Start-up-Szene in Bayern

München lockt junge Gründer an

10:53 Minuten
Ein Proglove Scanner-Handschuh, der an einer Hand befestigt ist.
Alles in einer Hand: Das Münchner Start-up ProGlove entwickelt Scanner-Handschuhe für Logistik- und Produktionsunternehmen. © Deutschlandradio / Burkhard Schäfers
Von Burkhard Schäfers · 26.08.2019
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In der bayerischen Hauptstadt sind mehr als 1000 Start-ups angesiedelt. Mit drei Universitäten und großen Unternehmen ist München ein günstiger Standort, der sich international messen kann. Zwei Firmen sind ProGlove und Maiot.
"Wir sehen hier auf der rechten Seite unsere Werkstatt", erklärt Axel Schmidt, Sprecher des Start-ups ProGlove. "Wir bauen Prototypen sehr schnell, bringen die auch beim Kunden sehr schnell zum Einsatz, damit wir vor Ort im praktischen Einsatz sehen: Bringt das etwas, funktioniert das so, wie wir uns das gedacht haben, und hat der Kunde einen Nutzen davon?"
Axel Schmidt zeigt Werkbänke, Bohrer, Schweißmaschinen – alles großzügig angeordnet in einer hellen Werkstatt. Nebenan im Großraumbüro sitzen zwei Dutzend Kolleginnen und Kollegen vor ihren Laptops. Viele Tafeln mit sehr vielen bunten Klebezetteln ordnen die Arbeitsabläufe. Dazwischen ist viel Raum – ungenutzt. ProGlove ist ein Startup – noch keine fünf Jahre alt und weiterhin im Aufbau.
"Die Möbel, die wir hier sehen, sind selbstgebaut", sagt Schmidt. "Das heißt, bei uns wird wirklich Hand angelegt, nicht nur wenn’s darum geht, Produkte zu entwickeln. Und das ist auch so ein bisschen der Gründerspirit, den Sie bei uns an jeder Ecke spüren."

Schneller, effizienter, leichter

Das Münchner Start-up verkauft Arbeitshandschuhe. Das Besondere: Diese haben einen integrierten Barcode-Scanner, wie ihn Arbeiter am Fließband oder im Lager nutzen.
Der Scanner piepst. "Jetzt hab ich hier ein positives Signal bekommen und weiß, ich hab das richtige Teil gescannt und kann auch das richtige Teil verbauen", sagt Schmidt. "Dieses Teil sieht absolut gleich aus. Aber wenn ich es scanne, bekomme ich hier ein akustisches, optisches und haptisches Signal zurück und weiß, ich hab das falsche Teil. Wir gehen davon aus, dass wir so ungefähr ein Drittel aller Fehler vermeiden können."
Der Scanner-Handschuh soll die Arbeit in Produktionshallen oder in der Logistik zuverlässiger und einfacher machen, sagt ProGlove-Sprecher Axel Schmidt. Normalerweise müssen Arbeiter nach einem zusätzlichen Gerät, meist einem Pistolenscanner greifen. Mit der am Körper integrierten Technik sei jeder Scan drei bis vier Sekunden schneller.
Die Idee hatte einer der Gründer während seiner Doktorarbeit bei BMW. Im Werk fiel ihm auf: Die Arbeiter tragen Handschuhe. Und viele von ihnen müssen ständig Produkte scannen.
"Jetzt hat er sich gedacht: Was, wenn es mir gelingen würde, einen Handschuh mit einem Scanner zu verbinden und nur eine Sekunde pro Scan einzusparen? Dann hätte ich ein Riesending geschafft, würde ein erhebliches Einsparpotential für BMW liefern, und würde auch die Rolle des Mitarbeiters stärken. Denn der wird effizienter und muss sich auch nicht mehr so sehr belasten."
Der Proglove-Sprecher Axel Schmidt.
Einsparung für Unternehmen und Erleichterung für Arbeiter: Der Proglove-Sprecher Axel Schmidt im Büro des Start-ups.© Deutschlandradio / Burkhard Schäfers
Zu den inzwischen mehr als 400 Kunden zählen auch die Lufthansa, DB Schenker und Ikea. Zurzeit hat ProGlove 160 Mitarbeiter. Vor einem Jahr waren es nicht einmal halb so viele. Der Umsatz liegt nach eigenen Angaben im Millionenbereich und soll sich in diesem Jahr verdoppeln. In der Regel geht es bei Start-ups anfangs nicht darum, Gewinn zu machen, sondern zu wachsen, neue Auftraggeber zu erreichen.

