75 Jahre Kriegsende

Wie wollen wir uns erinnern?

34:58 Minuten
Transparente mit der Aufschrift "8. Mai 1945 Die Befreiung feiern 8. Mai 2020" und "Für ein friedliches und solidarisches Europa" hängen am Balkon des Opernhauses der Staatstheater Stuttgart.
Die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano möchte den 8. Mai zu einem bundesweiten Feiertag machen. Ihre Petition wurde von mehr als 100.000 Menschen unterzeichnet. © Picture Alliance / dpa / Marijan Murat
Moderation: Axel Rahmlow · 08.05.2020
Audio herunterladen
Am 8. Mai 1945 trat die bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht in Kraft. 40 Jahre später deutete Bundespräsident Richard von Weizsäcker dieses Datum als "Tag der Befreiung". Heute ist diese Sicht wieder umstritten.
Für den israelischen Historiker Dan Diner war "das Wort von der Befreiung" von Anfang an "problematisch", da es die Unterschiede der historischen Erfahrungen nicht berücksichtigt: "Die Opfer des Faschismus, also die politischen Opfer des Nationalsozialismus, die sind in der Tat befreit worden aus Haft. Diejenigen, die für die Vernichtung und für den Tod vorgesehen waren, die sind gerettet worden."
Diese Spannung zwischen der politischen Befreiung und der physischen Errettung durchdringe den Diskurs über das, was die Nazi-Herrschaft gewesen ist, sagte Dan Diner. "Diese Dinge spielen eine wichtige Rolle und sie wirken sich auch im gegenwärtigen Diskurs aus. Ich glaube, dass die offiziellen Vertreter der Juden in Deutschland natürlich die Frage der Errettung im Blick haben, aber sich dem allgemeinen Diskurs anpassen und von Befreiung sprechen. Besser diese Form der Übereinstimmung als sich einem Geschichtsrevisionismus hinzugeben. Aber das Wort von der Befreiung ist ein Kompromiss."

AfD will Rückkehr in die 1950er-Jahre

Der Jenaer Historiker Norbert Frei hält die Bezeichnung des 8. Mai 1945 als "Befreiung" durch Richard von Weizsäcker zwar für "heikel". Dennoch sei diese Aussage im Laufe der Jahrzehnte "immer wahrer" geworden, da die Deutschen sich gesellschaftlich zu von Weizsäckers "demokratiepolitischer Setzung durch die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit" immer mehr bekannt hätten. "Die großen geschichtspolitischen Auseinandersetzungen, die kommen alle erst noch nach dieser Rede. Vom Historikerstreit angefangen über die Goldhagen-Debatte über die Wehrmachtsausstellung. Dieser gesellschaftliche Prozess der Vergegenwärtigung der NS-Vergangenheit hat vor zehn Jahren seinen bisherigen Höhepunkt erreicht. Auch die Infrastruktur des Gedenkens hat sich seit den 1990er-Jahren noch einmal dramatisch erweitert."
Seit etwa fünf Jahren jedoch attackiere die AfD diesen "geschichtspolitischen Status" massiv, sagte Frei. "Die Wähler der AfD wollen eine Abkehr von den geschichtspolitischen Prozessen der vergangenen Jahrzehnte und eine Rückkehr in die 1950er-Jahre."
Die Ausbildung eines kollektiven geschichtlichen Gedächtnisses sei ein "offener Prozess", betonte Dan Diner. Dennoch folge dieser Prozess in Deutschland "klaren Maßgaben". Das Demokratiebewusstsein sei fest angebunden an die Erinnerung an die Vergangenheit. "Es wird immer wieder Schwankungen und Abweichungen geben, aber wir sind in diesem Prozess." Die Erinnerung an die NS-Vergangenheit und den Zweiten Weltkrieg sei "ganz tief in das Gewebe unseres Selbstverständnisses eingelegt", sagte Diner. "Auch im Widerstand dagegen, in der Abwehr und der Verleugnung kommen sie wiederum zum Ausdruck. Das heißt, in welcher Weise auch immer, sie sind präsent."

Keine ungebrochene Linie vom Dunkel ins Helle

Norbert Frei verwies darauf, dass die nationalistischen Ausfälle von rechtspopulistischer Seite den Widerspruch der Mehrheitsgesellschaft evozierten. "Das ist etwas, was wir durch die Jahrzehnte der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und dem Holocaust immer wieder beobachtet haben. Es ist ja keine Linie vom Dunkel ins Helle, die ungebrochen vorwärtsschreitet, sondern es ist eine immer wieder neue Auseinandersetzung mit Erkenntnis und Widerspruch und Rückschlägen. Aber insgesamt ist mir nicht bange, dass wir auf diesem Weg weitergehen werden, weil es Teil des politisch-kulturellen Selbstverständnisses dieser Bundesrepublik Deutschland ist."
Frei hält es für nicht notwendig, aus dem 8. Mai einen staatlichen Feiertag zu machen: "Ich glaube nicht, dass es da einen weiteren staatlichen Feiertag braucht, um das Gedenken an diese epochale Zäsur des Jahres 1945, des Kriegsendes in Europa, wachzuhalten."
(ruk)

Es diskutierten:
Dan Diner, emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem und von 1999 bis 2014 Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig
Norbert Frei, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena und Leiter des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts

Mehr zum Thema