Donnerstag, 18. April 2024

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Metropolis auf Sand

"Soweit diese riesige Stadt aus Stein besteht, ist sie fast noch wie einst. Hinsichtlich der Bewohner gleicht sie längst einem Irrenhaus. Im Osten residiert das Verbrechen, im Zentrum die Gaunerei, im Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in allen Himmelsrichtungen wohnt der Untergang" - das schrieb Erich Kästner im Jahre 1930 über jene Stadt, die schon seit der Jahrhundertwende alle Extreme in sich vereint: Berlin. Prunkvolle Straßen, machtvolle öffentliche Bauten, luxuriöse Geschäfte, Theater: auch Theater, wo Buletten und Enge und "Berliner Schnauze" zusammengehören.

Von Angelika Schrobsdorff, Prof. Herbert Kundler und Prof. Peter Steinbach | 18.04.2009
    Alfred Kerr und Walter Benjamin, Walter Mehring und Alfred Döblin, Friedrich Hollaender und Marlene Dietrich, Bertolt Brecht und Ernst Busch, Wolfgang Langhoff oder Max Reinhardt, sie haben Berlin geliebt und geschmäht. Ihr Heimweh nach dem Kurfürstendamm, nach den Linden hat sie - wo auch immer - eingeholt.

    Was machte Berlin im 20. Jahrhundert aus? Wie hat sich diese Stadt im Schatten zweier Weltkriege verändert? Wie hat das Leben in der geteilten Stadt nach 1945 ihre Bewohner geprägt? Die Lange Nacht begibt sich mit der Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff, dem Historiker Peter Steinbach und dem Radiomann Herbert Kundler in persönlicher Erinnerung, legendären Originaltönen und mit Musik auf einen Jahrhundertspaziergang durch Berlin.


    Die Autoren:

    Angelika Schrobsdorff

    wurde 1927 in Freiburg im Breisgau geboren. Sie musste 1939 mit ihrer jüdischen Mutter ins Exil nach Sophia gehen und kehrte 1947 nach Deutschland zurück. 1971 heiratete sie in Jerusalem Claude Lanzmann, lebte danach in Paris und München und beschloss 1983, nach Jerusalem zu gehen.

    "Berlin habe ich erst kennengelernt, als ich das Buch über meine Mutter schrieb und mich notgedrungen mit dieser Stadt beschäftigen musste. Es war ihre Stadt gewesen, die sie geliebt hatte und die mir nach Jahren des Heimwehs, dann des Hasses, dann der Abwehr, gleichgültig geworden war. Ich war gezwungen, meiner Mutter, einem Ausbund an Temperament, Lebenslust und Wissbegierde, durch die Straßen, die Jahre, die Epochen und Milieus, die sie von 1893 bis 1939 durchwandert hatte, zu folgen: von der warmen, dumpfen Enge des jüdischen Textilmilieus, in das sie hineingeboren wurde, über Literaten- und Künstlerkreise bis in die frostige Atmosphäre des preußischen Junkerstandes, in den sie mich hineingeboren hat; von der behaglich hässlichen Parterrewohnung in Charlottenburg bis in die modern oder antik eingerichteten Villen Dahlems, Grunewalds und Wannsees; von den behäbigen Familiencafés und Operettenmusik bis in die maßlose Vielfalt des Berliner Kultur- und Amüsierbetriebs; vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis in das nationalsozialistische "Dritte Reich", vom Glück ins Unglück, von der Leidenschaft in den Überdruss, von einem christlichen Mann zum anderen, von einem Mischlingskind zum anderen. Sie hat zu meiner Verzweiflung nichts ausgelassen, meine Mutter, sie hat mir das Schreiben sehr schwer gemacht.

    Es begann bereits mit der Jahrhundertwende, bei der sie sieben Jahre alt war - ein bezaubernd hübsches, rundes Kind mit rotbraunen Locken und jenen riesigen, dunklen Augen, von denen ein späterer Verehrer sagte. "Wenn man in die hineinfällt, kommt man um." Das Kind, das meine Mutter war, sah ich vor mir, aber das Berlin der Jahrhundertwende! Was stelle ich mir darunter vor?
    Meine Erinnerung reicht bis in mein zweites Lebensjahr zurück. Sie besteht nicht aus zusammenhängenden Abläufen, sondern aus schemenhaften Bildern, die aber plötzlich in einem unbedeutenden Detail so eindringlich werden können, dass ich nicht sicher bin, ob sie mir von der Erinnerung oder aus einer Erzählung überliefert wurden.

