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Merkel-Biografin: Keine neue Enthüllungen über die DDR-Vergangenheit

In einer neuen Biografie wird Angela Merkel Systemnähe zur DDR unterstellt. "Sie war ganz klar nicht oppositionell wie beispielsweise ihr Bruder", sagt Jacqueline Boysen, Verfasserin einer früheren Biografie. "Sie jonglierte, sie balancierte gewissermaßen", aber Nähe zum System könne ihr nicht vorgeworfen werden.

Jacqueline Boysen im Gespräch mit Dirk Müller | 14.05.2013
    Dirk Müller: Die Regierungschefin und die Vergangenheit – in unserem Berliner Studio begrüße ich nun die Merkel-Biografin und frühere Deutschlandfunk-Korrespondentin Jacqueline Boysen. Guten Morgen!

    Jacqueline Boysen: Ja, guten Morgen!

    Müller: Frau Boysen, hat die Kanzlerin kein gutes Gedächtnis?

    Boysen: Nein, so würde ich das nicht sehen und ich sehe ehrlich gesagt auch keinen Grund für das, was jetzt als Enthüllung verkauft wird. Dieses Wort scheint mir reißerisch und übertrieben für das, was bisher jedenfalls auf dem Markt ist. Und ich finde es auch einigermaßen merkwürdig, dass man die Tochter für die zweifellos sozialismusfreundliche Position ihres Vaters, der wirklich eine rot schillernde Figur in der Evangelischen Kirche der DDR war, verantwortlich macht.

    Müller: Was haben Sie denn über die Rolle von Angela Merkel bei der FDJ herausfinden können?

    Boysen: Ich habe vor 14 Jahren recherchiert. Da stand Angela Merkel natürlich noch im Schatten von Helmut Kohl, die Welt war eine andere, Bonn war Hauptstadt und niemand ahnte, dass sie eines Tages Parteivorsitzende der CDU oder Kanzlerin werden würde. Und die Zeitzeugen, die ich damals befragen konnte, die waren keinesfalls verbohrte Nostalgiker oder gewendete Altkader oder so. Und die berichteten mir zum Beispiel von den Debatten, die von Leuten aus dem Umfeld von Angela Merkel geführt wurden zu DDR-Zeiten. Und natürlich ging es da darum, bessere Verhältnisse in der DDR zu erlangen, um die Hoffnung, die Gorbatschow geweckt hatte, auch natürlich um die Träume von einer Verjüngung der vergreisten DDR-Kader. Und alles andere wäre für Mitarbeiter eines staatlichen wissenschaftlichen Instituts der DDR damals natürlich irgendwie auch verwunderlich gewesen. Und dass man ihr, Angela Merkel, das heute als Festhalten wollen am Sozialismus oder gar der Diktatur unterstellt und vorhält, das halte ich doch für merkwürdig. Und seien wir ehrlich: An das Ende der DDR hat damals ohnehin kaum jemand geglaubt, weder im Westen, noch im Osten.

    Müller: Jetzt sind, Jacqueline Boysen, viele von uns davon ausgegangen, die sich ein bisschen mit Angela Merkel beschäftigt haben, die immer wieder auch mal etwas gelesen haben über die Vergangenheit, über die vermeintliche Vergangenheit der jetzigen Kanzlerin in der DDR: Da wurde häufig ja auch über diese FDJ-Rolle gesprochen. Jetzt hat die Kanzlerin geantwortet auf die Frage, Agitation und Propaganda – das ist ja das, was die zwei Journalisten ihr jetzt vorwerfen, dort Sekretärin gewesen zu sein für Agitation und Propaganda -, da hat Angela Merkel gesagt: Ich kann mich nicht erinnern, in irgendeiner Weise agitiert zu haben, ich war Kulturbeauftragte. Ist das glaubwürdig?

    Boysen: Ich habe das damals versucht, in den Archiven der FDJ zu verifizieren und festgestellt: Natürlich, die FDJ war eine Jugendorganisation, und weder Jugendliche, noch junge Erwachsene archivieren oder dokumentieren all das, was sie in so einer Organisation machen, wirklich sorgsam. Es wurde dennoch aus den Akten deutlich, dass diese FDJ-Grundorganisation an der Akademie der Wissenschaften, wo Angela Merkel als Physikerin arbeitete, in den 80er-Jahren weder wirklich agitatorisch tätig war, noch aus unserer Sicht irgendwie Verwerfliches machte. Man folgte da einer Routine. Und das ist auch durchaus anders als noch in den 50er- oder 60er-Jahren. Da brannte man für den Sieg des Sozialismus. So war das zum Ende der DDR wahrhaft nicht: Da versucht man, sich am 1. Mai bei den Kundgebungen, an denen man teilnehmen musste, irgendwie aus der Affäre zu ziehen. Angela Merkel beispielsweise rief da einen sogenannten Rechnertag ins Leben, um zu zeigen, ich bin da unabkömmlich, um nicht mit demonstrieren zu müssen. Natürlich gab es eine Grenze. Es gab einmal eine Diskussion um Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften, die mit den "Schwerter zu Pflugscharen"-Aufnähern der Friedensbewegung in die Akademie gekommen waren. Das war ein Fall, da gab es eindeutig Druck von der Parteileitung. Daran war Angela Merkel nicht beteiligt, wohl aber an der anschließenden Debatte. Und da hat sie die Frage gestellt, warum es denn wohl so eine Aufregung gibt, wenn die Aufnäher tatsächlich getragen werden, wo sie doch in der Herstellung nicht verboten seien. Die Herrnhuter Brüder – das ist eine evangelische Gemeinde in Sachsen gewesen – durften diese Aufnäher herstellen, das wurde mindestens toleriert. Wieso dürfen sie sie herstellen, wenn man sie hinterher nicht tragen darf? Man kann jetzt nicht sagen, dass das ein großer oppositioneller Akt war, aber vielleicht zeigt es die Stimmung, die damals herrschte. Man stellte schon einiges infrage.

