Agrar-Genossenschaften in Mecklenburg

Erfolgreich jenseits der Bauernhofidylle

14:27 Minuten
Landwirt Michael Brink sortiert einen großen, etwa zwölf Kilogramm schweren Halloween-Kürbis in der Lagerhalle des Agrarhofs Steinhausen in Neuburg bei Wismar, Mecklenburg-Vorpommern.
Michael Brink hat sich auf Bio-Kürbisse spezialisiert und baut diese auf einer Fläche von über 12 Hektar an. © dpa-Zentralbild
Von Thilo Schmidt · 30.10.2019
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Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPGs) sicherten in der DDR die Lebensmittelversorgung. Auch nach der Wende konnten die Agrarbetriebe dank ihrer Größe mithalten. Heute punkten sie mit Bio-Anbau und nachhaltiger Bewirtschaftung.
Michael Brink, groß, kahlköpfig, freundliches Gesicht, ist Geschäftsführer der Agrargenossenschaft Steinhausen, unweit von Wismar. Früher, in der DDR, war dieser Betrieb eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG). Dort ist Brink groß geworden, sein Vater war der Betriebsleiter.
Die LPG war das Zentrum des Dorfes – wie alle Betriebe in der DDR hatten auch die LPGs vielfältige gesellschaftliche Aufgaben, vom sozialen Leben über den Wohnungsbau bis hin zum "organisierten Ferienwesen" – auch die Planung der Urlaubsreisen für Familien lag in der DDR bei den Betrieben.
"Also vor 1990 war es tatsächlich so, dass 80 Prozent der Leute im Dorf auf der LPG gearbeitet haben. Heute ist es so, dass der Anteil der arbeitenden Bevölkerung im Dorf, die dann in unseren Betrieben arbeiten, bei, ich würde sagen, maximal ein bis zwei Prozent ist. Das heißt, wir müssen natürlich auch unsere Rolle und das, was wir machen, ständig neu erklären."
Brink studierte nach der Wende Landwirtschaft. Bevor er 1997 als Geschäftsführer zur Agrargenossenschaft Steinhausen zurückkehrte, hat er auf verschiedenen Höfen in Westdeutschland gearbeitet.
"Also ich weiß auch, wie dort 1990 gewirtschaftet wurde auf kleineren Höfen mit 20 bis 30 Kühen, wo der Bauer 365 Tage im Jahr, zwei Mal am Tag seine Kühe gemolken hat und im Grunde keinen Tag Urlaub hatte. Das gab es in Ostdeutschland nicht."

Vorteil der ehemaligen LPGs: die großen Flächen

3800 LPGs gab es 1990, jede bewirtschaftete im Schnitt über 1000 Hektar. Die meisten wandelten sich nach der Wende in Agrargenossenschaften um und mussten ihre Rolle im gesellschaftlichen Gefüge völlig neu definieren. Till Backhaus, der Landwirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpommern, war bis 1990 selbst in der Landwirtschaft tätig, zuletzt als Abteilungsleiter in der LPG Lübtheen im Westen Mecklenburgs.
"Wir haben sicherlich auch sehr gut ausgebildete Landwirte in den Betrieben gehabt. Und das waren die Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleiter, aber auch die Vorsitzenden der Genossenschaften, auch die Brigadiere, die letzten Endes ihre Brigaden geführt haben, waren in der Regel mit einem Fachschulstudium ausgebildet, die Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleiter mit einem Hochschulstudium, viele promovierte Landwirte, die diese Betriebe geführt haben – und sie waren im Übrigen ja auch das soziale Rückgrat in den Dörfern."
Ein Foto von 1978, auf dem zwei Mähdrescher vom Typ E 512 einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft zu sehen sind, vor denen vier Männer im Getreide stehen.
Der "modernste Mähdrescher der Welt" © picture-alliance / akg-images
Der Vorteil der Betriebe ist: Sie mussten sich nicht völlig neu erfinden. Allein durch ihre Größe konnten sie mit den westdeutschen Landwirtschaftsbetrieben konkurrieren. Nicht ohne Stolz blickt Till Backhaus zurück in die achtziger Jahre.
"Wir haben den modernsten Mähdrescher der Welt mal präsentiert, den E 512, mit dem ich selber noch gefahren bin. Oder: Wir haben schon mit zehn Meter Arbeitsbreite zu DDR-Zeiten gearbeitet, um Getreide auszusähen. Der sogenannte Kopplungswagen, der mit dem ZT 303, also mit 100 PS, eine zehn Meter breite Drillmaschine gezogen hat …"

