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Mexiko zwischen Freiheit und Abhängigkeit

Einige Völker Lateinamerikas feiern 2010 den 200. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit. Doch die Geschichte der Befreiungsbewegungen ist facettenreich.

Der Historiker Lorenzo Meyer im Gespräch mit Peter B. Schumann | 16.05.2010
    So spricht der mexikanische Schriftsteller Octavio Paz in seinem Essay "Das Labyrinth der Einsamkeit" von einem "dauernden Bruch" und "dauerndem Suchen", denn den Revolutionen in Süd- und Mittelamerika folgten häufig neue Staatsstreiche und Diktaturen, die den Wandel in Frage stellten.

    Mit einer dreiteiligen Gesprächsserie über Mexiko setzen wir unsere diesjährige Lateinamerika-Reihe fort. Peter B. Schumann unterhält sich zum Auftakt mit dem Historiker Lorenzo Meyer.

    Peter B. Schumann: Mexiko begeht in diesem Jahr nicht nur das Bicentenario seiner Unabhängigkeit, sondern auch das Centenario seiner Revolution. Den Mexikanern ist es zwar relativ rasch gelungen, sich von den spanischen Kolonisatoren zu befreien. Aber sie benötigten danach noch fast ein Jahrhundert blutiger Bürgerkriege, um einen Nationalstaat zu bilden. Auch der folgende Kampf um die Demokratie, der mit der Mexikanischen Revolution begann, dauerte nahezu ein weiteres Jahrhundert. Man könnte sogar sagen, dass er noch immer nicht abgeschlossen ist. Über die Ursachen für diesen endlosen Entwicklungsprozess und die historischen Wurzeln des politischen Systems wollen wir in dieser neuen Folge der Gesprächsreihe zum Bicentenario mit Lorenzo Meyer sprechen. Er ist Professor für Geschichte am Colégio de México, einer der angesehensten Universitäten des Landes.

    Herr Meyer, wenn Sie auf die 200 Jahre politischer Eruptionen und auf den gegenwärtigen Zustand der mexikanischen Demokratie blicken, gibt es dann für Sie einen Grund zum Feiern?

    Lorenzo Meyer: Ich glaube nicht, aber erinnern sollten wir uns an die beiden Ereignisse, um über ihre Bedeutung nachzudenken. Die Regierung der PAN und das offizielle Mexiko wollen groß feiern, obwohl die Regierung damit ein Problem hat: Sie steht rechts, und die Partei wurde 1939 gegründet, um die Politik von General Lázaro Cárdenas zu bekämpfen, dem besten Repräsentanten der Mexikanischen Revolution. Es ist also eine Ironie der Geschichte, dass die PAN sich jetzt gezwungen sieht, das zu feiern, was sie ursprünglich gar nicht wollte.
    Schumann: Das ist sicher ein besonders pikanter Aspekt dieser Feierlichkeiten. Aber gibt es nicht auch eine Schwierigkeit, den Beginn der Unabhängigkeit zu datieren?

    Meyer: Wir dürften sie eigentlich erst in elf Jahren feiern, denn erst 1821 trat sie in Kraft.

    Schumann: Ich muss unseren Hörern hier kurz erklären, dass sich 1810, also vor 200 Jahren, eine Heerschar von Mexikanern unter Führung von Miguel Hidalgo gegen die spanischen Kolonisatoren erhoben hat mit dem Ruf "Viva México!" Dieser sogenannte grito gilt als Auftakt des Befreiungskampfs und wird heute als Nationalfeiertag begangen.

