Dienstag, 19. März 2024

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Menschen mit Behinderung in Ausbildung
"Im Berufsbildungsbereich muss sich etwas ändern"

Menschen mit Handicap in Ausbildung haben derzeit keinen Anspruch auf Grundsicherung. Die Bundesgeschäftsführerin der Lebenshilfe, Jeanne Nicklas-Faust, vertritt die Ansicht, dass diese "fälschlich vorenthalten" wird. Sie glaube aber, dass es auf Seiten des Gesetzgebers zu einer "Klarstellung" kommen werde.

Jeanne Nicklas-Faust im Gespräch mit Sandra Pfister | 13.02.2018
    Mitarbeiter einer Behindertenwerkstatt der Diakonie Mitteldeutschland fertigen in Halle in Sachsen-Anhalt Aufsteller für Plakate.
    Mitarbeiter einer Behindertenwerkstatt der Diakonie Mitteldeutschland fertigen in Halle in Sachsen-Anhalt Aufsteller für Plakate. (picture alliance / dpa)
    Sandra Pfister: Es gibt keine Grundsicherung mehr für Behinderte, die so stark behindert sind, dass sie nur in Werkstätten, also in einer Schutzzone ihre Ausbildung machen können. Auch wenn sie nur 80 Euro Monat für ihre Ausbildung in einer Behindertenwerkstatt bekommen. Wir haben gehört, es könnte sein, dass sich mit der neuen Regierung etwas ändert. Darüber und über die Inklusion am Arbeitsplatz grundsätzlich wollen wir reden mit der Bundesgeschäftsführerin der Lebenshilfe, mit Jeanne Nicklas-Faust. Guten Tag!
    Jeanne Nicklas-Faust: Guten Tag!
    Pfister: Frau Nicklas-Faust, es ist gerade schon angeklungen, die Sozialminister der Länder wollen was ändern, und mit der neuen Regierung könnte das dann vielleicht auch so kommen. Wird es, glauben Sie, eine Grundsicherung für Behinderte in Ausbildung geben?
    "Auffassung, dass im Berufsbildungsbereich Grundsicherung zu zahlen wäre"
    Nicklas-Faust: Das ist insofern eine schwierige Frage, als wir sowieso der Auffassung sind, dass die gesetzliche Regelung jetzt vorsieht, wie auch vor der Gesetzesänderung, dass im Berufsbildungsbereich üblicherweise Grundsicherung zu zahlen wäre und dass sie fälschlich vorenthalten wird. Jedenfalls ist das Thema aber in der Politik angekommen und findet sich auch im Koalitionsvertrag wieder. Insofern glaube ich, dass wir tatsächlich an dieser Stelle zu einer Klarstellung kommen. Menschen mit Behinderung, die im Berufsbildungsbereich einer Werkstatt sind, haben genauso Anspruch auf Grundsicherung, wie wenn sie dann später in der Werkstatt sind.
    Pfister: Weiten wir mal den Blick. In dem Fall geht es ja um Menschen, die eine starke Behinderung haben, sodass sie eben in dieser Werkstätte unterkommen. Von denen, wir haben es im Beitrag gerade gehört, schaffen es nur ein Prozent in einen regulären Job. Das klingt nach einer ziemlich bitteren Bilanz. Wie bewerten Sie das?
    Nicklas-Faust: Na klar, das ist tatsächlich nicht das, was sich der Gesetzgeber mal überlegt hat, als er Werkstätten mit diesem Auftrag versehen hat, als Rehabilitationseinrichtungen Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Da gibt es jetzt eine neue bundeseinheitliche Regelung seit dem 1. Januar, das heißt Budget für Arbeit und stellt eben sicher, dass der Mensch mit Behinderung einerseits eine Unterstützung bekommt und der Arbeitgeber andererseits etwas als Minderleistungsausgleich. Damit, hoffen wir, wird es öfter gelingen, dass Menschen, die sonst in einer Werkstatt arbeiten würden, ganz normal beim Bäcker um die Ecke oder in einem Handwerksbetrieb arbeiten können.
    Pfister: Das heißt, Unternehmer, die solche Leute einstellen, die werden subventioniert?
    Nicklas-Faust: Genau. Wenn man sagt, die Arbeitsleistung des Menschen ist 400 Euro wert, er müsste aber mit Mindestlohn 1300 bekommen, dann wäre es möglich, die 900 Euro als Differenz zu bekommen. Und zusätzlich gibt es eine Person, die denjenigen unterstützt. Nehmen wir mal die junge Frau, die in der Bäckerei arbeitet und ihr zeigt, dass es gut funktioniert, und diese Beispiele kennen wir ja.
    Pfister: Nun sagen Sie, das gilt erst seit dem 1. Januar so, das heißt, wir können noch keine Erfahrungswerte da irgendwie in Anschlag bringen. Wenn Sie in andere Ländern gucken, erwarten Sie sich, dass das einen großen Aufbruch gibt?