Bessere Ergebnisse als in alten Bundesländern

Das alles, sagt der Soziologe Bernd Martens, der sich schon lange mit der Landwirtschaft im Osten beschäftigt, hat dazu geführt, dass die Landwirtschaft die einzige Branche in den neuen Ländern ist, in der mit besseren Ergebnissen gewirtschaftet wird als in den alten Bundesländern.
"Es gibt einen Größeneffekt in dieser Form der Landwirtschaft. Und größere Betriebe, die möglicherweise dann auch spezialisiert sind, haben bessere Chancen. Schon in der DDR gab es ja diese Riesenfelder, die dann eben mit großen Maschinen bearbeitet werden konnten. Und diese Größeneffekte konnten dann nach der Wende sozusagen ausgespielt werden."
Vielleicht war es ein großes Glück für die Landwirtschaft, dass die meisten Äcker und Felder kein Volkseigentum waren, so entgingen sie später der Treuhand. Die Flächen gehörten seit der Bodenreform 1945 Neubauern, in der Regel Landarbeiter und Flüchtlinge.
Das Land stammt von Großbauern, die die Sowjets nach dem Krieg enteignet hatten: "Junkerland in Bauernhand" war die Parole. Die Neubauern wiederum wurden in den Anfangsjahren der DDR gezwungen, ihr Land in die LPGs einzubringen – blieben jedoch Eigentümer.
"… bis es dann Ende der 1950er-Jahre keine freien Bauern mehr gab. Und sie ist aber nach der Wende durch freiwillige Entscheidung derjenigen, die dann eben in den LPGs beschäftigt waren, aufrechterhalten worden. Die ursprüngliche Planung war, dass diese Agrarstrukturen im Osten den Agrarstrukturen im Westen angeglichen werden sollen. Die große Ironie besteht darin, dass auf der einen Seite das, was gegen große Widerstände umgesetzt wurde, als freie Entscheidung weitergeführt worden ist."

"Der späte Erfolg der DDR"

Nach der Wende hätten die Landbesitzer ihr Land zurückerhalten und wieder als eigenständige Bauern anfangen können. Doch die wenigsten entschieden sich für eine sogenannte "Ausgründung" und verpachteten ihr Land nun den neugegründeten Gesellschaften – die alten Strukturen bestanden fort, und zwar erfolgreich: "Der späte Erfolg der DDR", so nennt es Soziologe Martens.
"Das kann man auch an offiziellen Zahlen sehen, dass die Wertschöpfung in der ehemaligen DDR-Landwirtschaft höher ist als im Westen, die Produktivität ist höher ..."
Doch es musste massiv investiert werden in neue Landtechnik, Traktoren oder Melkmaschinen. Ställe und Gebäude waren zum Teil stark sanierungsbedürftig. Und was vielleicht am schmerzlichsten war: Es wurden massiv Stellen abgebaut. Von 1989 bis 1993 gingen vier von fünf Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft verloren.
Auch der Steinhausener Agrarbetrieb beschäftigt heute nur noch 20 Mitarbeiter, einst waren es knapp hundert.
"Wir haben uns neue Bereiche erschlossen, wir haben in den Bereich Milchproduktion weiter investiert. Das sind so eigentlich die Prozesse, die ständig, täglich ablaufen, dass wir nicht nur danach gucken, wie können wir Arbeitskräfte reduzieren, sondern wir gucken schon danach: Wie können wir unsere Arbeitskräfte so einsetzen, dass wir damit ein Maximum an Produktion erzeugen und natürlich soziale Standards wie Urlaub, frei, steigende Löhne gewährleisten – das sind natürlich auch alles Dinge, die uns antreiben."