    Meyer: Richtig. Und dieses Ereignis unterschied sich völlig von der entsprechenden Entwicklung im Nachbarland USA. Dort verlief der Unabhängigkeitsprozess ganz allmählich und veränderte die ökonomischen und politischen Strukturen durch Einfluss von innen. In Mexiko gab es keinerlei innere Anzeichen, die als Vorläufer einer Unabhängigkeitsbewegung gedeutet werden könnten. Sie wurde von äußeren Faktoren ausgelöst. 1808 besetzten die Franzosen unter Napoleon Spanien und lösten den König ab. Danach begann in Mexiko wie fast überall in Lateinamerika unter den Eliten der Kampf um die Nachfolge, um die Ausübung der Souveränität.
    Schumann: Es ging also um die Herrschaft im sog. Vizekönigreich Neuspanien , wie die spanischen Kolonien in den beiden Amerikas damals hießen. Aber worin unterschieden sich diese Eliten?

    Meyer: Ein Mexikaner machte am Anfang des 19. Jahrhunderts kaum einen Unterschied zwischen einem Spanier und einem Kreolen. Der eine war in Spanien, der andere war hier geboren. Doch die hier geborenen Kreolen fühlten sich von den Spaniern diskriminiert und versuchten, die Macht an sich zu reißen. Dabei ging es ihnen überhaupt nicht um einen nationalen Befreiungskampf, es war eher ein Staatsstreich. Sie vertrieben die Spanier, die bis dahin die Kontrolle über Wirtschaft, Kirche und Politik ausgeübt hatten.

    Schumann: Wodurch wurde dieser Machtkampf der beiden politischen Eliten zu einem Flächenbrand, Lorenzo Meyer?

    Meyer: In Mexiko begann in weniger als einer Woche ein Klassenkampf. Denn die Kreolen riefen einen Priester, Miguel Hidalgo, und dessen Gemeinde zu Hilfe. Und daraus entstand eine Volksbewegung, angeführt von diesem Priester und einigen Offizieren. Hidalgo rief die Indios, die an den Rand gedrängten Massen zum Kampf auf. So etwas hat es in keinem anderen Land Lateinamerikas gegeben. Und im übrigen dauerte es in Argentinien, Chile, Kolumbien oder Venezuela sehr viel länger, bis sich der Unabhängigkeitskampf in einen Klassen- und auch Rassenkampf verwandelte. In Mexiko entwickelte er sich in kürzester Zeit zu einem großen sozialen Konflikt.
    Schumann: Und zugleich zu einem Kampf gegen jene liberalen Ideen, die die Franzosen bei ihrer Invasion in Spanien verbreitet und die nun auch in Mexiko Anhänger gefunden hatten.

    Meyer: Die Unabhängigkeit Mexikos von 1821 basierte auf einer Übereinkunft zwischen den Kreolen, bei denen sich der reaktionärste Teil durchgesetzt hatte, und den Aufständischen, die geschlagen worden waren. Diese Kreolen lehnten die liberale Verfassung völlig ab, die inzwischen in Spanien galt. Sie waren gegen den Liberalismus und wollten zu den konservativsten Formen zurück.

    Schumann: Zur Monarchie.

    Meyer: Nicht nur zur Monarchie, die wollten sogar die Aufständischen. Aber die siegreichen Kreolen wollten Vorstellungen von Politik und Wirtschaft aus dem 18. Jahrhundert wiederbeleben. In Mexiko herrschte deshalb auch nach der Unabhängigkeit von 1821 Krieg: Diese äußerst konservative Elite bekämpfte die liberale Elite und zwar jahrzehntelang.




    Schumann: Die Liberalen siegten zunächst, aber die Konservativen ließen nicht locker und riefen nun die Europäer zu Hilfe. Und es geschah etwas Kurioses: Mexiko erhielt mit Maximilian einen Kaiser österreichischer Abstammung. Wieso denn das?

    Meyer: Die europäische Macht, die sich einschaltete, war Frankreich. Es wurde nun eine Person gesucht, die eine gewisse Legitimität besaß, und die Wahl traf auf einen Habsburger. Ich darf daran erinnern, dass die Vizekönige im amerikanischen Imperium der Spanier Habsburger waren. Mexiko war also vor der Unabhängigkeit bereits von Habsburgern regiert worden. Jetzt kehrten sie mit französischer Hilfe zurück: Mexiko erhielt seinen Kaiser Maximilian. Danach passierte jedoch folgendes: Der nordamerikanische Bürgerkrieg ging zu Ende, und die USA verlangten von Frankreich, den Kaiser nicht länger zu unterstützen. Die Liberalen setzten sich durch und bezwangen schließlich die Konservativen und ihren Kaiser Maximilian.
    Schumann: Welche Rolle spielte die Kirche in diesem Machtpoker?

