wächter
    Verlag Freies Geistesleben, 199 S., EUR 14,50