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Menschen statt Pappkameraden

Dirk Brauns berichtete viele Jahre als Auslandskorrespondent für verschiedene Zeitungen, unter anderem aus Peking und Warschau, wo er gegenwärtig auch lebt. "Im Inneren des Landes" ist sein erster Roman und schildert die finale Auseinandersetzung eines NVA-Rekruten mit seinem einstigen Kompaniechef.

Von Martin Lüdke | 16.11.2012
    Am 3. Juni 1957, zwei Jahre nach Gründung der Bundeswehr, sind fünfzehn von vierundzwanzig Grundwehrdienstleistenden des Luftjägerbataillons 19 in der Iller ertrunken. Ein Ausbilder hatte ihnen befohlen, den acht Grad kalten, an dieser Stelle zwar nur 1,30 m tiefen, aber reißenden Fluss mit voller Ausrüstung zu durchqueren. Diese Tragödie hatte Konsequenzen. Die bundesdeutsche Öffentlichkeit war alarmiert. Die Bundeswehr reagierte: Innere Führung, Wehrbeauftragter etc. Die Soldaten waren bald nicht mehr völlig schutzlos der Willkür und den Schikanen ihrer Vorgesetzten ausgesetzt.

    Anders in der DDR. Die Nationale Volksarmee, NVA, passte sich gut in die totalitären Strukturen des Regimes ein und hielt auch in dieser Hinsicht treu an den Traditionen der deutschen Wehrmacht fest. Jürgen Fuchs, Jens Sparschuh und Uwe Tellkamp, zum Beispiel, haben davon erzählt. Der erste (mir bekannte) Roman, der sich ausführlich mit dieser Problematik befasst, wurde in diesem Herbst von dem 1968 in Ost-Berlin geborenen Journalisten Dirk Brauns vorgelegt. Brauns berichtete viele Jahre als Auslandskorrespondent für verschiedene Zeitungen, unter anderem aus Peking und Warschau, wo er gegenwärtig auch lebt. "Im Inneren des Landes" ist sein erster Roman.

    Am Ende kommt es, keineswegs unerwartet, zu dem Showdown, wie wir ihn aus dem Western kennen. Gary Cooper, als Marshal Will Kane, geht auf der Main Street von Hadleyville Schritt für Schritt seinem Todfeind Frank Miller entgegen. Gleichmäßig, ohne jedes Zögern, bewegen sich die beiden, der Marshall und sein, gerade aus dem Gefängnis entlassener Gegner, aufeinander zu. Beide ihre Hand am Colt. Klack, klack, klack. Ihre Stiefel hacken die staubige Straße auf. Schnitt, Gegenschnitt, Totale. Mit jedem Wechsel der Perspektive steigt die Spannung. Was im Film funktioniert, könnte auch in der Literatur funktionieren, scheint sich Dirk Brauns gedacht zu haben. Nicht 24 Schritte, sondern 24 Stunden sind hier, in seinem Roman, die Kontrahenten voneinander entfernt. Dann noch 22, 13 Stunden, und so weiter, schließlich noch eine Stunde. Immer näher rücken sie einander, mit ihrer Geschichte, mit ihren Geschichten, bis sie sich endlich im Flur des Hauses von Ingo Kern gegenüberstehen. Beide erzählen in Ich-Form aus jeweils ihrer Perspektive teils dieselben Ereignisse. Wir erfahren, wie sie, der einstige Rekrut und sein damaliger Kompaniechef, nach der Wende zurechtgekommen sind und, unterschiedlich, Karriere gemacht haben.

    Kern, zu einem Personalchef bei der Deutschen Bahn avanciert und gerade im Begriff, sich von seiner Familie zu trennen, ist nur noch einmal in das Haus zurückgekehrt, um seine Sachen abzuholen. Bremer, der in ganz Deutschland Autohäuser prüft, ist, eher gezwungenermaßen an den Ort des Geschehens, nach Eggesin, zurückgekehrt. Kern, zu DDR-Zeiten Offizier in diesem mecklenburgischen Militärstandort, ist dort geblieben.

    Jetzt stehen sich beide im Haus von Kern gegenüber. Der einstige Kompaniechef möchte seinen ehemaligen Rekruten Stefan Brenner aus der Tür drängen. Es kommt zu einem Gerangel. Auf der Ablage unter dem Spiegel liegt, was sicher etwas merkwürdig scheint, aber durchaus erklärlich ist, eine Pistole.