    Meyer: Die katholische Kirche war in Mexiko sehr mächtig, viel mächtiger als in Chile und fast überall in Lateinamerika, denn sie besaß sehr viele Ländereien und sehr viel Kapital. Die Liberalen wollten nun diesen Grundbesitz nach europäischem Vorbild einschränken und die Wirtschaftskraft der katholischen Kirche wesentlich reduzieren.
    Schumann: Denn sie wollten einen weltlichen Staat durchsetzen.

    Meyer: Dadurch wurde Mexiko sogar zum weltlichsten Staat in ganz Lateinamerika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Kein anderes Land hat mit der katholischen Kirche so nachhaltig gebrochen wie Mexiko.


    Schumann: Und dennoch ist es ein katholisches Land geblieben. Auf das dreijährige Kaiserreich folgte wenig später die dreißigjährige Diktatur von Porfirio Díaz. Worin liegt deren Bedeutung?

    Meyer: Die Liberalen, die gerade gesiegt und die Kirche halb entmachtet hatten, schufen ein liberal-autoritäres Regime: formal demokratisch, aber in Wirklichkeit äußerst autoritär, mit General Porfirio Díaz an der Spitze. Ihm gelang es, eine gewisse nationale Einheit herzustellen, sodass Mexiko Ende des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal als eine Art Nationalstaat erschien.

    Schumann: Wie müssen wir uns diese formal demokratische Diktatur vorstellen?

    Meyer: Formal gab es Wahlen alle vier, später alle sechs Jahre. Porfirio Díaz musste sich immer wieder in Wahlen bestätigen lassen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass damals, im 19. Jahrhundert, alle Mexikaner wählen durften, egal ob sie arm oder reich waren. In Europa dagegen durfte nur wählen, wer einen Mindestbesitz vorweisen konnte. Trotzdem gingen in Mexiko die wenigsten zur Wahl, weil deren Ergebnis voraussehbar war.

    Schumann: Diese Beschreibung erinnert mich an die Herrschaft der späteren Regierungspartei PRI.

    Meyer: Natürlich. Das ist ja meine These. Ich habe immer wieder behauptet: Die PRI des 20. Jahrhunderts ist die Modernisierung der Diktatur des Porfirio Díaz. Sie weist die gleichen autoritären Merkmale auf, mit allerdings demokratischeren Formen. Sie führte jedoch etwas Wesentliches ein: den Wechsel an der Spitze. Warum scheiterte die 33-jährige Diktatur des Porfirio Díaz? Weil die Hauptfigur biologisch alterte und den Kreislauf der Eliten verhinderte. Daraus hat die PRI später gelernt: Sie ermöglichte den Wechsel. Die Gruppe an der Macht musste alle sechs Jahre abtreten. Es herrschte zwar dieselbe Partei, aber mit anderen Leuten. Das hat Don Porfirio nicht verstanden: Bei ihm änderte sich nichts, fast alle Gouverneure, Abgeordneten, Senatoren, Minister und Generäle wurden mit ihm alt.

    Schumann: War dieses sogenannte Porfiriat nicht auch die erste lange Etappe der Stabilität seit der Unabhängigkeit?