Zwei Kulturen prallen aufeinander

München ist eigentlich ein Standort klassischer Industrie- und Finanzunternehmen, gilt aber als vielversprechend - vor allem für Start-ups, die Produkte für andere Firmen entwickeln. Im Business-to-Business-Geschäft – kurz B2B – spielen die Großen wie Allianz, Münchner Rück oder Siemens eine Schlüsselrolle, sagt Carsten Rudolph, Geschäftsführer des Start-up-Netzwerks BayStartUP.
"Ganz wichtig natürlich für die B2B-Start-ups als potenzielle Kunden. Hier und da auch als Kooperationspartner. Alle diese Unternehmen haben jetzt ihre eigenen Start-up-Netzwerke. Sie sind auch sehr präsent, um mal zu gucken: Was gibt es an neuen Technologien? Wo kann ich andocken?"
Die Digitalisierung verändert das Geschäft der Autobauer, Elektronik- und Versicherungskonzerne von Grund auf. Manager aus der alten Unternehmenswelt suchen händeringend nach Partnern, die das Internet der Dinge besser verstehen als sie selbst. Allerdings: Wenn sich Start-up-Leute und Konzernvertreter begegnen, prallen zwei Kulturen aufeinander, sagt Carsten Rudolph, der junge Gründerinnen und Gründer berät.
"Wir haben an manchen Stellen die Situation, dass große Unternehmen einfach Leute in die Start-up-Szene reinschnuppern lassen, die nicht unbedingt Entscheidungskompetenz haben. Das macht es natürlich schwierig: Ein Start-up ist dann möglicherweise ganz aufgeregt und will seine Lösung entsprechend platzieren. Nur man muss sich als Start-up auch immer bewusst sein: Ein großes Unternehmen muss sich absichern. Das dauert eine gewisse Zeit, um solche Entscheidungen fundiert zu treffen."

Angst vor dem Unbekannten

Traditionelle Konzerne planen gerne langfristig. Start-ups hingegen leben davon, morgens eine Idee zu spinnen und sie nachmittags womöglich wieder zu verwerfen. Wie groß ist also das Vertrauen in die junge Szene? Einerseits wissen die Großen, dass sie sich verändern müssen. Aber mit dem Wollen ist das so eine Sache, gibt Bernhard Schambeck zu, der sich bei BMW um Kontakte zu Start-ups kümmert:
"Das Unternehmen hat immer Angst vor einem unbekannten, neuen Lieferanten. Themen wie Qualität, Themen wie finanzielle Stabilität, Versorgungssicherheit", sagt Schambeck. Er leitet die BMW-Start-up-Garage. Anders als es klingen mag, ist das keine verrümpelte Hinterhofbaracke, in der brillentragende Nerds im Halbdunkel am Notebook sitzen.
BMW hat in einem gesichtslosen Bürokomplex vor den Toren Münchens aus hellem Kiefernholz schicke Schreibtische und Besprechungsinseln zimmern lassen. Hier versucht der Autobauer, zu einem frühen Zeitpunkt Kooperationen mit Start-ups einzutüten, um so zu beeinflussen, in welche Richtung eine junge Firma ihre Idee weiter entwickelt.
"Wir haben immense technologische Herausforderungen und Investitionen im Bereich Elektrifizierung, autonomes Fahren, auch im Servicebereich", sagt Schambeck. "Die ganze Firma steht vor einer digitalen Transformation. Wir können an jeder Ecke vom Unternehmen Innovationen brauchen. Jetzt ist es natürlich schwierig, das alles selber zu entwickeln. Da besteht die Chance, sich zu öffnen und die Innovationen, die draußen entstehen, zu nutzen."

Center of Excellence in München

Allerdings: Bis ein neues Produkt tatsächlich den Weg ins Auto findet, dauert es. Obwohl es zwischen Etablierten und Neulingen manchmal hakt, schwärmt Bernhard Schambeck vom Standort München: "Was München sehr auszeichnet, ist ein 'Center of Excellence' im Bereich Hightech. Die Industrie, die hier angesiedelt ist, auch Tech-Player kommen wie Microsoft, Google oder IBM. Das strahlt natürlich aus."
Ein Pluspunkt sind die großen Hochschulen: Die Technische Universität München – kurz TUM – und die Ludwig-Maximilians-Universität mit zusammen fast 100.000 Studierenden. Beide haben Gründerprogramme aufgelegt. So fanden auch Adam Probst, Hamza Tahir und Ben Koller zusammen – an der TUM, weshalb die Uni ihr Gründer-Netzwerk "Unternehmer-TUM" getauft hat.
"Die Unternehmer-TUM ist quasi der Grund, wieso es uns gibt", sagt Koller. "Wir haben uns über das Netzwerk kennengelernt, wir haben diverse Programme der Unternehmer-TUM durchlaufen, haben so Kunden und Fördermittel gewinnen können. Wir sind nach wie vor in dem Netzwerk sehr aktiv und versuchen mittlerweile auch, unser Wissen weiterzugeben."