    Wir wohnten damals in Wannsee, in der Lindenstraße, einer abschüssigen Straße, an deren höchsten Punkt unser Haus stand. Ich sehe einen ungewöhnlich großen, asymmetrischen Raum, der mit Parkett ausgelegt ist. Auch einen schwarzen, aufgeklappten Flügel sehe ich und eine lange, gepolsterte Bank, die vor der Fensterwand zur Terrasse steht. Eine Treppe verbindet den Raum mit der oberen Etage, in der sich Bettinas und mein gemeinsames Kinderzimmer befindet. Es hat bemalte Wände, große Motive, von denen ich nicht mehr weiß, was sie darstellten, nur der Farben entsinne ich mich noch genau: ein klares Blau, Gelb und Orange.

    Der Garten ist groß und senkt sich mit der Straße. Es stehen viele Bäume darin, und das Gras ist dicht und hoch. Die Beerensträucher sind im hinteren Teil des Gartens, einem schmalen Streifen, der sich an die Rückseite des Hauses anschließt. Die Terrasse sehe ich deutlich und nie ohne meine Großeltern, die zierliche, schwarz gekleidete Minna mit dem schmalen, dunklen Gesicht und dem eisengrauen Haar und den kleinen, rundbäuchigen Daniel mit der rosa Glatze und der Warze unterhalb des linken Mundwinkels. Sie sitzen an einem runden Tisch unter einem Sonnenschirm, der - aber das kann ich auch später dazugedichtet haben - Muster und Farben eines Fliegenpilzes hat.

    Als ich etwa zweieinhalb Jahre alt war, verließen wir Wannsee. Ich hatte meiner jüdischen Mutter den Weg in die preußische Junkerfamilie geebnet, so wie mein Bruder, zwölf Jahre zuvor, seinem christlichem Vater den Weg in die jüdische Familie geebnet hatte. Meine Eltern hatten geheiratet und wir zogen in ein vornehmes Haus in Berlin-Grunewald.

    Aus Else war Frau Doktor Schrobsdorff geworden, eine Dame mit allem, was dazugehört, aber ohne deren Allüren. Ihr Ankleidezimmer war gefüllt mit seidener Unterwäsche, Kleidern für jede Saison und Gelegenheit, Mänteln aus Stoff und aus Pelz, Schuhen und Sandalen mit hohen Absätzen und Hüten mit breiten Krempen, Federn und Schleiern. Ihr Haar hatte den neuesten Schnitt, ihre Lippen waren geschminkt, ihre Fingernägel rot lackiert. Sie war so schlank geworden, wie es ihr gedrungener Körperbau, und so modisch, wie es ihr Interesse zuließen. Aber sie hatte nie die Figur und die geschliffene Eleganz, die beeindruckten. Da war immer eine Locke, die sich nicht bändigen ließ, abgesprungener Nagellack, verrutschte Strumpfnähte. Im Grunde machte sie sich wenig aus Mode und Kosmetik und überhaupt nichts aus Schmuck.

    Ich war zehn Jahre alt, als ich Berlin verlassen musste und als ich es wiedersah, waren all die, die ich geliebt hatte, tot. Mit ihnen war Berlin für mich tot. Ich habe nie wieder versucht es zum Leben zu erwecken.

    In einem Heft fand ich neulich eine Notiz von mir. Ich muss sie kurz nach der Wende und einer langen Besichtigungsfahrt durch Ost- und West-Berlin geschrieben haben: "Ich sehe zum ersten Male wie groß und auch schön Berlin einmal war. Ich verstehe zum ersten Male, warum man Berlin so geliebt hat, warum meine Mutter, warum die deutschen Juden dort so glücklich waren."

