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Melodie der Macht

"Die Macht der Töne" – "die Töne der Macht". Wie klingt Macht, wie Ohnmacht? Geht von Tönen Macht aus? Gibt es linke oder rechte, konservative, liberale oder revolutionäre, autoritäre oder demokratische Musik? Kann Musik überhaupt politisch wirken? Oder können dies nur die Texte, in deren Dienst sie sich stellt?

Martina Groß | 24.03.2004
    Mit einem ganzen Fragenbündel leitet der Historiker Christian Jansen, einer der Mitherausgeber, - der "Macht der Töne – Musik als Mittel politischer Identitätsstiftung im 20. Jahrhundert" – den Band ein. Soziologen, Geschichts- und Musikwissenschaftler, Musiker und Komponisten begeben sich auf die Suche nach der Dimension des Politischen in der Musik: in Lied-Texten, Kompositionen, anhand von Musiker-Portraits, der Untersuchung offizieller staatlicher Musikpolitik und historischer Momente des letzten Jahrhunderts.

    Auf welche Weise fungierte Musik als politisch identitätsstiftend? Immer schon wußten Organisationen und Parteien Musik zu Festakten, Aufmärschen oder Parteitagen zu nutzen. Ereignisse, Entscheidungen und Prozesse wurden in ihren Aussagen und Wirkungen durch Musik verstärkt und überhöht. Zusätzlich gelang es im 20. Jahrhundert, durch neue technische Errungenschaften wie das Radio, Musik über weite Entfernungen zu übertragen. So konnte sie noch massenwirksamer eingesetzt und verstärkt für propagandistische Zwecke genutzt werden.

    Erinnert sei an die zunehmende Bedeutung politischer Hymnen für Organisationen und ganze Nationen sowie an musikalische Propaganda und Gegenpropaganda beispielsweise im Zweiten Weltkrieg. Auch hatten einschneidende politische Ereignisse stets ihre musikalischen Konsequenzen.

    Politische Ereignisse hatten aber nicht nur musikalische Folgen, wie beispielsweise nach der Öffnung der Mauer das spontane Singen der Nationalhymne, sondern auch umgekehrt: der Einsatz von Musik, das Singen von Liedern hatte Einfluß auf das politische Geschehen. Unter dem Titel "Öffentliches Singen als politisches Ereignis", geht Tillman Bendikowski in seinem grundlegendem Einführungstext zwei Fragen nach: welche Funktion hatten Lieder im öffentlichen Zusammenhang in der deutschen Nachkriegsgeschichte? Und:

    Wie klingt eigentlich Geschichte?

    Eine Frage, der die Geschichtswissenschaft bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Bendikowski interessiert der Umstand, daß Menschen abseits der Hochkultur spontan oder auch geplant miteinander gesungen haben. Wie können Historiker diese Tatsache für ihre Disziplin nutzen? Wie wurden Situationen durch Musik und Lieder umgestaltet und welche Träume, Wünsche und Utopien kommen in den politischen Liedern zum Ausdruck?

    Eines seiner anschaulichen Beispiele findet Bendikowski in der aufgeladenen Atmosphäre im Herbst 1956 in West-Berlin. Eine spontane Protestkundgebung gegen die Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes drohte damals zu eskalieren.

    Bürgermeister Otto Suhr, Franz Neumann und Willy Brandt ... sprachen zu der empörten Menge, konnten sie aber nicht beruhigen. Vielmehr setzte sich die Masse mit dem Ruf "Zum Brandenburger Tor" in Bewegung. Eine Konfrontation an der Sektorengrenze mußte aus Sicht der West-Berliner Regierung aber auf jeden Fall verhindert werden. Und so versuchte Willy Brandt, mit einem Auto an die Spitze des Demonstrationszuges zu gelangen und die Menschen mit guten Worten zur Umkehr zu bewegen.

    Vergeblich.

    Dies gelang ihm erst, als er mit seiner schnarrenden Stimme die Nationalhymne anstimmte. Mehr und mehr der Versammelten stimmten ein, bis die Menge zu einem großen Chor wurde.

    Erst das Singen der Nationalhymne löste die Situation auf und wurde in diesem konkreten Fall das entscheidende Mittel für Willy Brandt, um eine Konfrontation an der deutsch-deutschen Grenze zu verhindern.

    Die Autoren des Sammelbandes schlagen in chronologischer Reihenfolge einen weiten thematischen Bogen von den 30er Jahren in den USA bis zur aktuellen Bedeutung rechter Rockmusik im heutigen Deutschland.