Schäden voraussagen, bevor sie eintreten

Mit ihrem Start-up Maiot, gegründet vor gut einem Jahr, sagen Koller und seine Kollegen Schäden an teuren Maschinen voraus, bevor sie eintreten. Dafür haben sie einen Algorithmus programmiert, der Daten auswertet, die mittels Sensoren erhoben werden.
"Das augenscheinlichste Beispiel ist wahrscheinlich die Kühlmaschine mit gekühlter Fracht. Da fahren zehn Tonnen Lachs von Hamburg nach München oder Chemotherapie-Medikamente werden von A nach B verfrachtet. Da sind wir bei immensen Warenwerten. Durch eine Vorhersage von einem Ausfall der Kühlmaschine ist es dem Spediteur oder dem Warenbesitzer schon möglich, einen Ersatz zu besorgen und so zu vermeiden, dass es überhaupt erst zu einem Unterbrechen der Kühlkette kommt."
Defekte Bremsen, überhitzte Motoren, kaputte Bustüren – all das kann der Algorithmus vorhersehen, indem er etwa aktuelle Daten wie Temperatur und Drehzahl mit Daten aus Werkstattberichten abgleicht. Das Team von Maiot besteht aus sechs Leuten zwischen Mitte 20 und Anfang 30. Sie teilen sich ein kleines Büro in der Münchner Innenstadt – darin nicht viel mehr als Schreibtische mit Computern, ein Sofa, ein Besprechungstisch und ein Sideboard mit Getränken. Auch dank verschiedener Förderungen schreibt das Startup nach eigenen Angaben eine schwarze Null.
Ihr jüngstes von einem Dutzend erfolgreicher Projekte ist die Zusammenarbeit mit der MVG, der Münchner Verkehrsgesellschaft, gefördert mit mehreren hunderttausend Euro durch das Bundesverkehrsministerium.
"Zusammen mit der MVG statten wir jetzt 100 Busse mit unserer Lösung aus, um in Fokusbereichen wie Türsysteme oder Klimaanlagen Vorhersagen geben zu können, wann es denn zu Ausfällen kommt", sagt Koller.

München kann mit Berlin mithalten

Künstliche Intelligenz, Robotik, erneuerbare Energien, Medizintechnik: In München sind, so schätzen Fachleute, inzwischen mehr als 1000 Start-ups in unterschiedlichsten Branchen aktiv. Genaue Zahlen gibt es nicht – unter anderem, weil verschiedene Definitionen kursieren, wie lange eine neue Firma als Start-up gilt. Mit der als führend geltenden Berliner Szene könne München jedenfalls gut mithalten – ebenso europaweit, sagt Carsten Rudolph vom Beratungsnetzwerk BayStartUP, das von der Staatsregierung, Unternehmen und privaten Sponsoren finanziert wird.
"Ich glaube, wir brauchen uns nicht hinter den großen Regionen wie Paris und London zu verstecken, die natürlich von der Dimension der Städte her nochmal eine ganz andere Hausnummer sind, allein was die Einwohnerzahl angeht", sagt Rudolph. "Aber auch so kleinere Zentren wie Stockholm oder Tel Aviv, wenn man das zu Europa zählen möchte. Ich glaube, wir sind da schon recht gut aufgestellt."
Mit der Softwarefirma Celonis und dem Fernbusbetreiber Flixbus sitzen gleich zwei sogenannte Einhörner in München. Start-ups also, die mit mehr als einer Milliarde Euro bewertet werden.
Junge Gründer sind also voller Euphorie, was den Standort München angeht. Auch Ben Koller mit seiner Geschäftsidee, Schäden an Maschinen vorherzusagen. "Gerade dieses Dreieck aus hervorragenden Universitäten, viel Talent im Markt und großen Industriepartnern ist einfach ein goldenes Rezept, um auch Nachwuchs zu fördern."
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