Donnerstag, 28. März 2024

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Menschenrechtler in Türkei inhaftiert
"Erdogan agiert unverhohlen als Geiselnehmer"

Die Linken-Politikerin Sevim Dagdelen hat die Bundesregierung dazu aufgefordert, schärfer gegen die Inhaftierung Deutscher in der Türkei zu protestieren. Die deutsche Beschwichtigungspolitik gegenüber dem "Diktator" Erdogan sei nachweislich gescheitert, sagte sie im Dlf.

Sevim Dagdelen im Gespräch mit Martin Zagatta | 18.07.2017
    Sevim Dagdelen (Linke) spricht am 03.06.2016 im Deutschen Bundestag in Berlin.
    Die Abgeordnete Sevim Dagdelen am 3.06.2016 im Bundestag (dpa/Michael Kappeler)
    Die Bundesregierung habe in unverantwortlicher Weise ihre eigenen Staatsbürger in Gefahr gebracht. Nötig sei jetzt, die EU-Beitrittsverhandlungen und die damit verbundenen Zahlungen zu stoppen, keine Waffen mehr an die Türkei zu liefern sowie das Netzwerk Erdogans in Deutschland zu zerschlagen. Ein Gericht in Istanbul hatte heute früh Untersuchungshaft gegen sechs Menschenrechtler angeordnet, die Anfang Juli festgenommen worden waren. Unter ihnen sind ein Deutscher, ein Schwede und die türkische Direktorin von Amnesty International.
    Im Fall des seit Ende Februar inhaftierten deutsch-türkischen Journalisten Yücel kündigte das Bundesjustizministerium eine deutliche Stellungnahme an. Diese werde im Rahmen einer Klage Yücels dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zugeleitet.

    Das Interview in voller Länge:
    Martin Zagatta: Am Telefon ist jetzt die Linken-Politikerin Sevim Dagdelen, die auch dem Auswärtigen Ausschuss im Bundestag angehört. Guten Tag, Frau Dagdelen!
    Sevim Dagdelen: Guten Tag, Herr Zagatta.
    Zagatta: Frau Dagdelen, inzwischen hat auch die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung die Festnahme des deutschen Menschenrechtlers scharf verurteilt. Jetzt ganz realistisch gesehen: Kann man denn aus Berliner Sicht sehr viel machen, als zu protestieren, womöglich scharf zu protestieren?
    "Yücel, Steudtner und andere sind Opfer der deutschen Beschwichtigungspolitik"
    Dagdelen: Zunächst einmal muss man klar festhalten: Der türkische Staatspräsident Erdogan agiert hier ganz unverhohlen als Geiselnehmer, und ich finde die Reaktion der Bundesregierung auf diese Politik des türkischen Staatspräsidenten bisher als völlig unangemessen, weil während Erdogan immer wieder deutsche Staatsbürger in Haft nehmen lässt, und das nur wegen den Vorwürfen, oder deutsche Staatsbürger an der Einreise behindert - es wurden bisher hunderte deutsche Staatsbürger an der Einreise in die Türkei behindert, verhindert, die wurden festgenommen, Polizeigewahrsam und dann wieder abgeschoben und man weiß nicht aus welchem Grund -, und während all das passiert, setzen Merkel und Gabriel ihre Unterstützung für Erdogan fort. Insofern sind Deniz Yücel, Peter Steudtner oder auch viele andere deutsche Staatsbürger Opfer der deutschen Beschwichtigungspolitik in Sachen Türkei.
    Zagatta: Würde denn ein härterer Kurs das Ganze nicht noch verschärfen? Die Gefahr besteht ja, die sehen viele Experten.
    "Die deutsche Außenpolitik hat die eigenen Staatsbürger gefährdet"
    Dagdelen: Nein, ganz im Gegenteil. Erst mal muss man festhalten, dass diese Beschwichtigungspolitik der letzten Jahre des Hoffens, des Bittens, des Zögerns, des Dialogs und der Zugeständnisse, die ist ja nachweislich gescheitert. Erdogan versteht nur eine Sprache und das ist auch das Resümee seit einem Jahr, seit dem lange vorbereiteten Staatsstreich von oben vor einem Jahr, es ist die Sprache der Härte und auch der konsequenten Reaktion auf derlei Tabubrüche. Im Gegensatz beispielsweise zur russischen Außenpolitik, die als Reaktion auf den Abschuss eines russischen Militärjets durch die Türkei konsequent reagiert hat und ganz klare Kante zeigte gegenüber Ankara und daraufhin der türkische Staatspräsident Erdogan sich selbst entschuldigt hat bei den Russen und in Moskau ja zu Kreuze gekrochen ist, hat die deutsche Außenpolitik total versagt mit ihrer Beschwichtigung und hat damit natürlich auch – und das muss man jetzt sehen, das ist eine neue Qualität – die eigenen deutschen Staatsbürger gefährdet. Da kann man wirklich nur noch den Kopf schütteln, weil die Bundesregierung noch nicht einmal bereit ist, die demokratische Souveränität zu verteidigen, und dazu gehört auch die Verpflichtung aus dem Grundgesetz, sich für die eigenen Staatsbürger einzusetzen. Insofern war es natürlich ein weiteres Zeichen an Erdogan, dass man ihm hier beim G20-Gipfel in Hamburg noch mal den roten Teppich ausgerollt hat, während er unsere Bürger dort in der Türkei einkerkern lässt und sie gleichzeitig als Geiseln nimmt, damit er ein Faustpfand hat auf dem diplomatischen Parkett. Ich finde das wirklich unverantwortlich – unverantwortlich!
