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Menschliche Zellkultur schlägt Tierversuch

Thalidomid, der Wirkstoff des Medikaments Contergan, führt bei unterschiedlichen Versuchstieren zu unterschiedlichen Reaktionen. Verlässliche Aussagen über dessen Wirkung werden somit erschwert. Kölner Forscher testen Thalidomid und andere Stoffe deshalb an menschlichen embryonalen Stammzellen.

Von Marieke Degen | 14.01.2013
    Als das Schlafmittel Contergan vom Markt genommen wurde, waren bereits tausende Kinder mit schwersten Behinderungen auf die Welt gekommen, mit zu kurzen Armen oder Beinen, mit Organschäden, taub oder blind. Etliche Föten sind bereits im Mutterleib gestorben. Es war eine bittere Bilanz, die ein Pathologe Ende der 60er in seinem Gerichtsgutachten gezogen hat:

    "Im Falle von Thalidomid gingen die Versuche am Menschen der Erforschung im Tierversuch voraus"

    Erst nach der Marktrücknahme hat die Herstellerfirma Grünenthal den Wirkstoff von Contergan – Thalidomid - an trächtigen Tieren getestet, an Ratten. Die Weibchen haben zwar weniger Junge auf die Welt gebracht – der Nachwuchs sah aber ganz normal aus. Ein paar Monate später haben dann britische Wissenschaftler gezeigt, dass Thalidomid tatsächlich die typischen Conterganschäden hervorruft – und zwar bei einer bestimmten Kaninchenart, dem weißen Neuseeländer. Danach sind Arzneimittelgesetze auf der ganzen Welt verschärft worden.

    "Bevor ein Medikament auf den Markt kommt, muss es an trächtigen Tieren getestet werden – und zwar an mindestens zwei verschiedenen Arten."

    Kesavan Meganathan forscht an der Uni Köln.

    Jedes Jahr werden Millionen trächtige Tiere für Medikamententests genutzt – weltweit.

    Das Grundproblem bleibt: Jede Tierart kann ganz unterschiedlich auf einen Wirkstoff reagieren. Und: Ratten, Mäuse und Kaninchen sind nun mal keine Menschen.

    "Wir können Wirkstoffe aber nicht direkt am Menschen testen. Wir müssen also ein Testverfahren entwickeln, das dem Menschen so nah wie möglich kommt."

    Die Kölner Forscher arbeiten an einem Test, der auf menschlichen embryonalen Stammzellen basiert. Diese Zellen sind wahre Verwandlungskünstler – sie entwickeln sich zu allen möglichen Zelltypen, zu Nervenzellen, Herzmuskelzellen und etlichen mehr. Kesavan Meganathan hat die Stammzellen in der Petrischale mit Thalidomid behandelt und untersucht, was sich auf genetischer Ebene abgespielt hat.

    "Fast 1000 Gene, die während der Entwicklung aktiv sind, waren durch Thalidomid beeinträchtigt. Darunter etliche Gene, die die Entwicklung von Gliedmaßen steuern – und Gene, die entscheidend für die Entwicklung des Herzens sind."

    Damit haben die Biologen gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Erstens: Sie haben ein bisschen mehr Licht in den Wirkmechanismus von Thalidomid gebracht. Was genau Thalidomid im Körper eines menschlichen Embryos anrichtet, ist nämlich bis heute nicht vollständig geklärt. Zweitens haben die Forscher gezeigt, dass ihr Test grundsätzlich funktioniert.

    "Wir können Tierversuche nicht vollständig ersetzen. Aber wir können die Zahl der Versuchstiere verringern. Bevor Firmen ihre neuen Wirkstoffe im Tierversuch testen, sollten sie sie an solchen Zellkulturen ausprobieren. Wenn dieser Test negativ ausfällt, dann kann man sich die Tierversuche gleich sparen."

    Aber sind Versuche mit Embryonalen Stammzellen aus ethischer Sicht überhaupt vertretbar? Um die Zellen zu gewinnen, müssen menschliche Embryos zerstört werden. In Deutschland ist das verboten, deshalb arbeiten die Kölner mit embryonalen Stammzellen aus dem Ausland.

    "Es wird ja nicht jedes Mal ein Embryo zerstört! Wenn man die Zellen einmal gewonnen hat, kann man sie immer wieder vermehren. Sie lagern in flüssigem Stickstoff, und wenn wir welche brauchen, entnehmen wir sie, vermehren sie und arbeiten mit ihnen. Da wird nicht jedes Mal ein Embryo zerstört."

    Im Moment testen die Forscher noch andere Substanzen an den embryonalen Stammzellen. Substanzen, von denen sie genau wissen, dass sie den Embryo schädigen, und Substanzen, die völlig harmlos sind. Nur so können sie herausfinden, ob sie wirklich alle gefährlichen Stoffe zuverlässig aufspüren.