    "'Kern schreit: Finger weg, die ist geladen!' Umso besser!'" – denkt Bremer. "Ich kann ihm den Ellbogen ins Gesicht stoßen, was mir Vorsprung verschafft, und bekomme den Griff zu fassen. Aber er bringt mich zu Fall".

    Der Kampf wird heftiger. Dann passiert, was kommen muss. Doch weit weniger überraschend als der Schuss, der sich irgendwann löst, scheint mir der Knalleffekt, der nicht einmal eine ganze Seite vorher gezündet wird, dem biblischen Motto folgend: Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.
    Im Zentrum dieses Romans steht der Selbstmord eines 18-jährigen Rekruten der Nationalen Volksarmee, Viktor Melander. Er war der engste Freund von Stefan Brenner. Kompaniechef Kern, davon ist Brenner überzeugt, hat ihn in den Tod getrieben, ihn schikaniert, wo immer es ging, Urlaub und Ausgang gestrichen, in den Bau gesteckt. Und zwar nicht, wie er ihm jetzt sagt, "aus Überzeugung".

    "Wenn Sie so ein sozialistischer Blödmann gewesen wären. Aber Typen wie Sie behalten stets die Karriere im Blick. Mit Viktor wollten Sie eine Bedrohung loswerden". Er, Viktor, hatte nämlich herausgefunden, dass Kern, um den Titel "Beste Einheit' nicht zu gefährden, Schießergebnisse fälschen" ließ. Kern erinnert sich auch die vielen Jahre später noch immer "genau" daran. Die Szene hatte sich ihm, verständlicherweise, "eingebrannt".

    "Melander kniete vornübergebeugt mit dem Rücken zur Heizung. Er hatte sich eine nasse, mit einem Heizungsrohr verbundene Trainingshose um den Hals gewunden und sich offenbar mit aller Kraft dagegengestemmt. Hier war kein Todeswunsch am Werk gewesen, sondern Todeswille. Mir war klar, dass dieser Akt gegen mich gerichtet war. Der Kerl wollte es mir heimzahlen, Rache nehmen für Monate des Kampfes und am Ende, seinem Ende, den Sieg einstreichen."
    Die Mechanik des Showdowns funktioniert nicht, ohne zu klappern. Der stete Wechsel der Perspektive steigert nicht etwa die Spannung, er ermüdet eher. Dennoch versteht Brauns, seine Leser bei der Stange zu halten. Denn er präsentiert keine Pappkameraden, er lässt Menschen agieren. Kern bleibt zwar der Karrierist, wie er sich in jedem System durchzusetzen versteht, aber wird er, privat wie bei seiner Arbeit, genau gezeichnet. Bremer, scheinbar die Inkarnation des Guten, gerät am Ende ebenfalls ins Zwielicht.

    "Wissen Sie, was mir bei Ihnen auffällt?" "Was?" "Wie sehr Sie das alles mitnimmt. ( ... )" "Er war mein Freund." "Aber wenn mich nicht alles täuscht, arbeitet in Ihnen vor allem das schlechte Gewissen." "Was" "War es nicht so, dass damals ein Funktionär auftauchte und seine Hand über einen Rekruten hielt und über den anderen nicht?" "Worauf wollen Sie hinaus?" "Ich möchte andeuten, dass mir Ihr Problem nicht ganz fremd ist."

    Bremer war offenbar, wie man da sagte, der Sohn eines Bonzen. Zudem hat er sich unmittelbar nach dem Selbstmord an die Freundin seines Kameraden herangemacht, sie dann auch geheiratet. In dieser Hinsicht bleibt also einiges offen. Klar wird jedoch, unter welchen Bedingungen die Soldaten in der Nationalen Volksarmee der DDR für ihre Aufgabe, den real existierenden Sozialismus und seine Grenzen zu verteidigen, zugerichtet worden sind. Es war kein Zuckerschlecken. In seiner Danksagung berichtet Brauns von einer Diskussion über diesen Stoff. Ein Unternehmer verwarf das Projekt als "nicht zeitgemäß". Seine Frau konterte: "Und warum weigerst du dich, seit dreißig Jahren dort Urlaub zu machen? ( ... ) Weil du dort bei der Armee warst, mein Lieber, und diesen Ort nie wiedersehen willst."
    Vielleicht hat uns, im Westen, die Tragödie von Illertissen vor solchen traumatischen Erfahrungen bewahrt.

    Dirk Brauns: "Im Inneren des Landes". Galliani Verlag, Berlin 2012, 224 Seiten