    Zagatta: Ganz so war es ja nicht. Man hat Erdogan zumindest untersagt, hier in Deutschland, was er ja wollte beim G20-Gipfel, am Rande des G20-Gipfels zu seinen Landsleuten zu sprechen. - Ist denn die Politik mit der Türkei nicht auch in einigen Punkten zumindest erfolgreich? Das Flüchtlingsabkommen gilt als erfolgreich. Und muss man nicht anerkennen, trotz all dem, was Erdogan im Moment veranstaltet, dass die Türkei ja immerhin drei Millionen Syrer aufgenommen hat?
    "Ich finde es keinen großen Erfolg, sich erpressbar zu machen von einem Diktator"
    Dagdelen: Zunächst einmal muss man sagen, das Flüchtlingsabkommen hat die Bundesregierung erpressbar gemacht. Ich finde es keinen großen Erfolg der deutschen Außenpolitik, sich erpressbar zu machen von einem Diktator. Das Zweite ist, dass dieser Diktator nachweislich, nachweislich Waffen weitergibt an Dschihadisten, an syrische terroristische islamistische Mörderbanden, die dort natürlich die Menschen in die Flucht treiben mit ihrem Kopf abschneiden und so weiter. Insofern hat man hier den Bock zum Gärtner gemacht, mit einer personifizierten Fluchtursache sozusagen Flüchtlinge zu bekämpfen. Es ist auch meiner Meinung nach ein Zeichen der Hilflosigkeit der Europäischen Union gewesen, aufgrund des Alleingangs von Merkel dann letztendlich auf dieses Flüchtlingsabkommen zu setzen als eine Hilfe. Es ist eigentlich eine Schande.
    Mit Erdogan selbst hat man ja, während er die Diktatur dort vorantreibt, weitere Unterstützungsleistungen gemacht. Ich meine, die Bundesregierung reagiert ja gar nicht auf die Vorkommnisse in der Türkei. Die Waffen werden weiter geliefert. Ganze Panzerfabriken! Beispielsweise mit der Düsseldorfer Rüstungsschmiede Rheinmetall wird jetzt auch noch eine Panzerfabrik in die Türkei geliefert. Die EU-Beitrittsgespräche werden fortgesetzt, obwohl Erdogan jetzt auch noch anlässlich des einjährigen vermeintlichen Putschversuchs von vor einem Jahr jetzt auch noch den IS-Kalifen gemimt hat und von Kopf ab reißen die Rede war in seiner Ansprache.
    Zagatta: Wären Sie da für einen sofortigen Abbruch? Und das verbunden auch gleich mit der Frage: Würde man dann damit die Bevölkerung in der Türkei in Mithaftung ziehen? Machen Sie nicht diesen Unterschied zwischen der Bevölkerung und Erdogan, den man ja vielleicht irgendwann wieder los wird?
    "Die Türkei wird geführt von einem Diktator"
    Dagdelen: Ja, aber Sie müssen doch Politik machen nicht als was wäre wenn, sondern, was ist, und wir müssen doch Realpolitik machen. Die Türkei wird geführt von einem Diktator. Die Türkei hat mehrheitlich einem Referendum zugestimmt, egal jetzt wie unter Betrug das zustande gekommen ist, aber das ist ja Fakt jetzt, dass es offiziell zu einer Diktatur übergegangen ist. Und ich finde, wir brauchen ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Diese Geldzahlungen müssen eingestellt werden. Ich finde das unverfroren, dass Merkel die Geldzahlungen nicht stoppen lässt. Jedes Jahr werden 630 Millionen Euro EU-Vorbeitrittshilfen an Erdogan bezahlt, weil die EU-Beitrittsverhandlungen weitergehen. Und ich finde es unvereinbar mit der europäischen Idee, mit einer Diktatur Beitrittsverhandlungen zu führen. Diese Beitrittsverhandlungen müssen jetzt endlich gestoppt werden, auch damit diese 630 Millionen Euro mindestens jedes Jahr gestoppt werden. Waffen oder gar diese ganzen Panzerfabriken zu liefern, finde ich ein Verbrechen. Und dann gibt es ja auch noch eine Forderung von Erdogan, die jetzt von Frau Merkel und ganz besonders von der FDP vorangetrieben wird umzusetzen, nämlich die Ausweitung der Zollunion. Ich finde das völlig verantwortungslos, weil das treibt ja die ganze bisherige Beschwichtigungspolitik noch auf die Spitze. Es stabilisiert Erdogan, es wird ihn unterstützen und das Regime, und ich finde - beispielsweise mache ich da tatsächlich einen Unterschied -, ich bin gegen Boykottmaßnahmen. Ich bin gegen Wirtschaftssanktionen, weil das tatsächlich die Bevölkerung trifft. Aber alle Unterstützungsleistungen für das Regime Erdogan, sie müssen eingestellt werden, weil er dadurch unterstützt wird, und das sind wir auch den deutschen Staatsbürgern, die in den türkischen Gefängnissen, in Foltergefängnissen eingekerkert werden, das sind wir ihnen auch schuldig, weil sie sind letztendlich auch Opfer dieser deutschen Beschwichtigungspolitik.
