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Melinda Nadj Abonji: "Schildkrötensoldat"
Nachruf auf einen ungehorsamen Poeten

Ein Junge, ein Träumer, muss zum Militär und kommt um. In ihrem Roman "Schildkrötensoldat" erweckt Melinda Abonji ihn als Protagonisten zum Leben - und zwar in einer wunderbar fantasiereichen, poetischen, manchmal surrealen Sprache. Im Serbien der 1990er-Jahre macht sie aus ihm eine Figur des sanften Widerstands.

Von Melanie Weidemüller | 20.10.2017
    Die ungarisch-schweizerische Autorin Melinda Nadj Abonji; hier im März 2011 auf der Leipziger Buchmesse
    Die ungarisch-schweizerische Autorin Melinda Nadj Abonji; hier im März 2011 auf der Leipziger Buchmesse (picture alliance / ZB)
    Zoltán Kertesz, den seine Eltern kurz "Zoli" rufen, ist buchstäblich auf den Kopf gefallen – mit fünf Jahren bei voller Fahrt vom Motorrad seines Vaters. Vielleicht tickt er deswegenetwas anders: langsamer, unberechenbar.
    Blöd aber ist Zoli, der Held aus Melinda Abonjis Roman "Schildkrötensoldat" keinesfalls. Er liebt Kreuzworträtsel und seinen Hund Tango, pflegt den Garten, beobachtet die Tiere und genießt vor der kleinen Scheune sitzend die Mischung aus Rosen- und Lavendelduft.
    Anders gesagt: Zoltán würde freiwillig keiner Fliege etwas antun. Und hätte dieser sanftmütige Mensch in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort gelebt, wären das eigentlich ideale Voraussetzungen für eine glückliche Existenz. Nicht aber im zerfallenden Jugoslawien der 90er Jahre. Nicht so in diesem Roman, der vom Leben und Sterben in Zeiten des Krieges erzählt und von der ersten Zeile an eine eigentümlich fremde Sprachmagie entfaltet:
    "Er stand da, beim Hühnergatter, hatte vielleicht gerade ein Ei getrunken oder irgendwas, das gar nichts mit Eiern oder Wasser oder Milch zu tun hat. Den wolkenlosen Himmel musste Zoltán getrunken haben, mit seinem endlosen Blau. Seine Augen waren aufmerksam, weit offen in seinem breiten, blassen Gesicht. Der Rotz klebte an seiner Nase – er unternahm nichts, um ihn abzuwischen. Mit Hühnern konnte er umgehen, mit Katzen, Schweinen. Hunde hat er gemieden, außer einen, der Tango hieß. Jeden Morgen ein Ei für seinen Tango. Zoltán stand da, beim Hühnergatter, das huhnwarme Ei in der Hand. Ich habe ein warmes, frisches Ei für dich. Ich habe etwas Traumschönes für dich, Tango!
    Zoli, wisch dir den Rotz ab! Hör auf, mit dem Hund zu reden!, ruft seine Mutter vom Garten herüber."
    Mit dieser Szene eröffnet Melinda Nadj Abonji ihren neuen Roman "Schildkrötensoldat". Die Schweizer Autorin, Musikerin und Performerin mit jugoslawisch-ungarischen Wurzeln machte 2010 auf sich aufmerksam, als sie mit ihrem zweiten Roman "Tauben fliegen auf" gleich beide, sowohl den Schweizer als auch und den Deutschen Buchpreis gewann.
    "Tauben fliegen auf" erzählte mit feinem Humor von der so vorbildlichen wie fallenreichen Integration einer serbischen Familie in die eidgenössische Pseudo-Idylle. Seitdem wartete man gespannt auf einen neuen Roman von Abonji.
    Weder zum sinnlosen Gehorsam noch zum Töten gemacht
    "Schildkrötensoldat" führt wieder nach Serbien, in die Vielvölker-Provinz Vojvodina, wo die 1968 geborene Autorin selbst ihre ersten Lebensjahre verbrachte. Der blauäugige Zoli ist der Sohn eines Halbzigeuners und einer Tagelöhnerin, die Verhältnisse sind ärmlich; Krieg, Perspektivlosigkeit, Alkohol. Verständnis für einen Träumer wie Zoli hat allein seine Cousine Hanna, für die anderen ist er einfach der Idiot, ein Weichei. Die Eltern, hilflos überfordert, treffen schließlich eine Entscheidung: Ausgerechnet in der Armee soll doch noch ein ganzer Kerl aus Zoli werden. Das muss scheitern, denn weder zum sinnlosen Gehorsam noch zum Töten ist dieser Junge gemacht:
    "Im Militär hätte was aus mir werden können, ein Mann oder ein Held oder beides, ich bin weder das eine noch das andere geworden, sondern ein Stumpfer, ein Gehorcher, ein Stiefelidiot ist aus mir geworden,
    ein -L-U-M-P- ein -T-A-U-G-E-N-I-C-H-T-S ein -P-A-T-I-E-N-T."

