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STEGREIF.orchester mit Brahms Dritter
Brahms entstaubt

Das STEGREIF.orchester arbeitet ohne Dirigenten und Noten, es musiziert stehend, gehend und gelegentlich sogar liegend. Nachdem es sich Werke von Beethoven und Schubert vorgenommen hat, präsentierte es nun sein drittes Programm: "Free Brahms".

Von Stefan Zednik | 23.04.2018
    Die jungen Musiker des 'Stegreiforchesters' laufen über eine Wiese
    Das Stegreiforchester (Deutschlandradio / Elisabeth Hardenberg)
    Es sind nicht nur sphärische Klänge, die den Besucher beim Einlass in den großen, klassizistischen Saal des Konzerthauses am Gendarmenmarkt erwarten, es ist auch eine ungewohnte Szenerie. Die Bestuhlung ist komplett entfernt, im leeren Raum finden sich verteilt 30 Instrumentalisten. Einige der Musiker, von denen die meisten keine Schuhe tragen, stehen mit geschlossenen Augen auf einem stufenartig gebauten kleinen Podium, zwei offenbar fahrbare Podeste mit Schlagzeug und Pauken sind zu sehen. Nach mehreren Minuten, das Publikum hat mittlerweile zur Ruhe gefunden, wächst aus dem Soundteppich von Chor, E-Gitarre und sanftem Schlagwerk eine dem Klassikfreund vertraute Melodie.
    Es ist ein Thema aus der 3. Symphonie von Johannes Brahms, das hier, eingebettet in ein harmonisches Summen, erklingt. Weichgespülte, eine nach neuen Fans suchende Klassik? Das Publikum unterscheidet sich tatsächlich von dem in diesem Haus gewohnten, Abendgarderobe ist kaum zu sehen, der Altersdurchschnitt ist deutlich niedriger. Wer das Orchester schon erlebt hat, weiß jedoch, dass es ihm nicht um die bloße Popularisierung vermeintlich antiquierter Musik geht. Die Geigerin Anne-Sophie Bereuter:
    "Unsere Intention ist es ja das Werk zu vertiefen also eben nicht nach dem Motto, was können wir nehmen und was lassen wir weg, weil wir schätzen die Komposition, sondern es ist wirklich dieses: Wo spüren wir ganz viele Gedanken und Emotionen in uns aufkommen und wo spüren wir die Idee, das aufzubrechen und zu erweitern und zu vertiefen?"
    Kunst der Interpretation
    Es ist ein grundsätzlich anderer, manche sagen revolutionärer Ansatz, den das Stegreiforchester seit seiner Gründung vor drei Jahren verfolgt. Begeisterung für das Werk und Respekt vor der Komposition werden verbunden mit der Bereitschaft, die konventionellen Wege eingeübter Interpretationen zu verlassen. Diese Tabubrüche gehen mitunter weit und betreffen nicht nur das auswendige Spiel, den Verzicht auf einen Dirigenten oder das Agieren im Raum, sie betreffen vor allem ein ehemals sehr lebendiges, heute im Bereich der Klassik verloren gegangenes Feld des Musizierens: die Kunst der Improvisation.
    "Was wir vor allem auch prägen wollen in klassischer Improvisation, ist auch wirklich klassisch zu improvisieren "im Stile von ..." und das ist nicht einfach. Und das ist ein Prozess, in dem wir uns gerade mittendrin befinden und wahnsinnig viel experimentieren und auch selber lernen müssen, weil dieses Feld gibt’s nicht mehr, leider. Mozart war klar, dass er improvisiert hat und es einfach nur noch ein bisschen aufgeschrieben hat, aber im Konzert hat er nicht das gespielt, was da steht."
    So beschreibt Juri de Marco, der Gründer und künstlerische Leiter des Stegreiforchesters die Problematik. Improvisation braucht vor allem individuelle Persönlichkeiten, und die hat die Truppe in der Tat zu bieten: ein Rockgitarrist mit klassischem Fundament, ein Cellist aus Südafrika, Spezialist auch für Obertongesang, ein Soloklarinettist aus Belgrad mit Klezmererfahrung, ein spanischer Musiker, der mit seinem elektronischen Cello häufig in Kreuzberg als Straßenmusiker zu erleben ist. Laura Totenhagen, Oboistin und Jazzsängerin:
    "Das Ungewöhnliche und Interessante ist, dass man mit Leuten zusammenspielt, die verschiedene Backgrounds haben. Also aus unterschiedlichen Richtungen zusammen kommen, alle haben Interesse daran, etwas auf die Beine zu stellen, alle sind ambitioniert, alle sind begeistert davon."
    Geigerin Anne-Sophie Bereuter: "Ich glaube, Brahms eignet sich wahnsinnig gut für das was wir machen weil ich finde, Brahms ist ein Kammermusikkomponist. Und was wir machen, wir spielen Symphonien nicht in Originalbesetzung sondern eigentlich könnte man sagen in Kammerorchesterformation. Und ich finde, an all seinen Werken auch in den Symphonien spürt man dieses kammermusikalische, dieses ganz filigrane, sensible aber auch ... also man spürt einfach, was für eine Klangästhetik er hatte und deshalb finde ich das passt wahnsinnig gut zu uns."
    Freude am Spiel überträgt sich aufs Publikum
    Tatsächlich gelingt es dem Orchester, diese Qualität zum Klingen zu bringen, ohne dabei den symphonischen Klang gänzlich aufgeben zu müssen. Während es in immer neuen Ordnungen und Konstellationen den Raum nutzt, wandern die Zuschauer mit, wodurch sich eine stetig verändernde Entfernung eines jeden Besuchers zum Klanggeschehen ergibt. Die Choreographie wächst dabei leider nicht immer zwingend aus der Musik, Klang und Rhythmus wirken manchmal künstlich in Bewegung übersetzt und damit theatralisiert. Und doch überträgt sich die Freude am Spiel unmittelbar auf die Zuhörer und Zuschauer.
    "Free Brahms!" – ist er nun frei geworden? Die Komposition des Stegreif zitiert Jazz, Techno, Klezmer, sogenannte Weltmusik – um doch immer wieder zu Brahms zurück zu finden. Er bietet das Fundament, verkraftet den kreativen Umgang mit seiner Musik gut und wird damit tatsächlich von Aufführungskonventionen befreit. Ein Stück weit verliert er vom übergroßen Nimbus, einer der ominösen drei großen "Bs"- Bach, Beethoven, Brahms - zu sein. Der Ausflug in unsere Gegenwart, soviel ist sicher, wird von einem restlos begeisterten Publikum gerne mitgemacht.