    Literatur
    Schrobsdorff, Angelika: 'Du bist nicht so wie andre Mütter'. Die Geschichte einer leidenschaftlichen Frau. 1994. DTV

    Die heute in Jerusalem lebende Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff schreibt über ihre Mutter, mitfühlend, voller Bewunderung und doch nicht ohne Kritik. Else Kirschner wird zu Beginn des Jahrhunderts als Tochter reicher jüdischer Geschäftsleute in Berlin geboren. Sie erlebt eine glückliche Kindheit, und später dann, zu einem schönen, charmanten jungen Mädchen herangewachsen, Liebe, Leidenschaft, Eifersucht. Die zwanziger und dreißiger Jahre bedeuten für sie Urlaubsreisen, Bälle, Theater, Konzerte. Mit dem Sieg der Nationalsozialisten kommt die Katastrophe: Vertreibung, Exil, Armut, Elend, Krankheit und Tod.
    weitere Titel:

    - Der Geliebte
    - Grandhotel Bulgaria
    - Die Herren
    - Jericho
    - Jerusalem war immer eine schwere Adresse
    - Die kurze Stunde zwischen Tag und Nacht
    - Die Reise nach Sofia
    - Der schöne Mann und andere Erzählungen
    - Spuren
    - Von der Erinnerung geweckt

    Peter Steinbach, Historiker

    Geboren 1948. Professor für Politikwissenschaften und ihre historischen Grundlagen an der FU Berlin.


    "Berlin macht mich als Historiker bei jedem Stadtspaziergang auf eine merkwürdige Weise traurig und zugleich immer wieder aufs neue süchtig. Denn es gibt keinen Platz, kein Haus, keine Straße und keinen Ort, die sich nicht durch eine überbordende Fülle historischer Bezüge und durch mich Imme wieder erregende Erinnerungen auszeichnen. Hinter der Oberfläche der Stadt und ihrer Straßenfronten wird immer wieder eine zutiefst widersprechende Geschichte spürbar. Das ist etwas anderes als der "schöne Schein des Bösen". Das ist der Urgrund einer städtischen Geschichte, die erst im Zuge von Systemumbrüchen und Systemwechseln das ausbildet, was sie auszeichnet: ein Schillern, eine Ambivalenz unvergleichlicher Art.

    Brecht, Walter Mehring, Kästner, Tucholsky, Heinrich Mann - alle stehen für Berlin und für das, was die Nationalsozialisten vertrieben, ausrotteten, entehrten. In der Tat, in der Weimarer Republik spiegelte sich in der deutschen Hauptstadt der Glanz einer kulturellen Blüte, die uns leicht übersehen lässt, dass der kulturelle Glanz der "Weimarer Kultur" auf unsicherem Boden gründete. Wer als Zeitgenosse vor allem für seine Existenz sorgen muss, hat keine Freude an glanzvollen Theateraufführungen. Er denkt an seinen ganz persönlichen Alltag, an die Not des Tages. Er verliert seinen Optimismus. Der galt als typisch berlinerisch. Immerhin lautete das Motto des Eckenstehers Nante, eines Berliner Originals und optimistischen Sinnbilds: "Lebenslauf, ick erwarte dir".

    Optimismus erklärt die Berliner Geschichte nach der Machtergreifung aber nur zum Teil. Wir finden vor allem die Aufbruchstimmung der Nationalsozialisten, denen die Straße gehört, ein Optimismus, der trunken machte.

    Er schlug sehr schnell in Machtgefühl und Machtgetöse um, das in einer entregelten Diktatur den Alltag bestimmte. Jeder kleine Privatstreit war bald zu politisieren. Wohnungen wurden geräumt, weil man die freien Wohnungen haben wollte, aber nur Erfolg haben konnte, nachdem man deren Bewohner als politisch unzuverlässig, als Juden, als Hörer von Auslandssendern denunziert hatte."

    Olympiade einschließlich oder Olympia-Fanfaren

    "Dieser bombastische Schwulst, dieses Bekenntnis zu Berlin und seinem Reichssportfeld mit Totenkultbühne kann nicht darüber hinweg täuschen: Berlin verkörperte geradezu alles, was Hitler verabscheute. Zwar war Berlin dem großen Zerstörer der Stadt in der Mitte der Jahre wie "eine Mischung aus Warenhaus und Hotel" erschienen, mithin als Spiegelbild einer verabscheuungswürdigen "modernen Kultur". Hitlers Großstadtvision orientierte sich am Untergang von Rom, dem, wie es ihm vorkam, jahrhundertelangen Symbol für die Bestimmung einer verderbten, kraftlosen, faulen und dekadenten Kultur. Drohend und düster spekulierte Hitler: "Würde das Schicksal Roms Berlin treffen, so könnten die Nachkommen als gewaltigste Werke unserer Zeit dereinst die Warenhäuser einiger Juden und die Hotels einiger Gesellschaften als charakteristischen Ausdruck der Kultur unserer Tage bewundern."