    Meyer: Díaz brachte Stabilität, und dadurch flossen europäische und nordamerikanische Investitionen ins Land. Und auch die mexikanische Elite investierte. Die Wirtschaft florierte. Aber die mächtige Oligarchie verstand es einfach nicht, die Nachfolge-Frage zu lösen. 1910 war Díaz 80 Jahre alt, und viele warteten seit Langem darauf, ins Machtgefüge der Elite aufzusteigen. Einer von ihnen begann die Mexikanische Revolution, nicht etwa Villa oder Zapata, sondern ein Großgrundbesitzer mit Namen Madero. Er trat mit dem Wahlspruch an: "Die Stimme muss echt sein." Am Anfang der Revolution stand also eine rein demokratische Forderung. Da sie jedoch nicht verwirklicht werden konnte, entwickelte sich - wie 1810, hundert Jahre zuvor - aus diesem Konflikt sehr rasch ein großer sozialer Kampf.

    Schumann: Herr Prof. Meyer, Sie haben gesagt: Die PRI ist die Modernisierung der Díaz-Diktatur. Können Sie das noch etwas präzisieren? Die Partei hat danach immerhin sieben Jahrzehnte lang Mexiko beherrscht.

    Meyer: Die Regierung von Porfirio Díaz und die PRI haben gemeinsame Wesenszüge. Beide handelten im Rahmen einer demokratischen Legalität, ihre Praxis war jedoch autoritär. Beide konzentrierten die gesamte Macht auf den Präsidenten. Beide stützten sich auf die Armee als Ordnungsfaktor. Aber es gab einen Unterschied: Nach Porfirio Díaz entstand eine Partei, was Díaz immer abgelehnt hatte. Sie hieß später Partei der institutionalisierten Revolution und bestand aus Versatzstücken des nordamerikanischen und englischen Parteiensystems sowie einer Prise Mussolini: eine Mischung aus demokratischen und antidemokratischen Elementen.
    Schumann: Doch am Anfang der Mexikanischen Revolution stand Francisco Maderos Idee einer Demokratie.

    Meyer: So ist es. Alle nannten sich Demokraten, Zapata, Villa, in allen Dokumenten war davon die Rede, aber jeder interpretierte sie anders. Madero war als einziger überzeugt von der Notwendigkeit sauberer Wahlen, eines parlamentarischen Systems, vom Wettbewerb unter den Parteien usw. Aber die anderen verstanden unter Demokratie Beseitigung der sozialen Ungleichheit und Aufteilung des Besitzes. Für den normalen Mexikaner jener Zeit galt Land als wichtigster Besitz, wichtiger als Eisenbahnen, Banken oder Fabriken. "Land" - das hatte fast etwas Metaphysisches genauso wie das Verlangen nach Aufteilung des Großgrundbesitzes.

    Schumann: Warum konnte eigentlich Francisco Madero seine demokratischen Vorstellungen nicht durchsetzen?

    Meyer: Die Rechte war nicht bereit, die sehr moderaten Vorschläge Maderos zu akzeptierten, und initiierte einen Militärputsch. Hätte es ihn nicht gegeben, dann wäre wahrscheinlich die Mexikanische Revolution ganz anders verlaufen. Die Rechte war einfach unfähig, in die Zukunft zu denken, und konspirierte gegen Madero, der im Februar 1913 ermordet wurde. Ein Teil der Armee stand auf ihrer Seite und wurde von den Vereinigten Staaten genauso unterstützt wie von den diplomatischen Vertretern Deutschlands, Englands, Spaniens und Frankreichs. Nach ihrer Meinung waren die Mexikaner noch nicht reif für so große Ideen wie die Demokratie.
    Schumann: Die Demokratie scheiterte also durch mangelnde Unterstützung von innen und außen. Deshalb ist die Mexikanische Revolution auch vor allem als erste große soziale Umwälzung des 20. Jahrhunderts bekannt geworden. Was veränderte sie in Mexiko?