    Die Bochumer Historikerin Sabine Gillmann richtet beispielsweise ihr Augenmerk auf die Texte der politischen Folk - und Union Songs der 30er und 40er Jahre in den USA. Durch sie sollten die Arbeiter dazu bewegt werden, sich in Gewerkschaften zu organisieren. Pete Seeger, Woodie Guthrie und andere nutzten Folksongs und bereits populäre Songs, - beispielsweise der Heilsarmee - und versahen sie mit neuen Texten. Sie parodierten die einstigen Inhalte und verkehrten die Aussagen in ihr Gegenteil. Wie Sabine Gillmann ausführt, macht gerade dies einer der Bedeutungen von Folksongs aus. Sie waren eben

    keine statisch, fertig komponierten Lieder, sondern in gewisser Weise "Gebrauchsgegenstand": Sie dienten der Darstellung der eigenen Lebenssituation, sie waren "Nachrichtenträger", Informationsmedium und Agitationsmittel zugleich, das CNN der lokalen Gemeinschaften.

    Gerade diese Lebendigkeit und ihre breite politische Wirkung interessierten die Komponisten radikaler, moderner Musik, so auch Ruth Crawford-Seeger. In einem Text, der sich ebenfalls mit der Zeitspanne des New Deal und der Wirtschaftskrise in den USA befaßt, skizziert die Komponistin Kirsten Reese das Leben von Crawford-Seeger zwischen Avantgarde, Agitation und folk-music.

    Crawford-Seeger schrieb einerseits moderne, dissonante Musik, andererseits beschäftigte sie sich mit der Erforschung und Erfassung amerikanischer folk-music. Sie war begeistert von deren Schönheit und Authentizität. Im Gegensatz zu den weit verbreiteten Folksongs blieb die avancierte Musik nur Wenigen zugänglich. Viele der Komponisten hatten das Gefühl, den Kontakt zur politischen Realität und zu den Menschen, für die sie eigentlich schrieben - der Arbeiterklasse - verloren zu haben. Im 1932 gegründeten "Composers Collective", deren Mitglied Crawford-Seeger war, stellte man sich deshalb die Frage: Wie sich politische Inhalte mit avancierter Musik verbinden ließen. Dennoch wurde die Kritik aus den Arbeiter-Organisationen lauter:

    War früher im "Daily Worker" gefordert worden, daß für wirklich revolutionäre Lieder die Musik ebenso radikal sein müsse wie die Texte, hieß es dort nun, die Stücke des "Collective" seien zerplitteretes, gequältes, von Zerebralisten erfundenes Zeug". Statt komponierten Arbeiterliedern trat folk music an die Stelle der Musik, mit der politische Inhalte transportiert werden sollten.

    Für Ruth Crawford Seeger hieß die Konsequenz aus der Kritik, sich ganz auf die Erforschung der Folk-music zu konzentrieren. Erst ein Jahrzehnt später, begann sie wieder selbst zu komponieren.


    Die weiteren Beiträge des Bandes behandeln die NS-Zeit, Emigration und Musik nach Auschwitz, sie widmen sich dem neuen sozialistischen Menschenbild und der Funktion, die der Musik in der DDR zugemessen wurde. Es wird Auskunft gegeben, über das politische Selbstverständnis und die Funktionen von Komponisten in verschiedenen politischen Systemen, über die Auseinandersetzung um die Neue Musik bis zum Einfluß rechts-radikaler Rockmusik.

    Gerade der breite interdisziplinäre Ansatz und der Perspektivenwechsel der einzelnen Beiträge macht die Qualität der Essay-Sammlung über die "Macht der Töne" aus. Viele der Beiträge verweisen zudem thematisch und zeitlich aufeinander. Der Leser bekommt so umfangreiche, miteinander vernetzte Informationen. Es entsteht ein Mosaik, das die Bedeutung von Musik für politische Identitäten in den unterschiedlichsten Epochen des 20. Jahrhunderts deutlich macht; sowohl für das Publikum, die Produzenten, aber auch für geschichtliche Ereignisse.
    Allerdings: Einige der Aufsätze sind schwer zugänglich, da sie sehr fach-spezifisch sind. Auch häufen sich Schreib- und Übersetzungsfehler. Nichts desto trotz ist der Band eine spannende Lektüre.

    Tillmann Bendikowski, Sabine Gillmann, Christian Jansen, Markus Leniger, Dirk Pöppmann (Hrsg.)

    Die Macht der Töne – Musik als Mittel politischer Identitätsstiftung im 20. Jahrhundert
    Westfälisches Dampfboot, 219 S., EUR 24,80