Freitag, 19. April 2024

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Theologin Margot Käßmann
"Manche Menschen habe ich sicher sehr genervt"

Die evangelische Theologin und frühere Bischöfin Margot Käßmann hat den Umgang mit SPD-Politiker Martin Schulz kritisiert. Die Erwartungen an öffentliche Personen seien sehr hoch, sagte sie im Dlf. Wer Risse zeige, werde fallengelassen. Zugleich betont sie die Verantwortung von Amtsträgern.

Margot Käßmann im Gespräch mit Christiane Florin | 01.04.2018
    Die Theologin Margot Käßmann. Foto: dpa / picture alliance / Julian Stratenschulte
    Margot Käßmann - evangelische Theologin und Reformationsbotschafterin der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (dpa / picture alliance / Julian Stratenschulte)
    Christiane Florin: Frau Käßmann, wenn Sie demnächst vorzeitig in den Ruhestand gehen, wer wird dann sagen 'Gott sei Dank' und wer 'Um Himmelswillen! Schade'?
    Margot Käßmann: Es wird wahrscheinlich beides geben. Weil ich denke, manche Menschen habe ich sicher auch sehr genervt. Das ist mir schon sehr bewusst. Und es gibt andere, die schreiben mir jetzt schon: 'Ach, Frau Käßmann, dann verlieren wir aber Ihre Stimme in der Öffentlichkeit.' Also, es wird beides geben, denke ich.
    Florin: Womit haben Sie genervt?
    Käßmann: Ich habe sicher manche genervt mit ihnen zu politischen öffentlichen Themen. Also, ich nehme nochmal "Nichts ist gut in Afghanistan" oder Auseinandersetzungen um die Rüstungsexporte. Das, haben viele gesagt, sei viel zu politisch für eine Frau der Kirche. Und manche vielleicht auch als FRAU der Kirche, das war ja manchmal auch beispielsweise in den Beziehungen zur russisch-orthodoxen Kirche nicht so ganz einfach.
    Florin: Bereuen Sie einen Satz, für den Sie kritisiert werden?
    Käßmann: Nein, eigentlich nicht, muss ich sagen.
    Florin: Einen der vielen Sätze.
    Käßmann: Nein, ich bin eigentlich sehr zufrieden. Ich habe meinen Beruf immer sehr, sehr gerne ausgeübt. Und auch diese letzten Jahre als Reformationsbotschafterin haben mir wirklich viel Spaß gemacht einfach auch. Das ist auch ein großes Glück, wenn du sagen kannst, du machst beruflich das, was dich auch persönlich inhaltlich umtreibt. Das ist auch ein Privileg, denke ich, das ich da hatte.
    "Ich möchte nicht verehrt werden"
    Florin: Sie haben es gerade schon gesagt, Sie werden einerseits angefeindet, andererseits aber auch verehrt. Wo, sagen Sie, ist die Grenze zum Personenkult überschritten?
    Käßmann: Ich möchte nicht verehrt werden, eigentlich. Das finde ich ganz merkwürdig.
    Florin: Aber werden Sie ja.
    Käßmann: Also, ich denke, ich bin da für manche Menschen auch eine Projektionsfläche. Und ich denke, es ist gut für den Menschen, da auch genug Distanz zu sich selber zu haben, zu wissen, dass du dann die Projektion für andere bist mit ihren Wünschen. Aber das kann eine Person auch gar nicht erfüllen, was manche dann erwarten. Da wird es immer auch Enttäuschungen geben müssen.
    Florin: Haben Sie es nicht auch selber bedient, indem Sie so viel von Ihrem Privatleben preisgegeben haben, so viel Persönliches erzählt haben, dass einfach andere sagen: 'Ja, daran orientiere ich mich'?
    Käßmann: Ja, ich finde das lustig; das sind vor allen Dingen Journalisten, die das immer sagen: 'Sie hat ihre Brustkrebserkrankung öffentlich gemacht!'. Im Übrigen war das eine Pressemittelung der Landeskirche, nicht meine persönliche. Aber Sie können als Bischöfin nicht drei Monate von der Bildfläche von heute auf morgen verschwinden und sagen: 'Psst, ich sage euch aber alle nicht warum.' Natürlich sind den Leuten da ... wissen die Leute dann, dass du krank bist und dann wird gefragt: 'Woran ist sie denn erkrankt?' Und ich finde, dann kann man auch sagen, dass es eine Brustkrebserkrankung war. Und sicher haben dann viele andere Frauen, die mit Brustkrebs erkranken – was jede sechste Frau in Deutschland ist –, sich dann auch daran orientiert. Viele haben auch gesagt, es hat sie ermutigt. Man kann das Überleben, man damit leben – nicht alle überleben natürlich, das ist mir auch sehr bewusst. Krankheit ist nichts, was du verschweigen musst oder was dir peinlich sein muss.
