Byung-Chul Han: Vom Verschwinden der Rituale

Mit Blütenstaub gegen die Globalisierung

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Cover des Buches "Rituale" vor einem gelb-orangenen Hintergrund.
Warum Rituale wichtig sind, darüber schreibt der Philosoph Byung-Chul Han in seinem neuen Buch. Seine Ansätze sind zum Teil sehr eigen. © Ullstein-Verlag
Von Michael Opitz · 12.09.2019
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Rituale geben dem Dasein Halt - in der globalisierten Welt aber gehen die Freiräume dafür verloren. Mit dieser Entwicklung beschäftigt sich der Philosoph Byung-Chul Han in seinem Buch "Vom Verschwinden der Rituale". Seine Vorschläge wirken teils naiv.
Von einem alten Wildkirschenbaum als Zentrum der dörflichen Gemeinschaft erzählt Peter Nadas in seinem Essay "Behutsame Ortsbestimmung". Für Byung-Chul Han, der Nadas in seinem neuem Buch "Vom Verschwinden der Rituale" ausführlich zitiert, erweist sich dieser Wildkirschenbaum als beispielhaft. Denn die Dorfbewohner bilden, wenn sie sich um den Baum versammeln, eine Gemeinschaft von Zusammengehörenden. Fernab vom Kommunikationslärm der Gegenwart geben sie sich dann einer "rituellen Kontemplation" hin. In "stillschweigenden Einverständnis", "in stiller Eintracht" treffen sie sich am Wildkirschenbaum. Stets suchen sie diesen einen Baum auf, und diese Wiederholung verleiht ihrem Handeln etwas Rituelles. Zugleich wird der Begegnungsort so mit Bedeutung aufgeladen.
Allerdings sind solche Orte durch die Globalisierung – so lautet die These dieses Buches "Vom Verschwinden der Rituale" –, im Verschwinden begriffen: Mit der Ent-Ortung gehen jene Räume verloren, in denen rituelle Handlungen stattfinden können. Byung-Chul Han definiert Rituale als "symbolische Techniken der Einhausung". Sie sind seiner Ansicht nach notwendig, um das In-der-Welt-Sein als ein Zu-Hause-Sein empfinden zu können. In ihrer wiederkehrenden Bedeutung erweisen sie sich als Stabilitätsfaktoren, wenn sie Orten und zeitlichen Abläufen eine Struktur und dadurch dem Dasein einen Halt geben.

Eine verzauberte Welt als Idealzustand

Es gehört nach Han zur Funktion von Ritualen, dass man die Lebenszeit erst dann als Vollendung und nicht als Verlust erfährt, wenn Fest auf Fest und Jahrestag auf Jahrestag gefeiert wird. In der Moderne jedoch besitzt die Zeit kein Gefüge mehr, das sich auf Rituale gründen würde. Deshalb vergleicht Han die Moderne mit einem "unbeständigen Fluss". Auf der Jagd nach immer neuen Eindrücken und ultimativen Erlebnissen geht uns der Sinn für die Bedeutung von Wiederholungen verloren.
Es klingt nostalgisch, wie Byung-Chul Han seine Gegenüberstellung anlegt: einerseits die gegenwärtige Gesellschaft, in der die Arbeitszeit ebenso ausgebeutet wird wie der Einzelne – andererseits eine verzauberte Welt als Idealzustand. Aus dieser Gegenüberstellung leitet er seine umfassende Kapitalismuskritik her. Das neoliberale Regime totalisiert seiner Ansicht nach die Produktion, wobei der Zwang zur Produktion zum Verfall der Gemeinschaft führt. Der Kapitalismus – so Byung-Chul Han – erzählt nichts, und er "liebt die Stille nicht." Dieser neoromantischer Ansatz mag in der von ihm vorgeschlagenen Alternative naiv anmuten – etwa wenn er gegen das world wide web mit Novalis zu Felde zieht und der Globalisierung mit der magische Kraft des Blütenstaubs zu begegnen versucht.

Die Gemeinschaft geht verloren

Doch sein daraus abgeleiteter Befund ist alles andere als naiv; er ist kritisch. Indem er sich zu den Pathologien unserer Gegenwart äußert – er geht u. a. auf den Drohnenkrieg, den Suizid, das Reich der Zeichen und die Pornografie ein –, zeigt der 1959 in Seoul (Südkorea) geborene Philosoph, wie die Gemeinschaften in den modernen Industriegesellschaften erodieren.
Dass dadurch auch die Rituale verschwinden, ist für Han nur ein, wenn auch ein sehr augenfälliges Symptom. Er will seine Überlegungen als "Kontrastfolie" verstanden wissen. Erst so, meint er, zeigen sich die Konturen der Gegenwart deutlich. Man muss Byung-Chul Hans Thesen nicht in jeder Hinsicht teilen, erkenntnisfördernd aber ist sein Blick auf die globalisierte Welt allemal.

Byung-Chul Han: Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart
Ullstein Verlag, Berlin 2019
121 Seiten, 20 Euro

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