    "In der beruflichen Bildung von Menschen mit Behinderung muss sich etwas ändern"
    Nicklas-Faust: Wir haben diese Regelung schon in einzelnen Bundesländern, sehr unterschiedlich. Neu ist, dass sie jetzt im ganzen Bundesgebiet gilt. Wir haben es in den Ländern, die es schon eingeführt haben, wie zum Beispiel Hamburg, durchaus erlebt, dass es dadurch mehr Arbeitsplätze gibt. Aber wir glauben nicht, dass das genügt. Wir glauben, es muss sich auch im Berufsbildungsbereich etwas ändern in der beruflichen Bildung von Menschen mit Behinderung überhaupt, damit sie eben auch Qualifikationen erwerben können, die sie dann auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt brauchen können.
    Pfister: Was würden Sie denn machen im Berufsbildungsbereich, welche Hebel würden Sie ansetzen?
    Nicklas-Faust: Im Moment ist es so, dass der Berufsbildungsbereich nur zwei Jahre lang ist, während eine übliche duale Ausbildung drei Jahre lang ist. Da kann man sich leicht vorstellen, dass für Menschen, die ohnehin eine Beeinträchtigung beim Lernen haben, dass das nicht reicht. Die zweite Voraussetzung wäre, dass es möglich wäre, im Berufsbildungsbereich bestimmte Module, bestimmte Teile einer Ausbildung so zu erwerben, dass sie allgemein anerkannt werden.
    Pfister: Damit das nicht ein zweiter, minderwertiger Ausbildungsbereich unter dem eigentlichen Ausbildungsbereich ist.
    Nicklas-Faust: Genau.
    Pfister: Nun ist ja die Inklusion in Schulen gerade ohnehin schon schwer in der Kritik. Herr Meidinger vom Deutschen Lehrerverband würde sie am liebsten stoppen. Er will nicht, dass noch mehr Behinderte in Regelschulen unterrichtet werden. Einige Bundesländer stimmen ihm zu und sagen, das ist für Lehrer eine Zumutung. Ist die Inklusion in der Ausbildung, die ja erst ein ganz zartes Pflänzchen ist, also dass Behinderte mehr reguläre Ausbildungen machen, könnte das ein ähnlich heißes Eisen werden?
    Nicklas-Faust: Ich glaube, da gibt es eben tatsächlich die zwei Anteile. Wenn Sie über Schule nachdenken, denken Sie ja über eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen nach, die gemeinsam etwas lernen sollen, wenn auch möglicherweise mit unterschiedlicher Zielsetzung. Das ist im Moment flächendeckend in Deutschland tatsächlich nicht vorhanden, und das gibt große Probleme.
    "Schwieriger ist es häufig mit der theoretischen Ausbildung"
    In der dualen Ausbildung haben wir die beiden Anteile, den betrieblichen Anteil und den schulischen Anteil. Der betriebliche Anteil gelingt häufig sehr gut. Die Anleitung von Menschen mit einer geistigen Behinderung ist häufig nicht besonders schwierig. Es gibt manchmal Hürden, die kann man aber mit erfahrenen Menschen, die wissen, wie kann man Arbeitsschritte so zerteilen, dass sie jemand versteht, der auch nicht ganz so schnell denken kann, der nicht ganz so schnell Dinge auffassen kann wie andere. Schwieriger ist es häufig mit der theoretischen Ausbildung. Genau wie für die Schule gilt auch hier, ohne gelingende Rahmenbedingungen wird es auch dort scheitern und schwierig werden, dass es gelingt, gemeinsames Lernen zu ermöglichen.
    Pfister: Unterm Strich, wie viele Menschen mit Handicap sind im Moment in einer regulären Ausbildung?
    Nicklas-Faust: Das muss man sich etwas genauer angucken. Bei Menschen mit Lernbehinderungen, da gibt es gar nicht so wenige, gerade in solchen übergangsfördernden Programmen, wie wir sie jetzt in Baden-Württemberg hatten, gelingt es relativ häufig, Menschen mit einer Lernbehinderung, also einer geringen kognitiven Beeinträchtigung, in normale Ausbildungen aufzunehmen. Bei den Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung sieht es allerdings anders aus. Da sind es bisher Einzelfälle, da müssen wir mehr Erfahrungen sammeln und dann in größerer Zahl umsetzen.
    Pfister: Die Bundesgeschäftsführerin der Lebenshilfe, Jeanne Nicklas-Faust, zur Inklusion in Ausbildung und im Beruf. Danke Ihnen ganz herzlich!
    Nicklas-Faust: Danke Ihnen für das Gespräch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.