    Müller: Es geht den beiden Journalisten, wenn wir das in den kurzen Auszügen, die wir bisher lesen konnten, richtig verstanden haben, ja auch einerseits um die möglichen Positionen, um die Funktion, die Angela Merkel eingenommen hat oder eingenommen haben soll: Es geht aber auch auf der anderen Seite ein bisschen um Glaubwürdigkeit. Wenn Angela Merkel sagt, ich kann mich nicht erinnern, in irgendeiner Weise agitiert zu haben, sprich: War sie Beauftragte für Agitation und Propaganda – das ist ja die Fragestellung -, und antwortet, ich war Kulturbeauftragte, ist das glaubwürdig, dass sie, wenn sie es gewesen ist, sich daran nicht mehr erinnern kann?

    Boysen: Diese Frage, wer erinnert sich wie, die sollten wir vielleicht noch mal ansprechen. Man kann es sicherlich Opportunismus nennen, wie sie sich damals verhalten hat, Angepasstheit. Sie war ganz klar nicht oppositionell wie beispielsweise ihr Bruder. Trotzdem muss man auch sehen, dass sie nicht viele Vorteile hatte von dieser vorsichtigen Art. Sie hat halt immer respektiert oder gesehen oder vorhergenommen, wo die Grenzen für ihre Karriere waren, die ihr im Vergleich zu SED-Mitgliedern gesetzt waren. Und sie jonglierte, sie balancierte gewissermaßen. Und lassen Sie mich noch ein Wort zu den Zeitzeugen sagen, die jetzt sich offenbar besser an die Positionen, die Angela Merkel angeblich innehatte, erinnern: Da werden Leute angeführt wie zum Beispiel ein ehemaliger Kollege, der jetzt angeblich irgendwelche Enthüllungen auf den Markt bringt. Mir hat er vor Jahren wörtlich gesagt: "In der FDJ konnten wir damals unser eigenes Ding machen." Jetzt sagt er: "Wir waren direkt der wichtigen FDJ-Leitung unterstellt." Also die Frage, wie seriös sind sie und wie wandelt sich das Erinnerungsvermögen, ist ein Interessantes. Auch zum Beispiel der ehemalige Verkehrsminister Günther Krause wird ja angeführt. Auch da sind wohl Zweifel erlaubt: Er galt bislang als Förderer Angela Merkels. Er hatte sich nämlich damit geschmückt, die heutige Kanzlerin im Jahr 1990 als politisches Talent erkannt zu haben und ihr ein Entrée bei Helmut Kohl verschafft zu haben. Jetzt erinnert er sich anders, das sei jedem Zeitzeugen verziehen. Doch bei seriöser Recherche, denke ich, hätte das mal aufhören müssen.

    Müller: Es ist ja schon viele Jahre her, Jacqueline Boysen. Sie haben es eben gesagt: Vor 14 Jahren haben Sie Ihr Buch über Angela Merkel veröffentlicht, sind seitdem ganz nah dran an dem Thema, verständlicherweise. Sie haben vorher, bevor Sie das Buch veröffentlicht haben, häufiger Gelegenheit gehabt, mit Angela Merkel zu sprechen. Als es dann um das Buch ging, hat das nicht funktioniert. Das heißt, Sie haben eine nicht autorisierte Biografie geschrieben. Viele sagen ja, das ehrt den Autor, weil er nicht ganz so nah dran war. Wie haben Sie sich das erklärt, dass Angela Merkel nicht offen genug für ein Gespräch war?

    Boysen: Als ich sie konfrontiert habe mit der Idee, ich möchte ein Buch über sie schreiben – wohl gemerkt, da tobte die Spendenkrise und sie war noch nicht Parteivorsitzende, sie war Generalsekretärin -, da war sie überrascht, sagte: Oh, ich lebe doch noch, warum wollen Sie eine Biografie schreiben. Dann hat sie sich Bedenkzeit auserbeten bis zu dem Termin, an dem sie dann Parteivorsitzende tatsächlich wurde. Ich habe aber dann recherchiert und dann habe ich es ohne direkte Gespräche über Biografisches mit ihr gemacht, was letztendlich mir eine größere Freiheit gegeben hat sicherlich als denjenigen, die autorisierte Biografien über wen auch immer schreiben. Es gibt natürlich Fragen, die hätte ich gerne mit ihr besprochen, aber letztendlich war zumindest vor 14 Jahren die Offenheit der Zeitzeugen, die ja noch nicht wussten, was sie werden würde, enorm groß und in den Archiven gab es eben auch großartige Dinge zu finden, und insofern bedauere ich es überhaupt nicht, dass das eine nicht autorisierte Biografie ist.

    Müller: Die Merkel-Biografin und frühere Deutschlandfunk-Korrespondentin Jacqueline Boysen. Danke für das Gespräch und auf Wiederhören nach Berlin.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.