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Türkei
Die verschwundenen Kinder von Istanbul und Ankara

Pädophile, Drogenhändler, Organmafia: In der Türkei warnt ein Verein Kinder vor den Gefahren, mit Fremden zu gehen. Jedes Jahr verschwinden in dem Land rund 1.000 Kinder, die meisten in Millionenstädten. Gerade ärmeren Familien gelingt es kaum, eine Betreuung zu organisieren.

Von Gunnar Köhne | 21.10.2014
    Die Silhouetten von Figuren auf einer Hand.
    Menschenhandel ist weltweit ein lukratives Geschäft. (dpa / Jan-Philipp Strobel)
    Fröhliche Kinderstimmen von der Straße schrecken Cevher Küpsi immer noch auf. Dabei wäre sein Sohn Bayram heute ein Teenager. Sieben Jahre ist es her, dass der Erstklässler beim Spielen vor dem Haus der Familie Küpsi in einem Istanbuler Armenvorort verschwand. Spurlos.
    "Eigentlich wollten wir längst von hier fortziehen. Aber was wäre, wenn unser Junge eines Tages zurückkommt und dann niemanden von uns vorfindet?"
    Zeugen wollen ein verdächtiges Auto gesehen haben. Der Spur wurde nie ernsthaft nachgegangen, beklagen die verzweifelten Eltern. Kinder prominenter Eltern würden mit Helikoptern gesucht, in ihrem Fall seien nicht einmal Spürhunde eingesetzt worden, beklagen Cevher Küpsi und seine Frau Hüsnah:
    "Wir haben zu spüren gekriegt, dass wir arm sind. Es wird ein Unterschied gemacht. Dabei ist ein Kind doch ein Kind!"
    "Wir wollen unser Kind zurück. Und wenn es nur die sterblichen Überreste sind. Die kann man wenigstens beerdigen und das Grab auf dem Friedhof besuchen."
    Auch Zafer Özbilicis älterer geistig behinderter Bruder war vor 21 Jahren von einem Tag auf den anderen verschwunden, Zeugen sahen, wie er in ein Taxi gezerrt worden war. Kurz darauf gründete Özbilici mit anderen Betroffenen den Verein der Angehörigen Verschwundener. Seit 20 Jahren fährt er mit einem Kleinbus durch's Land auf der Suche nach den rund 1.000 Kindern, die jährlich in der Türkei verschwinden. Bei etlichen Fällen konnten sie zur Aufklärung beitragen. Etwa, wenn es sich bei den Verschwundenen bloss um Ausreisser handelte.
    "Zu Beginn waren wir nur unterwegs, um unsere eigenen Angehörigen zu finden. Heute geht es uns vor allem um Aufklärung. Wir müssen die Eltern vor den Gefahren warnen."
    Auch Organhandel wird vermutet
    An diesem Vormittag ist der Bus der Verschwundenen am Goldenen Horn, einer Bucht in Istanbul unterwegs. Am Ufer entdecken die Mitarbeiter eine unbeaufsichtigte Gruppe von Kindern beim Baden. Als Özbilici und seine Kollegen sie vor den Gefahren warnen wollen, werden die Kinder misstrauisch und laufen fort. Eigentlich die richtige Reaktion, sagt Özbilici. Viele verschwundene Kinder könnten entführt und einem furchtbaren Verbrechen zum Opfer gefallen sein.
    "Es gibt illegale Organtransplantationen in der Türkei und offenbar auch eine Mafia, die mit den Organen Entführter Handel treibt. Aber klare Beweise konnte unsere Polizei und Justiz dafür bis heute nicht erbringen."
    Nächster Halt des Verschwundenen-Busses: Ein Stadtteilspielplatz. Die meisten Kinder verschwinden in den Millionenstädten des Landes, vor allem in Istanbul und Ankara. Auf diesem Spielplatz scheinen die meisten Kinder ohne ihre Eltern gekommen zu sein, manche nicht älter als drei oder vier Jahre alt. Eine der Mütter wundert das nicht:
    "Manche lassen ihre Kinder bis Mitternacht hier alleine spielen. Ihre Eltern sehe ich hier nur selten. Hauptsache die Kinder sind aus dem Haus."
    Zafer Özbilici spricht gerade Zugezogene aus Anatolien immer wieder an und warnt sie davor zu meinen, es sei hier so sicher wie in ihrem Dorf:
    "Gerade die Armen wissen nicht wohin mit ihren Kindern, wenn sie tagsüber arbeiten müssen. Einen Kindergarten können sie sich nicht leisten. Dann sind die Kinder stundenlang allein auf der Straße und werden somit leicht ein Opfer von Entführungen. Wir hören jeden Tag, dass Kinder von Fremden angesprochen werden."
    Pädophile, Drogenhändler, Organmafia: Die Warnungen des Verschwundenen-Vereins kommen inzwischen auch bei den Kindern an. Mich wollte mal ein Mann mit Geld fortlocken, erzählt ein Schulmädchen. Aber ich bin schnell fortgelaufen. Bravo, weiter so, sagt der Aktivist, passt gut gegenseitig auf euch auf.
    Dann geht es weiter zum nächsten Stadtteil. Die Porträts der Verschwundenen sollen demnächst nicht mehr nur auf dem Bus zu sehen sein. Eine Werbefirma will sie auf Plakatwände im ganzen Land kleben lassen.