    Florin: Klar, dass Sie es erklären mussten, weil Sie nicht einfach drei Monate fehlen können. Aber ein Buch muss man nicht darüber schreiben.
    Käßmann: Es ist ein Unterkapitel in meinem Buch "In der Mitte des Lebens", in dem ich beschrieben habe, was es für mich bedeutet hat, krank zu sein. Und ich denke schon, dass das für andere auch hilfreich ist zu sagen: Eine Krebsdiagnose muss dich nicht gleich zu Tode erschrecken, sondern gerade als Christen ist es etwas, womit du umgehen kannst. Also, da kenne ich andere Menschen in der Kirche, die viel mehr erzählen.
    "Ich bin keine Rücktrittsexpertin"
    Florin: Nun haben Sie eine gewisse Übung im Zurücktreten. Sie sind sehr schnell, nachdem Ihre Alkoholfahrt bekannt geworden ist, von Ihren Ämtern zurückgetreten. Bei Ihrem katholischen Amtsbruder, Tebartz-van Eltz, hat es deutlich länger gedauert und war auch nicht ganz freiwillig. Was macht den Rücktritt eigentlich leicht und was macht ihn schwer?
    Käßmann: Für mich kann ich sagen, ich habe immer gesagt: Ich bin keine Rücktrittsexpertin. Ich bin auch in keine der Talkshows gegangen, in die ich eingeladen war bei anderen Rücktritten, die es gegeben hat in der Republik, weil ich gesagt habe, ich bin dafür keine Expertin, ich kann nur für mich sprechen. Was es mir leicht gemacht hat ist – um auf Ihre Frage zu antworten –, dass ich nie mich nur über das Amt definiert habe. Also, ich bin zurückgetreten und war ja immer noch Margot Käßmann. Also, das Amt war nicht auch mein ganzer Lebensinhalt. Was es mir schwer gemacht hat ist, dass Menschen mir ihr Vertrauen ausgesprochen hatten bei der Wahl zur Ratsvorsitzenden und ich da schon ein schlechtes Gewissen hatte nach wenigen Monaten im Amt, dieses Amt, das mir ja auch anvertraut worden war, wieder zurückzugeben.
    Florin: Warum wollten Sie eigentlich Ämter?
    Käßmann: Also, ich habe mich nicht hingesetzt, sagen wir mal jetzt mit 25 Jahren, und habe gesagt: Ich möchte jetzt Kirchenkarriere machen oder ich möchte Ämter haben in meinem Leben, sondern das hat sich Schritt für Schritt so ergeben. Das Pfarramt habe ich in der Tat angestrebt – ich habe Theologie studiert und wollte gerne Pfarrerin werden. Also, wenn Sie nach einem Amt, das ich wollte, fragen, dann war es tatsächlich das Pfarramt. Und ich muss sagen, das ist für mich weiterhin der Beruf, den ich heute auch wieder wählen würde. Weil ich diese Kombination zwischen nah bei den Menschen sein, über den Glauben reden und gleichzeitig den, ja, gesellschaftspolitischen Alltag mitbegleiten, weil ich das eine großartige berufliche Kombination finde.
    "Martin Schulz - erst hochgejubelt, dann wirklich fallengelassen"
    Florin: Das heißt, die anderen Ämter sind Ihnen angetragen worden, die haben Sie nicht angestrebt?
    Käßmann: Nein, ich bin gebeten worden, mich zur Wahl zu stellen. Ernst Benda hat mich einst gefragt, ob ich Generalsekretärin des Kirchentages werden wollen würde. Und da, muss ich sagen, erinnere ich mich sehr gut daran, dass ich nicht sicher war, ob ich das kann, ob ich zu jung bin – ich war 35 damals. Und ich muss sagen, ich bin ihm bis heute dankbar – Ernst Bender, wir waren ja nicht unbedingt politisch immer einer Meinung –, dass er gesagt hat sozusagen: 'Junge Frau, nun nehmen Sie die Herausforderung mal ruhig an. Das schaffen Sie schon.' Das war eine große Ermutigung.