    Zagatta: Aber das würde ja dann auch die Bevölkerung wahrscheinlich treffen, wenn diese Geldüberweisungen gestoppt werden in dieser Millionenhöhe auch über die EU. – Frau Dagdelen, wenn Sie für das alles sind, was Sie jetzt gefordert haben, dass man die Zusammenarbeit mit der Türkei, die Hilfe für die Türkei schnellstens beenden müsste, heißt das auch, Visafreiheit für die türkischen Staatsbürger auf keinen Fall zu erlauben? Auf der anderen Seite könnte das ja gerade helfen, dass dort ein bisschen Druck aus dem Kessel genommen wird, dass auch viele Türken mal die Möglichkeiten hätten auszureisen. Das würde ja den Menschen helfen.
    "Wir halten die Visabefreiung eigentlich nicht für verantwortbar"
    Dagdelen: Zumindest einmal muss man hier mal versuchen, all diejenigen, die ins Exil gehen wollen und fliehen wollen, die werden ja daran gehindert. Ich kriege ja ständig Berichte von Menschen, die einen Antrag stellen beispielsweise in den deutschen Behörden dort und dort erst nach einem Jahr oder sonst was einen Termin bekommen. Oder beispielsweise beantragen sie hier Asyl aus nachweislich politischer Verfolgung, und das wird ihnen abgelehnt. Die Menschen melden sich bei mir und sagen, das ist der sichere Tod, wenn wir zurückgeschickt werden - vor allen Dingen mehrheitlich Kurden. Insofern finde ich schon, dass man da auch helfen kann und helfen sollte. Bei der Visafreiheit: Die Linke ist immer für eine Visafreiheit gewesen, auch gegenüber anderen Staaten wie beispielsweise die Russische Föderation, weil wir finden, das ist gut für den Austausch der Kulturen und der Menschen untereinander. Aber ich muss sagen, das war ja ein Bestandteil dieses schändlichen Flüchtlingsabkommens, dem Merkel-Erdogan-Pakt, und Erdogan will das vor allen Dingen, um sein System zu stabilisieren. Er will das sozusagen benutzen für sich instrumentell, und aus diesen innenpolitischen Gründen heraus, unter diesen Bedingungen halten wir als Linke diese Freiheit, die Visabefreiung eigentlich nicht für verantwortbar und deshalb lehnen wir das ab.
    "Das Netzwerk von Erdogan in Deutschland muss zerschlagen werden"
    Wir finden beispielsweise, dass diese Beitrittsgespräche mit Ankara gestoppt werden sollen, die jährlichen Hilfsgelder gestoppt werden sollen, die Waffen-, die Rüstungsexporte gestoppt werden sollen, die Zollunion nicht erweitert werden soll, und damit würden wir Erdogan und diesem Regime der islamistischen AKP schaden. Und wir fordern natürlich noch eine andere Sache, die ja hier überhaupt nicht so sehr bemerkt wird, nämlich, dass man auch das Netzwerk von Erdogan in Deutschland, in Europa mehr ins Visier nimmt und diese Netzwerke hier zerschlagen werden, weil die Gewaltpolitik, die Erdogan und seine islamistische AKP in der Türkei umsetzen, diese Gewaltpolitik wird von Spionen, von Agenten, von rockerähnlichen gewaltbereiten Gruppierungen wie der Osmanen Germania, die wird ja hier in Deutschland auch umgesetzt gegenüber Andersdenken. Sie werden verfolgt, denunziert, eingeschüchtert, bedroht, und ich finde, da muss man auch versuchen, die demokratische Souveränität im eigenen Land umzusetzen und dieses Netzwerk zerschlagen.
    Zagatta: Frau Dagdelen, viele Forderungen, wenn Sie aus dem Urlaub zurückkehren. Viele Forderungen, aber eine eindeutige Position – die Linken-Politikerin Sevim Dagdelen war das heute Mittag im Deutschlandfunk. Ich bedanke mich für das Gespräch.
    Dagdelen: Ich danke auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.