    Berlin war vor allem die Stadt von Hitlers Architekten Albert Speer, sieht man von den größten Zweckbauten ab, die innerhalb kurzer Zeit unter Aufsicht durch andere Architekten in Berlin entstanden: das Ministerium für Göring, geschaffen von dem Architekten Sagebiel, das Flughafengebäude in Tempelhof, das Olympiagelände in Charlottenburg, die Neue Reichskanzlei in der Voßstraße und - bis heute unter den Trümmern des Teufelsberges begraben - die "Fakultät für Auslandswissenschaften", wo eine Herrschafts- und Unterdrückungselite herangezogen werden sollte, die Osteuropa unterwerfen und aus Berlin die Welthauptstadt Germania machen sollte.
    Speer hatte seine Hand im Spiel, wenn es um die theatralische Herrschaftsarchitektur ging, bis zu Errichtung eines Lichtdomes mit Hilfe von Scheinwerfern der Fliegerabwehr.

    Doch der Berliner ließ sich nicht tief beeindrucken: Göring? Ein Reichsschellenaugust. Goebbels? Ein Maul, so groß, dass ein Besen quer hineinpasste. Generäle? Lamettafritzen.
    Vorsicht, Feind hört mit, das las man an vielen Ecken. Das war das Erscheinungsbild normaler Diktaturen, die nur auf Angst Stabilität zu gründen vermögen.

    Viele Grundsätze wurden verraten. Mehr sein als Schein? Denkst! Jedem das Seine? Wenn man! Berlin im Größenrausch? Na denn!

    Deshalb ist es weiterhin wichtig und für die Stadt, die sich in Mahnmalsdebatten verlieren kann, vielleicht sogar lebensnotwendig, an Probst Grüber zu erinnern, der in den sechziger Jahren vor einer geschichtslosen Stadt warnte, weil sie leicht Hysterie als Folge des Vergessens zeigen könnte. Bis heute ist die ehemalige Reichshauptstadt Berlin so eine zeitgeschichtlich geprägte und historische bewusste, manchmal quälend bewusste Stadt geblieben... "

    Literatur:
    Es war einmal. Warschau im Herbst 1939 , NEUE PRESSE, P.- 1995
    Geschichte der deutschen Literatur, Bd.5 Von der Weimarer Republik bis 1945, Bd.6 Von 1945 bis zur Gegenwart Beck'sche Reihe, Bd.1061 Lexikon des Widerstandes 1933-1945
    Der kleine Großvater
    Widerstand im Widerstreit
    Mein wunderbares Schattenspiel, 4 Cassetten
    Widerstand gegen den Nationalsozialismus , Serie Piper
    Widerstand und Opposition in der DDR 1949-1989


    Prof. Herbert Kundler, Publizist

    Wir erinnern in der Langen Nacht auch an den verstorbenen ehemaligen Redakteur und Autor beim RIAS Berlin, zuletzt stellvertretender Intendant beim RIAS.

    "Wer Jahrzehnte in Berlin gelebt hat, der wird, so sehr ihm auch so unvergessliche Ereignisse wie die Blockade Westberlins, die große Freiheitskundgebung mit Ernst Reuter vor dem Reichstag, der Aufstand des 17. Juni, der Bau der Mauer am 13. August und schließlich deren Öffnung und die Wiedervereinigung der geteilten Stadt vor Augen stehen, die "Stunde Null" nicht aus dem Gedächtnis verlieren.

    Jeder hat sie anders erfahren. Ich lebte bereits illegal in einem Kellerzimmer in Neu-Westend. Immer lauter drang der Kanonendonner aus dem Osten herüber, die Botschaft des nahenden Endes. Niemand hat die Tage und Nächte vor der Eroberung Berlins erschütternder und präziser beschrieben als Theodor Plivier:

    "Die sowjetischen Batterien standen im Bogen um den Stadtkern herum ... der brennende Himmel über der Stadtmitte wurde gespeist von immer neu aufbrechenden Detonationen ... Tote überall, von Panzern und Lastwagen überfahren und in den aufgerissenen Straßengrund gewalzt ..."
    Berlin kapitulierte am 2. Mai 1945 um 15 Uhr. Bis zum Abend nahmen die Sowjettruppen über 70.000 Soldaten und Offiziere gefangen.