    Florin: "Die Inhaber kirchlicher Amts- und Dienststellungen habe einen vorbildlichen Lebenswandel zu führen." So steht es in der Kirchenverfassung der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover, deren Bischöfin Sie waren. Diese Vorschrift gilt nicht nur für Bischöfe, das gilt für alle, die ein Amt in der evangelischen Kirche haben. "Vorbildlicher Lebenswandel", was bedeutet das für Sie?
    Käßmann: Ich denke, dass du zum einen offen und ehrlich mit deinem Leben umgehst, ich denke, dass es nicht heißt, dass Menschen absolut fehlerfrei leben können. Schon Martin Luther hat gesagt, dass es keine Heiligen in dem Sinne gibt, dass sie keine Fehler machen, sondern Heilige sind die Menschen, die wissen, dass sie ganz und gar auf Gottes Gnade angewiesen sind. Für mich hat dazu gehört, am Ende zu meinem Fehler zu stehen. Das, denke ich, kann auch dazu gehören, zu diesem Lebenswandel.
    Florin: Finden Sie das Wort "Vorbild" noch zeitgemäß?
    Käßmann: Ich finde es zu belastet, offen gestanden. Was wird von einem Menschen da erwartet? Und wenn er dann Risse zeigt, dann wird er auch ganz schnell fallengelassen. Ich meine, an Martin Schulz haben wir das gesehen ganz extrem, finde ich: Erst ganz hochgejubelt und dann wirklich fallengelassen. Ich finde beispielweise für mich ist im Moment ein Vorbild Per Mertesacker - auch evangelisch. Dass er so offen gesprochen hat über seine Belastungen und Ängste im Fußballsport und dafür massiv angefeindet wird, das konnte er sich denken. Das fand ich wirklich mutig und vorbildhaft.
    Florin: Die etwas angekratzten Helden sind Ihre Vorbilder? Diejenigen, die nicht ganz makellos sind?
    Käßmann: Es gibt keine makellosen Menschen.
    "Das war ein Urteil über mich als Mutter. Das kann sich niemand erlauben"
    Florin: Um nochmal auf diese Kirchenverfassung zurückzukommen. Sollte das Wort (Vorbild) denn da stehenbleiben? Die Verfassung wird gerade geändert oder zumindest ist da eine Diskussion im Gange, sie zu ändern.
    Käßmann: Ich denke schon, dass Menschen, die ein öffentliches Amt haben – und auch das Pfarramt auf dem Dorf ist ein öffentliches Amt –, dass von denen erwartet werden kann, dass die sich ihrer öffentlichen Verantwortung in ihrem Lebensstil auch schon stellen. Ich meine, da kann erwartet werden, dass Dinge wie Transparenz, Ehrlichkeit, Offenheit, ein gewisser Anstand im Umgang mit anderen Menschen erwartet werden kann. Das denke ich schon. Das gilt aber nicht nur für Pfarrerinnen und Pfarrer, sondern alle, die ein Amt in Verantwortung in unserem Land wahrnehmen. Deshalb empört es uns doch auch so, wenn ein Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika erklärt, er könnte jeder Frau zwischen die Beine fassen.
    Florin: Und das fällt aber nicht unter den Makel, den Sie tolerieren.
    Käßmann: Für mich nicht, weil das kein würdevoller Umgang mit anderen Menschen ist. Und das wäre für mich eine Grundvoraussetzung von "vorbildlich leben", dass ich Respekt vor anderen Menschen habe, gleich welcher Herkunft, Hautfarbe oder welchen Geschlechts sie sind.
    Florin: Als Sie Bischöfin von Hannover werden wollten, als Sie dafür im Gespräch waren, da sagte Ihnen ein Altbischof: 'Vier Kinder und ein solches Amt – das geht nicht!'. Ihr Gegenkandidaten – ein Mann – hatte fünf Kinder, das wurde aber gar nicht thematisiert. Hat Sie das damals geärgert und/oder angespornt?
    Käßmann: Es hat mich, offen gestanden, verletzt, weil da ein Unterton mitschwingt von "verantwortungslose Mutter", die jetzt unbedingt Karriere machen will und die armen, armen Kinder vernachlässigt. Das war ein Urteil über mich als Mutter. Und ich finde, das kann sich niemand erlauben außerhalb der Familie. Meine Kinder können mir dazu gerne was sagen und wir sind durchaus auch im Gespräch, aber dieses Urteil von außen ist ja ein Bild, das sind Bilder im Kopf. Das Bild, das ein Mann, der fünf Söhne hat – das war ja bei uns nun ganz extrem –, dass der eine Ehefrau hat, die im Hintergrund dafür sorgt, dass mit der Familie alles okay geht, aber eine Frau, die vier Töchter hat, im Grunde die Familie vernachlässigt, wenn sie ein so verantwortungs- und zeitforderndes Amt übernimmt.