    Meyer: Das hängt ganz vom Zeitpunkt der Betrachtung ab. Ende 1920 hörten die Kämpfe auf, und aus der Sicht von 1921/22/23 gab es immerhin eine neue Verfassung, die auch heute noch gültig ist. Die soziale Frage spielte eine große Rolle, eine Landreform war möglich, wurde aber nicht durchgeführt. Es war ein Schritt der Modernisierung Mexikos. Betrachten wir sie aus der Sicht der 1930er Jahre, als die Landreform wirklich angepackt wurde, kann man nur sagen: fantastisch. Präsident Lázaro Cárdenas ließ Millionen Hektar Land enteignen und den Campesinos übergeben. Er kündigte die Ölkonzessionen der englischen, nordamerikanischen und holländischen Gesellschaften, verstaatlichte den Energiesektor. Und er förderte entschieden die Entstehung von Gewerkschaften.

    Schumann: Das heißt: Lázaro Cárdenas konnte erst ein Jahrzehnt nach dem Ende der Kampfhandlungen die sozialen Ziele der Mexikanischen Revolution verwirklichen.

    Meyer: Genau. Doch nach Lázaro Cárdenas entwickelte sich das Land immer weiter nach rechts. Der neue Autoritarismus glich immer stärker dem von Porfirio Díaz. Es gab nur den uneingeschränkten Herrscher auf Lebenszeit nicht mehr, er wechselte alle sechs Jahre. Die PRI wurde zur Staatspartei...

    Schumann: ...zur Partei der institutionalisierten Revolution.

    Meyer: Und sie stützte sich auf die Gewerkschaften, auf eine Millionenbasis.

    Schumann: Wie die Peronisten in Argentinien.

    Meyer: Richtig. Aber interessanter als bei den Peronisten ist hier die Basis aus Campesinos, die gerade erst Land erhalten hatten und in ganz Mexiko organisiert waren. Eine treue Wählerschaft der PRI. Hinzu kamen die großen Industrie-Gewerkschaften und kleinere gewerkschaftliche Organisationen. Es war ein korporatives System mit dem Präsidenten im Zentrum und einer völlig erneuerten Armee. Auch sie im Dienst der PRI.
    Schumann: Ein solides Machtsystem, dessen Erhalt demokratische Verhältnisse nur stören würden.

    Meyer: Die PRI hielt sich stets für demokratisch und hat brav Wahlen auf allen Ebenen durchgeführt. Sie gingen auch nie verloren, selbst dann nicht, wenn oppositionelle Parteien auftraten. Wenn nötig, wurde das Ergebnis gefälscht. Dadurch wurden andere Parteien überflüssig.

    Schumann: Und wieso hat die mexikanische Gesellschaft dieses Spiel akzeptiert?

    Meyer: Weil die PRI ökonomisch ungeheuer erfolgreich war. Nach dem Zweiten Weltkrieg und bis 1982 expandierte die Wirtschaft. Die neuen Arbeitskräfte konnten absorbiert werden. Es wurde ein halbwegs funktionierendes Gesundheitswesen geschaffen, und es wurde das Bildungssystem erweitert. Die PRI legitimierte sich nicht durch Demokratie, sondern durch ihre ökonomischen Erfolge und den Ausbau des Sozialwesens.
    Schumann: Nach der Revolution wurde jene Partei gegründet, die heute die Regierung stellt: die PAN, die Partei der nationalen Aktion. War sie eine demokratische Alternative zur PRI?

    Meyer: Ja, die PAN wurde 1939 ins Leben gerufen: gegen den Reformer Cárdenas und mit dem Ziel sauberer Wahlen. Ihre Mitglieder stammten aus der städtischen Mittelschicht, waren Katholiken und Freiberufler: Ärzte, Ingenieure, Rechtsanwälte. Die Konservativen der Vergangenheit, des 19. Jahrhunderts kehrten als "PANista" wieder, demokratisch verbrämt. Sie zeigten zunächst große Sympathien für Franco, interessierten sich später für das politische System in den USA und in England. Es war eine Partei, die eigentlich nicht damit rechnete, an die Macht zu kommen. Sie wollten die Mexikaner erziehen und durch ihre ehrliche, bürgerliche, katholische Haltung eine Alternative darstellen zu den unehrlichen, populären "PRIista".