    Noch zwei Tage zuvor hatten Bombensplitter das Fenster meiner Bleibe durchschlagen und mich, wie ein Wunder, nicht getroffen. Nun wagte ich mich erstmals wieder auf die Straße. Ein paar Häuser weiter winkte ein väterlicher Freund, Hugo Thienhaus. Im I. Weltkrieg hatte er beide Beine verloren. Auf zwei Prothesen stand er vor seinem Gartentor, ein Mann von mächtiger Gestalt. Außer sich vor Freude rief er "Das Schwein ist tot!". Er hatte Hitler gehasst und nicht erst in den berühmten "fünf Minuten vor zwölf" die Fronten gewechselt, als der Spruch die Runde machte "Tausche großes Bild von Hitler gegen kleines Brot von Wittler...". Manche betranken sich vor dem Untergang des 1000jährigen Reiches, damit die Soldaten der Roten Armee im Weinkeller leere Regale vorfänden. Plötzlich standen Wohnung leer: NS-Funktionäre waren überstürzt in den Westen geflohen, während als letztes Aufgebot ein "Volkssturm" aus Jugendlichen und zuvor "Wehrunwürdigen" Straßenbarrikaden ins Pflaster rammen sollte.

    "Stunde Null" - und eine neue Zeit begann: Befehl des Militärkommandanten und Chefs der Besatzung von Berlin, Generaloberst Bersarin: "Bis zur Herausgabe besonderer Anweisungen ist in der Stadt Berlin nach Moskauer Zeit zu arbeiten." Und wieder Brandgeruch. Er kommt aus den Wohnungen: In Panik verbrennen Familien ihre Hakenkreuzfahnen.

    Keine Wasserversorgung, kein Strom, keine Verkehrsmittel - die Stadt, die 1939 bei Kriegsausbruch 4,3 Millionen Einwohner hatte, scheint sich in hunderte von kleinen Dörfern aufzusplittern. Auf dem Mittelstreifen der Reichsstraße und andernorts Plakate der Russen: "Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk aber bleibt bestehen".

    Aus unerfindlichen Gründen werde ich, noch keine 20 Jahre alt, Minibürgermeister im Kiez. Die Angst vor Vergewaltigungen geht um. Ich hole die Militärpolizei, die gegen eine streunende Soldateska eingreift, zornig darüber, dass Ausschreitungen das Ansehen der siegreichen Roten Armee schädigen. Doch Uhren und Fahrräder wechseln die Besitzer. Aufgeregte Anfragen: "Da ist ein SS-Mann getürmt, der wollte einen Anzug meines Mannes und hat die Uniform dagelassen! Wie kriegen wir die weg, ohne dass uns etwas passiert? Vieles passiert! Im Kiez wird ein Elektronikexperte "abgeholt" - man hat nie wieder vom ihm gehört. Der Buchhändler will Rat, wie er seine Nazi-Literatur verschwinden lassen kann. In einer Ruine hat jemand Waffen versteckt, ein Nachbar hat es beobachtet. Nun fürchtet er, dass im Fall der Entdeckung die Ruine samt seinem Haus in die Luft gesprengt wird. Die Schlangen vor den Wasserpumpen sind die Nachrichtenbörse. Manche schicken die Großmütter zum Wasserholen, damit sie vorgelassen werden.

    Ausgemergelte, neue Gesichter: Ausgebombte - Luftangriffe und Artilleriebeschuss haben 60 Millionen Kubikmeter Schutt hinterlassen. Die Zahl ist abstrakt, und wir kennen sie damals noch nicht. Flüchtlinge und Ausgewiesene aus den Ostgebieten irren in den Trümmern umher, Wehrmachtsangehörige, die der Gefangenschaft entgangen sind - wo sie ihre Familie, Freunde, Bekannte suchen, stehen die Häuser nicht mehr. Ein halbes Jahrhundert und ein paar Jahre ist das her. Für die, die in die neue Bundeshauptstadt umziehen, eine ferne Legende..."