    "Bei Damen hat man doch eine gewisse Beißhemmung"
    Florin: Wir könnten jetzt noch stundenlang darüber sprechen, welche Fragen Frauen gestellt werden, die Männern nicht gestellt werden. Aber ich will es mal anders herumdrehen: Welche Vorteile hatten Sie, weil Sie eine Frau sind?
    Käßmann: Ich denke, Frauen haben durchaus Vorteile. Sie werden schnell unterschätzt. Das ist mir öfter passiert, dass dann gesagt wurde, der Altbischof hätte jetzt auf den Tisch gehauen und alle mal zusammengebrüllt. Und wenn du dich dann als Frau durchgesetzt hast, sind manche überrascht, dass das auf andere Weise geschieht. Ein hannoverscher leitender Jurist hat mir mal gesagt: "Frau Käßmann, bei Damen hat man doch eine gewisse Beißhemmung." Das fand ich sehr gut ausgedrückt.
    Florin: Und das ist ein Vorteil.
    Käßmann: Das ist ein Vorteil. Ja, ja, ja, ja, ja. Das glaube ich schon. Du wirst als Frau nicht so schnell so laut angegriffen. Also, Brüllen mir gegenüber, habe ich im Grund nicht erlebt.
    Florin: Die EKD hat auf ihrer letzten Synode eine Studie zum Thema Gleichstellung in der evangelischen Kirche veröffentlicht. Und eines der Ergebnisse war: Es geht nicht nur sehr langsam, sondern es gibt sogar Rückschritte, vor allem bei den Frauen in Führungsämtern. Ich war im vergangenen Jahr auch auf der EKD-Synode und da dominierten ja tatsächlich die Herren in anthrazitfarbenen Anzügen. Warum ist das immer noch so?
    Käßmann: Nun, ich denke, dass Frauen sich sehr gut überlegen, wie sie ihre Zeit verbringen. Ich habe das oft erlebt als Landesbischöfin, wenn ich versucht habe Frauen zu überreden, sich zur Wahl zu stellen als Superintendentin, also die mittlere Leitungsebene, dass viele Frauen gesagt haben: 'Oh Mensch, Frau Käßmann, nee, also so viele Sitzungen, damit will ich meine Lebenszeit nicht verbringen. Ich bin gerne Pfarrerin hier vor Ort, aber diese ganze Verwaltung und diese ganzen Gremientätigkeiten, das ist eigentlich nicht das, womit ich leben will oder womit ich Lebenszeit verbringen will.' Ich denke, damit hängt das zum Teil schon zusammen. Und deshalb ist die Frage: Können wir nicht auch Strukturen finden, die wirklich schlanker sind, wo es schneller geht, wo nicht so lange verhandelt werden muss?
    Florin: Aber das haben Sie vor 20 Jahren oder fast 20 Jahren, als Sie die ersten Interviews als Bischöfin gegeben haben, auch schon gesagt.
    Käßmann: Haben Sie nachgeguckt?!
    Florin: Ja, ich habe nachgeguckt, haben Sie auch schon gesagt. Und man muss an den Strukturen etwas verändern und kann nicht immer nur sagen zu jeder einzelnen Frau: 'Ja, das musst du eben für dich lösen, wie du das zusammenkriegst mit Familie Berufen und nicht nur Beruf, sondern auch Karriere.' Also, warum tut sich da so wenig in Ihrem eigenen Laden?
    Käßmann: Jetzt müssen wir mal sagen, Frau Florin, also, im Verhältnis zu anderen Kirchen, glaube ich, haben wir schon eine ganze Menge geändert. Also, wir haben die Synoden alle zusammengelegt, wir haben die Synodentagungszeiten beispielweise deutlich verkürzt, wir haben die Gremien verkleinert. Ich denke schon, dass sich in der evangelischen Kirche in den letzten 20 Jahren da Einiges auch getan hat. Aber Sie haben mich ja gefragt nach dem Unterschied zwischen Männern und Frauen. Und ich denke, dass für viele Frauen es immer noch erstrebenswerter ist, die Pfarrerin nah bei den Menschen vor Ort zu sein, als eine große Verwaltungsstruktur auf sich zu nehmen.