Spezialisiert auf Bio-Kürbis

1800 Hektar Land bewirtschaftet die Agrargenossenschaft heute. Wichtig, um mithalten zu können, sind für Brink zwei Dinge. Einerseits Rationalisierung: Jede der 600 Steinhausener Kühe gibt heute drei Mal so viel Milch wie früher. Andererseits: Spezialisierung: Auf über zwölf Hektar baut die Agrargenossenschaft Bio-Kürbis an. Und ist damit der größte Kürbisproduzent in Mecklenburg-Vorpommern. Außerdem ist Geschäftsführer Brink um eine wichtige Erfahrung reicher.
"Das ist ja das Interessante gerade im Biobereich: Dass man dort sorgsamer miteinander umgeht, dass die Zahlungsmoral deutlich besser ist als im konventionellen Bereich. Und dass dort auch nicht auf den letzten Cent bis aufs Blut gefeilscht wird, sondern es wird auch versucht, von der aufnehmenden Hand darauf zu schauen, dass die Bauern, die das Gemüse produzieren, auch auskömmliche Preise haben."

Den großen Discounter- und Supermarktketten bietet Brink seinen Kürbis schon gar nicht mehr an.
"Das ist ganz schwierig, mit diesen Leuten zu verhandeln. Da kommt man eigentlich nur über den Preis rein. Qualität ist eher ein zweitrangiges Argument. Das heißt, wir haben auch schon direkt Geschäfte mit solchen Ketten gemacht. Das haben wir einmal gemacht, ich glaub in unserem dritten Jahr, und wir haben dann beschlossen, dass wir mit diesen Leuten keinen Handel mehr treiben. Dann können wir lieber die Kürbisproduktion einstellen, weil dann nichts mehr für uns übrig bleibt und ich meine Leute am Ende des Tages auch nicht bezahlen kann von dem, was diese Ketten dann für uns übriglassen."

Landwirt Michael Brink steht vor seinem Kürbisfeld der Agrargenossenschaft Steinhausen in Mecklenburg-Vorpommern.
Um den Kürbis im Herbst zu ernten, engagiert die Agrargenossenschaft Schulklassen und versucht damit auch manchen Schüler für die Landwirtschaft zu begeistern.© Thilo Schmidt
Um den Kürbis im Herbst zu ernten, engagiert die Agrargenossenschaft Schulklassen. Sie übernimmt den Transport der Schüler zum Feld, versorgt sie mit Kuchen und Getränken und füllt die Klassenkasse auf, so kommt der Kürbis schnell vom Feld. Und das alles hat einen weiteren Effekt: Manch ein Schüler lässt sich für die Landwirtschaft begeistern. Denn der Branche fehlen mittlerweile Arbeitskräfte.

Alles auf Bio: zu riskant

Den kompletten Hof, also vor allem auch die Milchproduktion auf Bio umzustellen, ist für Michael Brink – noch – illusorisch.
"Sicherlich gibt es Überlegungen. Ich kann auch nicht für alle Zeiten ausschließen, dass wir das nicht in Zukunft irgendwann als Geschäftsmodell für uns entdecken, aber das wird die Zeit bringen. Wir denken schon in Phasen immer mal wieder über solche Dinge nach. Aber auch immer getrieben von der Notwendigkeit, Geld zu verdienen. Wir müssen hier auf diesen Betrieben Geld verdienen, damit wir unsere Mitarbeiter bezahlen können, damit wir die Pachten bezahlen können, damit wir all das, was mit unserem Betrieb zusammenhängt, am Laufen halten können."
Das Problem ist der dreijährige Umstellungszeitraum, in dem die Erträge sinken, die Produkte aber noch nicht als Bioware verkauft werden dürfen. Unter den derzeitigen Förderbedingungen ist für die Agrargenossenschaft Steinhausen ein Umstieg viel zu riskant, sagt Michael Brink.