    Schumann: Aber die PRI ist letztlich nicht an der PAN gescheitert. Was hat zu dem Machtwechsel im Jahr 2000 geführt?

    Meyer: Ich sehe zwei Gründe für ihr Scheitern. Seit 1982 flaute die Schubkraft der mexikanischen Wirtschaft ab. Das Modell einer abgeschotteten Ökonomie wurde von Neoliberalismus und Globalisierung zerstört. Außerdem wurde die mexikanische Gesellschaft immer komplexer. Die städtischen Zentren wuchsen, und das Verlangen nach Demokratie wurde stärker. 1968 ließ die PRI in Mexiko-Stadt Hunderte von Studenten massakrieren, weil sie keine andere Antwort auf deren Forderungen kannte als den brutalen Einsatz der Armee. Das war wie in China, unser Tiananmen, bereits 1968, nur protestierte damals der größte Teil der Welt nicht.

    Schumann: Bei den Studenten-Protesten ging es ja zuerst nur um eine Hochschulreform. Doch sehr bald wurde daraus ein erneuter Versuch, Mexiko zu demokratisieren.

    Meyer: Sie verlangten echte Wahlen, aber in einem autoritären System glich dies einem Aufruf zur Revolution. Sie erreichten damit zunächst nichts. Erst in den 80er-Jahren gelang es der Linken, einen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufzustellen: Cuauhtémoc Cárdenas, den Sohn von General Cárdenas. Er hat wahrscheinlich bei den Wahlen von 1988 die PRI besiegt. Doch die griff wieder auf das bewährte Mittel des Wahlbetrugs zurück. Es fiel ihr nur jedes Mal schwerer, denn die mexikanische Gesellschaft hatte allmählich diese Fälschungen satt und war inzwischen durch die Medien auch besser informiert. 1988 fand der letzte große Wahlbetrug der PRI statt.
    Schumann: Er hat aber ihrem internationalen Prestige nicht geschadet.

    Meyer: Das ist interessant. Alle Welt wusste, dass es eine Wahlfälschung gegeben hatte. Und dennoch erhielt die damals gewählte Regierung der PRI die Unterstützung von Fidel Castro bis zur nordamerikanischen Regierung, sämtlicher europäischer Regierungen einschließlich Deutschlands und der Sowjetunion. Der PRI gelang es, quasi am Ende des Kalten Krieges, die antagonistischen Kräfte von rechts bis links in Mexiko um sich zu scharen.
    Schumann: Als Folge des Betrugs gründeten linke Politiker und Intellektuelle 1989 endlich eine eigene Partei, die PRD, die Partei der demokratischen Revolution. Hatte sie jemals eine Chance?

    Meyer: Die internationale Staatengemeinschaft war mit der PRI derart zufrieden, dass sie keinen anderen unterstützte. Das galt für den sozialistischen Block genauso wie für den kapitalistischen. Die mexikanische Linke wurde völlig allein gelassen und gründete die PRD. Sie hätte später, 2006, die Wahlen vielleicht gewinnen können, doch es stellten sich ihr sehr viele nationale und internationale Kräfte entgegen. Gegenwärtig macht die PRD, macht die mexikanische Linke eine sehr tiefe Krise durch.
    Schumann: Sie wurde 2006 erneut durch Wahlfälschung um die Präsidentschaft betrogen. Doch danach hat es bei ihren innerparteilichen Wahlen ebenfalls mehrfachen Betrug gegeben. Wie ist denn das zu verstehen?