    "Holt Frauen in die Ämter"
    Florin: Mit dem Vergleich zu den anderen Kirchen, meinten Sie die katholische?
    Käßmann: Ja, oder die orthodoxe.
    Florin: Was würden Sie denen den raten, damit sich da mal was bewegt?
    Käßmann: Na ja, dann würden ich Ihnen raten: Holt Frauen in die Ämter. Ich glaube schon, dass sich dadurch der Stil verändert, dass sich Formen verändern. Und wo sehr viele alleinstehende Männer zusammen sind, ist eben auch viel Zeit für Gremienarbeit da. Das sind Frauen, die Familie haben, wesentlich zeiteffektiver. Das ist jedenfalls meine Erfahrung. Und das tut der Kirche auch gut.
    Florin: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk, mit Margot Käßmann, evangelische Theologin und Reformationsbotschafterin der evangelischen Kirche in Deutschland. Das Reformationsjubiläum ist ungefähr ein halbes Jahr vorbei, was ist geblieben?
    Käßmann: Für mich ist besonders wichtig, dass wir das erste Mal ökumenisch gefeiert haben. Und zwar nicht nur in Wittenberg – da auch –, sondern im ganzen Land. Und das war nicht von Anfang an so zu erwarten. Weil am Anfang die Frage war: Wird jetzt hier Luther zum Nationalhelden wieder hochstilisiert? Und wird das anti-katholisch gefeiert? Das fand ich schon beeindruckend. Und dahinter führt, glaube ich, kein Weg zurück. Unsere Wege haben sich vor 500 Jahren getrennt, aber jetzt ist doch sehr klar, wir sprechen uns überhaupt nicht das Christsein gegenseitig ab, sondern wissen uns sehr wohl in unserer Verschiedenheit auch zu schätzen. Das wird bleiben von 2017. Es wird bleiben, dass wir nicht deutsch-national gefeiert haben, sondern auf der ganzen Welt Reformation gefeiert wurde. Das habe ich nun in vielen, vielen Ländern der Erde auch gesehen – das finde ich großartig –, aber auch in Deutschland Menschen aus aller Welt dabei waren und so deutlich wurde: Wir sind keine deutsch-nationale evangelische Kirche, sondern wir sind wirklich Kirche über nationale, über kulturelle, über ethnische Grenzen hinweg.
    Florin: Es war also Erfolg, würden Sie sagen?
    Käßmann: Ich denke, es war ein Erfolg. Der misst sich nicht nur an Zahlen. Ich weiß, dass es in der Presse Kritik gab, wie viele Zahlen da nun erreicht worden wären.
    Florin: Aber die Kritik gab es auch - oder müsste es eigentlich auch innerhalb der EKD geben.
    Käßmann: Na ja, es gab vielleicht nicht diese Wahnsinnserwartungen, die manche hatten. Also, intern habe ich das jedenfalls so nicht gespürt. Ich würde sagen: Ja, es war ein Erfolg.
    Florin: Würden Sie das auch beim Jüngsten Gericht sagen, wenn der Schöpfer Sie fragt: 'War es ein Erfolg?'
    Käßmann: Ach, wenn der liebe Gott mich fragt, würde ich sagen: 'Hast du doch selbst gesehen – klar, war das ein Erfolg!'
    Florin: Aber es war doch auffallend, dass zwar viel über Luther und das Reformationsjubiläum gesprochen wurde, aber eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit Glauben, mit Gott, also mit dem, was Luther umgetrieben hat, die hat nicht stattgefunden.
    Käßmann: Na, da weiß ich nicht genau, wo Sie waren. Aber ich kann ja sagen, in Wittenberg hat es so viele Diskussionen über Glauben und über Gott gegeben, ja – wochenlang – und auch mit Menschen ohne Glauben. Das fand ich besonders gut, weil wir ja es gewagt haben, in Ostdeutschland Reformation zu feiern, wo Christen wirklich in einer kleinen Minderheit sind. Und da haben mir immer wieder Menschen gesagt, überhaupt mal im öffentlichen Raum über solche Fragen zu sprechen, ist auch neu. Das ist, denke ich, landauf, landab deutlich geworden. Und das hat sich am meisten für mich gezeigt, als fast überraschend für alle die Gottesdienste am 31. Oktober landauf, landab, wirklich sehr, sehr gut besucht waren.
    Florin: Das wäre sowieso meine nächste Frage gewesen. Warum waren diese Gottesdienste so voll?