Discounter steigen in Biomarkt ein

Ohnedies liegt der Anteil der ökologisch bewirtschafteten Fläche in Mecklenburg-Vorpommern bei über zwölf Prozent. Das ist ein Spitzenwert in Deutschland. Ohne die ostdeutsche Landwirtschaft, sagt der Soziologe Bernd Martens, hätte es den Bio-Boom der letzten zwanzig Jahre gar nicht gegeben.
"Die Biobetriebe im Westen wären gar nicht in der Lage gewesen, diese Mengen anzubieten, oder aber hätten das auch gar nicht gewollt. Weil sie eben sagen: Ich produziere jetzt für diesen regionalen Markt – und ich versuche auch, die Wertschöpfung selber zu realisieren, indem ich jetzt direkt vermarkte. Ich brauche gar nicht diese Lieferketten. Weil ich einmal die Menge nicht habe, ich möchte das aus grundsätzlichen Erwägungen gar nicht. Ich möchte auch den Kontakt zu den Kunden haben.
Und das war im Osten meines Erachtens von vorne herein anders, weil eben die Betriebe im Durchschnitt sehr viel größer waren."
"Wir haben tatsächlich die Situation gehabt, dass wir durch die Umstellung zahlreicher Betriebe auf ökologischen Landbau im Osten natürlich deutlich mehr Ware hatten als vorher im Markt …", sagt auch Alexander Gerber vom "Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft" (BÖLW), dem Spitzenverband der Bio-Branche.
"… und dass das tatsächlich einherging, zeitgleich, mit dem Einstieg von Discountern und konventionellen Supermärkten in den Biomarkt und dadurch tatsächlich die Ware, die benötigt wurde, auch im größeren Maßstab da war."
Die trockenen Böden in weiten Teilen Ostdeutschlands leiden unter der Klimakrise besonders stark. Die Bewirtschaftung dieser Böden müsse sich also dringend ändern.
"Dafür ist eine ganz wichtige Voraussetzung, dass der Humusgehalt im Boden steigt, dass der Boden mehr Wasserhaltekapazität hat, dass die Fruchtfolgen diverser werden, dass man auch mit Mischkulturen anfängt, um das Risiko zu streuen. Und dass man beispielsweise auch Baumhecken oder Baumreihen zwischen die Felder pflanzt, um einfach ein Mikroklima zu schaffen, dass die Hitzeperioden abpuffert. Da werden Herausforderungen auf die Landwirtschaft zukommen."

Regionalität ist das neue Bio

Und dabei sei es unerheblich, wie groß die Betriebe sind, stellt man sich doch unter Biohöfen oft kleine, bäuerliche Landidyllen vor. Mecklenburg-Vorpommerns Landwirtschaftsminister Till Backhaus:
"Der Durchschnittsbetrieb im Haupt- und Nebenerwerb in Mecklenburg-Vorpommern sind 280 Hektar! Im Vergleich zum Landwirtschaftsbetrieb in der Bundesrepublik Deutschland sind wir bei 60 Hektar. Also das ist schon ein struktureller Vorteil. Zum zweiten: Ich glaube, dass regionale Produkte und Bio in Zukunft einen deutlich höheren Stellenwert bekommen werden. Auch da haben wir riesige Vorteile, wir liegen an der Spitze der Bewegung – Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg – ausdrücklich im Biolandbau. Allein in Mecklenburg-Vorpommern sind von den 5000 Betrieben 1000 Betriebe heute auf Bio umgestellt.
10.06.2018, Mecklenburg-Vorpommern, Holthusen: Till Backhaus (SPD), Minister für Landwirtschaft, Umwelt und Verbraucherschutz Mecklenburg-Vorpommern, steht auf dem Hof der Agrargemeinschaft Holthusen. Beim Tag des offenen Hofes präsentieren sich landwirtschaftliche Betriebe in Mecklenburg-Vorpommern.
Landwirtschaftsminister Till Backhaus (SPD) auf dem Tag des offenen Hofes in der Agrargemeinschaft Holthusen.© Frank Hormann/Nordlicht/dpa-Zentralbild/ZB
Backhaus, seit 1998 im Amt, ist Deutschlands dienstältester Minister. In seiner Amtszeit hat sich der Anteil der ökologisch bewirtschafteten Fläche Mecklenburg-Vorpommerns mehr als verdoppelt. Allein im vergangenen Jahr haben 100 Betriebe auf ökologische Landwirtschaft umgestellt.
"Ich persönlich glaube, das zukünftige neue Bio ist Regionalität und nachhaltige Landwirtschaft. Eine möglichst CO2-neutral ausgerichtete Landbewirtschaftung mit der ganz klaren Maßgabe, in der Region verflochten zu sein. Ich spreche immer davon, wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag. Nämlich zwischen Stadt und Land. Die Landwirte sind bereit, die Städte zu versorgen, aber die Stadtbevölkerung muss auch bereit sein, für die Qualität, die wir in Deutschland produzieren, einen fairen Preis zu bezahlen. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt: Die Partnerschaft in der Region."
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