    Meyer: Das ist eine Schande. Ein wichtiger Teil der PRD-Mitglieder kommt aus der PRI und besitzt tief verwurzelte Gewohnheiten, es sind linke PRIista. Sie haben sich 1989 mit der Figur von Cuauhtémoc Cárdenas identifiziert, ihre autoritären Verhaltensweisen jedoch nie abgelegt. Und deshalb haben sie sich im Machtkampf - nach dem Scheitern von 2006 - gegenseitig zu betrügen versucht. Es gibt zurzeit kein Mittel, diese Partei in Ordnung zu bringen. Ich glaube sogar, dass ein großer Teil der PRD längst von der Rechten kooptiert wurde. Denn die Partei lebt von der staatlichen Finanzierung. Sie braucht die Macht überhaupt nicht. Ihren meisten Führungsfiguren geht es gut. Sie wollen ihre Pfründen nicht aufs Spiel setzen. Mit dem Status quo sind sie zufrieden, nicht aber das Land und nicht die Linke.

    Schumann: Vielleicht haben das die Mexikaner bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 geahnt. Damals fand zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit ein demokratischer Regierungswechsel statt: Die PRI wurde in einwandfreien Wahlen von der PAN abgelöst. Und ich habe mich gefragt, Herr Prof. Meyer: Warum wählten die Mexikaner damals eine Rechtspartei und nicht die linke PRD?

    Meyer: Weil das am einfachsten war. Und weil die charismatische Figur des Präsidentschaftskandidaten Vicente Fox die Mexikaner glauben ließ, dass der Übergang zur Demokratie sehr leicht zu bewerkstelligen sei, und es keinen Grund gäbe, durch die Wahl eines Linken ein unnötiges Risiko einzugehen. Die mexikanische Gesellschaft ist sehr konservativ, und dieser reiche Unternehmer trat auf wie ein einfacher Mexikaner, benützte dessen Ausdrucksweise und redete den Leuten ein, dass ein Wechsel der Partei kein Problem darstelle. Alles würde sich lösen, wenn sie statt der PRI die PAN wählten. Ich glaube, dass Vicente Fox sich selbst getäuscht hat und natürlich auch alle anderen mit einem Diskurs, der viel zu simpel für die sehr komplizierte Wirklichkeit war.
    Schumann: Der erste nicht der PRI angehörende Präsident erweist sich als Fiasko. Die Mexikaner haben 2006 die Möglichkeit, einen Linken zu wählen: Andrés Manuel López Obrador. Er war als Regierender von Mexiko-Stadt erfolgreich. Er verliert nur knapp und sehr wahrscheinlich durch Wahlbetrug. Der neue Präsident kommt von der PAN, heißt Felipe Calderón und beginnt, die letzten Errungenschaften der Mexikanischen Revolution zu beseitigen: Er privatisiert Teile der Energiewirtschaft, schränkt die Arbeiterrechte ein, zerschlägt Gewerkschaften usw.
    Meyer: Das ist eine ganz klare Rechtsregierung, noch dazu eine sehr unfähige. Sie versucht heute, den alten Traum der Rechten von 1939 zu verwirklichen. Aber sie ist noch schlechter als ihre Vorgängerin, versteht noch weniger von Verwaltung. Ihre Führungsschicht hat nicht das geringste Charisma, kein bisschen Attraktivität. Hinzu kommt die Wirtschaftsdepression von 2009, als das Bruttoinlandsprodukt um 6,8 Prozent sinkt, der tiefste Rückgang in Lateinamerika. Unserer Wirtschaft ging es schlecht, jetzt geht es ihr noch schlechter. Der Diskurs der Rechten zerschellt an der brutalen Wirklichkeit. Und die PRI profitiert davon, denn sie will 2012 zurück an die Macht.

    Schumann: Nach diesem Schreckensszenarium möchte ich noch einmal auf meine Ausgangsfrage zurückkommen, Herr Prof. Meyer: An was sollten sich die Mexikaner in diesem Jahr erinnern?

    Meyer: An den großen Impuls für die soziale Gerechtigkeit von 1810 und von 1910. Das waren zwei Momente, in denen die mexikanische Gesellschaft explodierte und ganz neue Möglichkeiten sichtbar wurden. Diese Fähigkeit, eine andere Zukunft zu fordern, mit der sozialen Gerechtigkeit im Mittelpunkt - daran sollten wir uns erinnern.