    Käßmann: Ich denke, weil viele auch zeigen wollten: Ja, wir haben das wahrgenommen. Das Reformationsjubiläum ist uns wieder ganz bewusst geworden, was es für uns bedeutet. Und man kann ja sagen, die revidierte Lutherübersetzung 2017 ist wirklich ein Bestseller. Die Menschen haben sich auch wieder mit der Bibel auseinandergesetzt. Natürlich nicht alle, aber sehr, sehr viele. Und ich hatte schon den Eindruck, dass das auch über die Medien natürlich doch viele Menschen wahrgenommen haben.
    "Mir tut es weh, wenn Menschen aus der Kirche austreten"
    Florin: Aber am Sonntag darauf, am Sonntag nach dem Reformationsjubiläum, waren die Kirchen dann wieder so leer, wie sie immer sind. Ich kenne schon die Antwort, dass man gelassen, kleiner werden muss und so. Ich kenne diesen ganzen Duktus. Ist es nicht doch verletzend oder belastend, diesen zahlenmäßigen Misserfolg aushalten zu müssen?
    Käßmann: Also, mir tut es weh, wenn Menschen aus der Kirche austreten. Und natürlich sind Gottesdienste, die sehr, sehr gut besucht sind, wo du mit vielen Menschen singen und beten kannst, ja, fröhlich und die machen natürlich eine ganz andere Stimmung, als wenn du zu zehnt zusammen bist. Aber wir müssen darum werben. Ich sage doch auch gar nicht, dass die Kirche sich nicht verändern muss. Ich bin überzeugt, gerade an den Gottesdiensten müssen wir arbeiten, damit sie am Ort als Gemeinde sich fragen: Wie wollen wir eigentlich feiern? Wie soll das hier aussehen? Wie soll das vonstattengehen? Wie können wir so Gottesdienst feiern, dass Menschen sagen, das hat mich so bewegt und bestärkt für meinen Alltag, dass ich nicht erst Weihnachten wiederkomme, sondern spätestens in zwei Wochen? Ja, aber natürlich wird die Kirche sich auch nicht an alles anpassen können. Ja, also, wenn irgendein neu eröffnetes Ikea voll ist, weil es da Hotdogs umsonst gibt am Sonntagmorgen, heißt das ja nicht, dass die Kirche jetzt Hotdogs verteilt, damit die Gottesdienste voll werden, sondern da muss schon auch eine Sehnsucht nach dem Gottesdienst entstehen. Also, wenn mir Menschen sagen: ‚Hach, ich brauche dringend Entschleunigung‘, dann sage ich immer: ‚Komm mal Sonntag um 10 Uhr in den Gottesdienst, da wirst du entschleunigt, ohne dass du einen Cent dafür zahlen musst.‘
    Florin: Pizza und Rotwein zum Gottesdienst haben Sie ja auch schon mal empfohlen, zumindest am Anfang Ihrer Amtszeit.
    Käßmann: Ach, ich kann mir da sehr viel vorstellen. Also, im Pazifik wird Abendmahl mit der Kokosnuss gefeiert, ja, weil die pazifischen Theologen sagen, da sind doch die beiden Elemente viel näher beieinander. Also, ich finde, Gemeinden können da eine große Freiheit haben und Essen miteinander teilen in der Kirche, das ist, glaube ich, schon etwas, was Menschen da auch beheimatet, ja.
    "Zum Christentum gehören Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Feindesliebe, Schutz der Fremden"
    Florin: Ja, jetzt, ein halbes Jahr nach dem Ende der Reformationsdekade ist es wieder still um die Evangelische Kirche geworden. Und, wenn Sie gehen, wenn Sie sich dann im Juni verabschieden, dann wird es noch stiller.
    Käßmann: Ach, das weiß ich nicht. Ich denke, dass die Evangelische Kirche ringen muss, einerseits um ihre eigene Erneuerung. Das ist mir auch ganz klar. Sie muss ringen um Mitglieder, das ist auch klar. Und gleichzeitig kann sie das im großen Gottvertrauen tun. Die Kirche hat sich immer wieder verändert. Wir müssen die Herausforderung annehmen, aber ich kann Ihnen auch nicht 100 Prozent sagen, wo wir in zehn Jahren stehen werden.
    Florin: Wie erklären Sie sich, dass laut Allensbach-Umfrage mehr Deutsche wünschen, dass Deutschland erkennbar christlich ist, also eine christliche Kultur erkennbar ist, aber zugleich immer weniger auch der registrierten Christen sagen, ich glaube an die Auferstehung oder wissen, was Ostern gefeiert wird? Wie erklären Sie sich diesen doch offenkundigen Widerspruch?