    Herbert Kundler
    RIAS Berlin.
    Eine Radiostation in einer geteilten Stadt
    Dietrich Reimer, 2002

    Literatur:
    • Walter Benjamin, Beroliniana, Union Verlag Berlin, Mit historischen Fotos
    In diesem Buch sind alle Texte zusammengeführt, die der Berliner Walter Benjamin in abgeschlossener Form zwischen 1929 und 1938 über seine Heimatstadt verfaßt hat: "Also ich will heute mit euch über die Berliner Schnauze sprechen: die sogenannte große Schnauze ist doch das erste, was allen einfällt, wenn man vom Berliner redet. Der Berliner, sagen die Leute in Deutschland, na ja, das ist eben der Mann, bei dem alles zu Hause anders und besser und schlauer gemacht wird wie bei uns. Wenn man´s ihm nämlich glaubt. Deswegen haben sie auch den Berliner nicht gern, wenigstens tun sie so. In Wirklichkeit ist es doch sehr schön, wenn man eine Hauptstadt hat, auf die man ein bischen schimpfen kann.
    Aber stimmt das nun überhaupt mit der Berliner Schnauze? Es stimmt und es stimmt nicht. Jeder von euch kennt natürlich eine Menge Geschichten, wo diese Schnauze so weit aufgrissen wird, daß das Brandenburger Tor darin Platz hätte. Da gibt es zum Beispiel diese schöne Geschichte von dem Herrn, der große Eile hat, sitzt in der Pferdedroschke, es geht ihm zu langsam: `Mein Gott, Kutscher, können Sie denn wirklich nicht schneller vorwärts kommen?´ `Det schon, aber ick kann doch der Ferd nich jut alleene lassen´."
    • Marion Titze, Schillers schönes Fieber, Ammann Verlag, 1999
    • Alfred Kerr, Wo liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt 1895- 1900, Aufbau Verlag 1997
    • Dieter und Ruth Glatzer, Berliner Leben 1900 . 1914, Eine historische Reportgae aus Erinnerungen und Berichten, Rütten&Loening Verlag1986, Band 1 und 2
    • Heinz Knobloch, Im Lustgarten. Geschichte zum Begehen, Mitteldeutscher Verlag 1988
    • Heinz Knobloch, Herr Moses in Berlin. Auf den Spuren eines Menschenfreundes, Buchverlag Der Morgen 1979

    Links zu Berlin:

    Stadtführer Berlin

    Von der Kriegsbrache zur Großbaustelle Der Anfang vom Ende des alten Potsdamer Platzes kam mit der Nazi- und Kriegszeit: Nach der NS-"Machtergreifung" 1933 wehten Hakenkreuz-Fahnen über ihm. Ein von Hitler verfügter Baustop sollte hier freie Bahn für die Pläne seines "Leibarchitekten" Albert Speer zur Umgestaltung Berlins in die neue Reichshauptstadt "Germania" nach dem Willen des größenwahnsinnigen "Führers" schaffen.

    Das neue Stadtinformationssystem will Schritt für Schritt ein umfangreiches Inhaltsangebot über alle Lebensbereiche aufbauen.

    Potsdamer Platz
    Eine Zeitreise

    Der Potsdamer Platz[ liegt zwischen den Bezirken Mitte und Tiergarten im Stadtzentrum Berlins. Seinen Namen erhielt der aus einer Grünanlage entstandene Platz nach dem Potsda- mer Tor, das Karl Friedrich Schinkel 1824 erbaute. Der Potsdamer Platz war in den zwanziger Jahren ein besonders wichtiger Verkehrsknotenpunkt der Stadt, ein weltstädtischer Treffpunkt moderner Verkehrsströme.

    Der Potsdamer Platz ist zur Zeit Europas größte innerstädtische Baustelle und fasziniert jeden, der sie vor Ort sieht. All diejenigen, die keine Möglichkeit haben, ab und zu diese Baustelle zu besuchen, können sich hier Informieren und aktuelle Bilder ansehen.

    Stadtlandschaften: cityscope präsentiert den online-Panoramablick auf ausgewählte Stadtlandschaften und dokumentiert so aktuelle Architekur und bauliche Veränderungen. An drei Standorten dokumentieren Kameras die Architektur und das Baugeschehen in der neuen Hauptstadt.