    Am Ende der Erzählung ist Zoli tot, nicht als Held an der Front gestorben, sondern vermutlich in Folge von Misshandlungen, falscher ärztlicher Behandlung seiner Epilepsie oder eines gebrochenen Herzens, nachdem sein Freund Jenö bei einem Gewaltmarsch zu Tode geschleift wurde. Das mag nach der typischen Martyriums-Geschichte eines unschuldigen Opfers klingen; zudem sind Anti-Kriegsromane wahrlich kein vernachlässigtes Genre der Literatur und die Grausamkeit der Jugoslawienkriege bekannt. Darum allein geht es auch nicht. Melinda Nadj Abonjis Anliegen scheint ein viel grundsätzlicheres. Auf die Beschreibung von Kriegshandlung verzichtet die Autorin ganz, ihr geht es eher um die Ausleuchtung eines Zwangssystems, das das Individuum zurichtet, unterwirft und Abweichler ausgrenzt und zerstört. Zoli ist "das Andere", der sanfte Widerstand, nicht integrierbar.
    Dass die Autorin uns das nicht erklärt, sondern sinnlich vorführt, macht die Qualität ihres Romans aus. Denn die heimliche Hauptrolle im "Schildkrötensoldat" spielt die poetische, fantasiereiche Sprache.
    Direkt, mal ruppig, stockend ist dieser Erzählstrom, dann über viele Zeilen melodisch fortrauschend, als würde man gleich abheben wie Zolis Fantasien. Realistische Schilderungen verdichten sich in surrealen Bildern. Zugleich ist dieser Text dramaturgisch geschickt gebaut, denn Abonji erzählt zweistimmig: Als zweite Ich-Erzählerin fungiert Zolis Cousine Hanna, die nach Zolis Tod nach Serbien reist. Damit kommt eine reflektiertere Spiegelungs-Perspektive hinzu, die nach den Gründen für Zolis tragisches Ende forscht.

    "Ich weiß nicht, ob du mich hörst, aber ich spreche mit dir. Ich möchte wissen, wann dein Sterben begonnen hat, darum bin ich hier. Ich möchte nicht bemitleiden, sondern verstehen, und alle Vermutungen sollen sich aus dem Staub machen."
    Beharren auf dem poetischen Prinzip, auf dem Widerstandspotenzial des Erzählens
    Hanna wird nicht alles verstehen, aber vieles. "Die Wahrheit liegt nicht auf der Hand und schon gar nicht in den Wörtern", sagt sie gegen Ende des Romans, "man müsste so lange graben, bis das Ungesagte, Totgeschwiegene zum Vorschein kommt". Das verrät viel über das Schreibprogramm von Melinda Nadj Abonji. Ihr Schreiben ist Spracharbeit. Sie hinterfragt die Wörter nach ihrem Bedeutungsgrund und enttarnt, wo sie manipulativ und zum Lügen verwendet werden. Ihr Anti-Held Zoli glaubt noch an ein Refugium der Wörter, in dem er poetischen Unterschlupf findet. Sein Truppenkamerad Jenö widerspricht:
    "Zoli, Worte sind Fallen, merk dir das, vor allem hier, in der Armee, Krieg, wo ist da dein Unterschlupf?"
    Oberflächlich betrachtet mag der Tod des Protagonisten wie eine Desillusionierung wirken, man kann den Roman aber auch anders lesen. Nicht als Abgesang, sondern als Beharren auf dem poetischen Prinzip, auf dem Widerstandspotenzial des Erzählens. In Hannas Erinnerungen und liebevollen Zwiegesprächen wird Zoli lebendig. Oder genauer: Als literarische Erfindung der Autorin Melinda Nadj Abonji, die auf knapp 170 Seiten eine unvergessliche Romanfigur geschaffen hat. Das ist die helle Seite dieses Nachrufs auf einen ungehorsamen Poeten.
    Melinda Nadj Abonji: Schildkrötensoldat
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
    173 Seiten, 20 Euro