    Käßmann: Ja, zum einen freue ich mich, wenn Menschen sich wünschen, dass Deutschland christlich erkennbar ist. Und zum Christentum gehört Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Feindesliebe, Schutz der Fremden. Also, wer das christliche Abendland anruft als Vergangenheit – ob es das hier so in Reinform gab, ist eine andere Frage – der sollte sich diesen christlichen Werten des Schutzes der Fremden und der Nächstenliebe auch wirklich stellen. Ich denke tatsächlich, dass es einen großen Traditionsverlust und Informationsverlust gibt, dass Menschen nicht mehr wissen, woher unsere Kultur, unsere Rhythmen, unsere Feiertage kommen. Ich muss ehrlich sagen, dass mich das auch manchmal schockiert, diese Unwissenheit. Ich finde, dass auch in kommunalen Kindertagesstätten über die Bibel gesprochen werden muss, sonst sehen Kinder ein Schiff mit lauter Tieren drauf, wissen aber nicht, dass das die Arche Noah ist. Und, dass wir Ostern feiern, dass für Jesus von Nazareth der Tod nicht das letzte Wort hatte, sondern Gott das letzte Wort hatte, weil das Leben von Jesus weiterging - so haben es die Menschen um ihn herum, die ihn geliebt haben, erfahren –, dass der Tod für uns ein Doppelpunkt ist und kein Endpunkt, dass wir Bilder davon haben, dass es bei Gott eine Zukunft gibt, die über dieses Leben hinausgeht, das ist ein großes Gottvertrauen und ich wünschte, dass mehr Menschen auch in diesem Vertrauen leben und dann auch sterben könnten.
    Florin: Sie haben in vielen Interviews vor denen gewarnt, die das christliche Abendland benutzen, um zum Beispiel eine Front aufzumachen gegen den Islam. Andere Kirchenvertreter haben das auch getan, auch Vertreter der Katholischen Kirche. De facto aber sitzt die AfD mit einem zweistelligen Ergebnis bei der Bundestagswahl im Bundestag. Welche Lehren ziehen Sie daraus, dass doch diese Warnungen offenbar nicht verfangen?
    "Mit der Angst müssen wir offensiv umgehen"
    Käßmann: Die Lehre kann nur sein, dass wir noch mehr Gespräch suchen müssen, mit den Menschen zu reden haben. Ich erlebe, dass das sehr schwer ist – muss ich auch sagen – mit Menschen, die nur über Abgrenzung sich definieren können. Mit dieser Angst – ich glaube, dass es eine angstgetriebene Position ist – müssen wir offensiv umgehen und das funktioniert meines Erachtens nur durch Begegnung.
    Florin: Aber offensiv umgehen, das heißt oft moralisieren, im Grunde sagen: 'Du darfst das aber jetzt nicht denken oder du darfst diese Partei jetzt nicht wählen.'
    Käßmann: Das habe ich nicht gesagt, sondern ich habe gesagt, dass wir Begegnung schaffen müssen, Begegnungsräume und Gesprächsräume. Und ich denke, dass, wenn ich beispielsweise Muslimen begegne … ich bin schon mit Muslimen zur Schule gegangen, also, das war in der Welt, in der ich aufgewachsen bin, damals schon, als ich jung war, eine Realität. Und da sind solche Ängste überhaupt nicht erst entstanden, weil man sich kannte.
    Florin: Und Sie meinen, damit könnten Sie jemanden, der heute Angst vor dem Islam hat, vor dem Kalifat – oder was da auch immer an Angstbildern heraufbeschworen wird –, damit könnten Sie jemanden überzeugen, dass Sie sagen, jetzt triff dich mal mit einem Muslim und dann wird es gut?