    Weitere Literaturtips:

    Gisela Buddée
    Berliner Spaziergänge

    Zwischen Ku'damm, Mauerpark und Prenzlauer Berg - auf 10 Spaziergängen unterwegs durch die Geschichte und Gegenwart der Hauptstadt. Merian live!
    Travel House Media

    Pierre Adanis (Fotograph)
    Der Potsdamer Platz. Die größte Baustelle der Welt.
    Nicolais Verlag 1999
    Klaus Hartung
    Berlin. Zwischen den Zeiten.
    Nicolai Verlag 1996
    Dieter Huhn:
    Von Kreuzberg nach Pergamon und andere Spaziergänge in Berlin
    Verlag Koehler & Amelang, München 1999
    280 Seiten ISBN 3-7338-0226-8
    Frauen an der Spree:
    Ein Spaziergang durch die Geschichte.
    Im Auftr. d. Berliner Geschichtswerkstatt
    hrsg. v. Cornelia Carstens, Stefanie Höver, Stephanie von Ow u. a..
    1999.
    BeBraVerlag
    Otto Friedrich
    Morgen ist Weltuntergang. Berlin in den 20er Jahren
    Nicolai Verlag 1998
    Erica Fischer
    Aimee und Jaguar. Eine Liebesgeschichte, Berlin 1943.
    DTV 1998
    Kordon, Klaus:
    Hundert Jahre und ein Sommer.
    Roman. 1999. ab 14 Jahre
    Beltz Verlag
    Die Studentin Eva Seemann schreibt, kurz bevor das 20. Jahrhundert zu Ende geht, einen Brief an ihre längst tote Ururgroßmutter Hermine. Das Haus, in dem Hermine als Dienstmädchen gearbeitet hat, steht noch. Evas Großvater Robert, Hermines Enkel, wohnt dort. Jetzt soll das hinfällige Gemäuer voller Geschichte abgerissen werden. Eva versucht zusammen mit ihrem Freund Robert und anderen jungen Leuten, das Gebäude vor dem Abriss zu bewahren. Davon und von vielen anderen Geschehnissen des vergangenen bewegten Jahrhunderts erzählt Eva Hermine in ihrem Brief. Klaus Kordon setzt sein Projekt der Geschichtsschreibung in Romanen fort. Einen Bogen vom Kaiserreich bis ins wiedervereinigte Deutschland schlagend, setzt er ein ebenso anschauliches wie ergreifendes Bild unseres Jahrhunderts zusammen.
    R.W.B. McCormack
    Mitten in Berlin
    Feldstudien in der Hauptstadt
    Verlag C.H. Beck, München 2000
    200 Seiten ISBN 3-496-42150-4
    Saxe, Cornelia:
    Das gesellige Canape. Die Renaissance des Berliner Salons. 1999.
    m. Fotos v. Annett Ahrends im Text
    Quadriga Verlag
    Salons boomen wieder in der deutschen Hauptstadt - beinahe wie vor zweihundert Jahren. Ob literarischer oder akademischer Salon, ob Teesalon, Atelier-Salon oder Salon in Beton - quer durch die Stadt, in Mitte, Charlottenburg, Prenzlauer Berg oder j.w.d. Die Sehnsucht nach Begegnung und Gespräch, mit Fremden, aber Gleichgesinnten, schafft überall neue Orte der Geselligkeit. Wie zu Zeiten der Henriette Herz und Rahel Varnhagen sind es in der Mehrzahl Frauen, die den Mittelpunkt der regelmäßigen Zusammenkünfte literarisch und künstlerisch interessierter Kreise bilden. Und wie damals bringen sie Menschen miteinander in Kontakt, fördern sie junge Talente, regen sie an, provozieren sie und werden selbst zum Stadtgespräch. Cornelia Saxe kennt die neue Berliner Salon-Kultur wie keine zweite. Sie zeichnet Porträts der wichtigsten Salonièren und ihrer wenigen männlichen Pendants, erzählt humorvoll und informativ von ihren Erlebnissen in dieser Welt halb öffentlicher, halb privater Geselligkeit und gibt wichtige Hinweise, wo man hin muß, wie man geladen wird, was einen erwartet.
    Andreas Steinhöfel:
    Beschützer der Diebe.
    CARLSEN Verlag
    Schauplatz dieses spannenden Krimis ist Berlin. Der Autor führt uns während der spannenden Handlung durch die Stadt, die er genauso facettenreich schildert wie die handelnden Personen.