    Käßmann: Also, ganz so simpel sehe ich es tatsächlich nicht, wie Sie es jetzt andeuten. Das ist ja klar. Aber ich habe das erlebt zwischen Kirchengemeinden und Moscheegemeinden, dass Begegnung Fremdheit zurücknimmt, dass du einander fragen kannst: Wie seht ihr das eigentlich mit eurem Glauben? Wer ist Mohammed für euch? Wer ist Jesus für euch? Und dann sollst du natürlich auch erklären: Wer ist Jesus für dich und was bedeutet dir das? Ich fand solche Gespräche immer bereichernd. Und, wenn man sich ein bisschen kennt, dann kommt auch diese Hemmschwelle ein bisschen herunter, dass man einander auch wirklich fragen kann: Was bedeutet das? Und ich denke, dass das die einzige Form ist. Ich habe damals Christian Pfeiffer, als er Justizminister in Niedersachsen war, sehr bewundert. Der ist in Moschee-Gemeinden gegangen und hat mit den Männern in den Moschee-Gemeinden gesprochen über die Wahrnehmung ihrer Ehefrauen und Töchter und die Rechte in unserem Land und was es bedeutet. Da wird nicht mit dem Finger gezeigt, sondern das Gespräch gesucht. Und ich denke, das ist notwendig, aber genauso ist es notwendig, mit Menschen, die bei Pegida mitlaufen, zu sprechen, wenn sie es denn zulassen und einen nicht gleich niederbrüllen.
    "Ich sehe nicht, wo die evangelische Kirche moralisiert"
    Florin: Es ist ganz auffällig, wir merken das auch in Hörerzuschriften, dass gerade die Evangelische Kirche sehr oft den Vorwurf zu hören bekommt, da geht es um Moral, ums Moralisieren. Manche sprechen auch von Hypermoral. Womit erklären Sie sich diese Moral-Allergie?
    Käßmann: Ja, erst mal sehe ich gar nicht, dass die evangelische Kirche moralisiert. Ich finde das immer einen ganz merkwürdigen Vorwurf, weil wir …
    Florin: Aber Sie kennen ja den Vorwurf.
    Käßmann: Ich kenne den Vorwurf, nur, wenn Sie Mitglied der Evangelischen Kirche sind, dann wissen Sie, dass unsere Kirche wirklich viele Meinungen unter einem Dach beherbergt. Ich wüsste gar nicht, wo jemand aus der Kirche ausgeschlossen wird, wegen welcher Meinung. Das kann ja nur sein, wenn er jemand anderem das Lebensrecht und die Lebenswürde abspricht. Ansonsten gibt es in der Evangelischen Kirche eine große Vielfalt und es gibt keine Pfarrer mehr, die von der Kanzel mit erhobenem Zeigefinger den Menschen erklären, wie sie zu leben haben. Aber, dass die Evangelische Kirche Fragen stellt, Fragen stellt, wie Menschen meinen, dass sie andere aus unserem Land werfen können, die auf der Flucht hierher kommen, dass die evangelische Kirche Fragen stellt zur Frage Rüstungsexporte, die bis nach Syrien gehen und dann wollen wir keine Flüchtlinge aus diesem Krieg aufnehmen, ich finde, das ist für die evangelische Kirche angemessen und richtig.
    Florin: Also, noch mal: Womit erklären Sie sich dann diese Moral-Allergie? Weil die Position Ihrer Wahrnehmung nach so unbequem ist, Waffenexporte zu kritisieren oder Hass auf Flüchtlinge zu verdammen?
    Käßmann: Ja, weil gerade bei denen, die wirklich Hass auf Flüchtlinge, auf anders Denkende, anders Glaubende verbreiten, wahrscheinlich diese Botschaft der Nächstenliebe des barmherzigen Samariters eine totale Provokation ist. Und da finde ich manchmal interessant, dass Jesus von Nazareth heute noch provoziert.
    Ein weiblicher Helmut Schmidt?
    Florin: Sie werden demnächst 60. Wie müssen wir uns Margot Käßmann mit 80 vorstellen?
    Käßmann: Ach, ich weiß nicht, ob ich mit 80 noch lebe. Habe ich keine Ahnung.
    Florin: Werden Sie eine Art weiblicher Helmut Schmidt?
    Käßmann: Nein, ganz bestimmt nicht. Also, das kann ich mir nicht vorstellen. Wissen Sie, ich habe ja die große Freiheit jetzt. Meine Töchter sind alle berufstätig. Die können sich alle selbst versorgen. Und ich freue mich, wenn ich für meine Enkel da sein kann, werde sicher noch ein Buch schreiben, das eine oder andere – was auch wieder Leute nerven wird. Aber das ist meine Freiheit zu gucken, wie ich das Leben gestalte. Ich weiß es noch gar nicht ganz genau. Ich weiß nur, dass ich mich darauf freue, dass ich dieses Privileg dieser Freiheit habe.
    Florin: Aber, Hand aufs Herz, so ganz ohne Öffentlichkeit werden Sie es nicht schaffen, oder?
    Käßmann: Das glauben jetzt Sie - schauen wir mal.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.