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"Mich erschrecken und faszinieren diese Strukturen"

Olga Grjasnowa verwebt in ihrem ersten Roman geschickt die Geschichte einer jungen Frau und die drei Schauplätze Aserbaidschan, Deutschland und Israel zum berührenden Generationenporträt. Nach diesem Debüt darf man sich auf weitere Bücher der Deutschaserbaidschanerin freuen.

Von Oya Erdogan | 06.06.2012
    Was ist ein gesundes Klima? – Im zwischenmenschlichen Miteinander, in Milieus und Gesellschaften, die multikulturell zusammengesetzt sind und zusammenwachsen? Und wie kann ein Mensch seinen persönlichen Schmerz, seinen erlittenen Verlust, sein erlebtes Trauma heilen und verarbeiten, wenn das Kollektiv die heillosen Muster stets aufs neue generiert?

    Olga Grjasnowa legt mit ihrem ersten Roman "Der Russe ist einer, der Birken liebt" ein tiefgreifendes und überzeugendes Portrait einer jungen Frau vor, die stellvertretend für eine ganze Generation stehen könnte. Mascha, so heißt die Titelheldin des Romans, ist Aserbaidschanerin, sie studiert in Frankfurt Sprachen – Englisch, Russisch, Französisch und Arabisch. Sie hat einen klaren Karriereplan vor Augen, der sie zur UNO als Dolmetscherin führen soll. Ihr Leben verläuft zielstrebig in geordneten Bahnen. Sie lebt mit Elias zusammen, der Fotografie studiert hat und aus Ostdeutschland stammt. Ihre engsten Freunde sind ihr Studienkollege Cem, ein Türke, und Sami, ein Araber, mit dem sie ein Verhältnis hatte und der in den USA studiert. Mascha würde zweifelsohne zu den Vorzeigemodellen einer gelungenen Integration gehören, doch will sie mit diesem Kram nichts zu tun haben. Sie glaubt weder an Identitäten noch an Heimat, weder an Nationen, Nationalitäten, noch an Sicherheit und Stabilität – in keiner Gesellschaft –, seit sie als kleines Mädchen in Baku die Pogrome gegen die Armenier miterlebt hat, mit angesehen hat, was Völkerhass bewirken kann.

    "Mich erschrecken und faszinieren diese Strukturen, die dazu führen, dass Nachbarn, die 40 Jahre lang nebeneinander Tür an Tür friedlich wohnten, sich gegenseitig zum Geburtstag gratuliert haben, sich Kuchen gebacken haben, die Kinder sind zusammen aufgewachsen – innerhalb von zwei Wochen kriegt man sie so schnell hin, das sie sich gegenseitig ermorden. Das funktioniert überall. Niemand glaubt an die Situation, daran, aber trotzdem, da ist dieses: Man macht mit. Man weiß nicht, auf welcher Seite man dann landet. Beides ist möglich, beides ist in jedem Menschen drin. Genauso in Mascha."

    Als Elias einen Oberschenkelbruch erleidet und im Krankenhaus operiert wird, tötet Mascha in ihrer Verzweiflung einen Hasen, um Gott dazu zu bewegen, das eine Leben gegen das andere zu nehmen. Es ist ein selbsterfundenes Ritual für den Augenblick. Mascha ist Jüdin ohne Bezug zu dieser Religion, wie sie Aserbaidschanerin ist ohne Bezug zu ihrem Land, und Deutsche ohne Bezug zu dieser Kultur. Identitäten sind Wechselfälle, sind austauschbare Rollenkonstrukte, in die man hineinschlüpft, wenn es gerade günstig ist, und die man ablegt, wenn man sie nicht mehr braucht. Aus diesem Grund hat Mascha sich entschlossen, Sprachen zu studieren, denn jede Sprache öffnet das Tor zu einem anderen Sein und verleiht ihr ein Können, das ihr niemand wegnehmen kann. Die Sprachlosigkeit und die Erniedrigung, die damit einherging, als sie in Deutschland eingeschult wurde, verblassen nicht in ihrer Erinnerung.

    Olga Grjasnowa ist eine feinfühlige Beobachterin und hat so manche ihrer eigenen Erfahrungen in diesem Buch verarbeitet. Sie kam mit 11 Jahren gemeinsam mit ihren Eltern aus Baku nach Deutschland. Sie hat Kunstgeschichte in Göttingen studiert und ist seit 2010 Absolventin des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig. Die Autorin, die schon mit vielen renommierten Stipendien ausgezeichnet wurde, hat für das Thema ihres Debütromans eingehende Recherchen betrieben und sich viel mit Opfern von posttraumatischen Belastungsstörungen beschäftigt, darunter Flüchtlinge aus Tschetschenien, aus dem ehemaligen Jugoslawien, und auch in Israel, wo sie sechs Monate verbrachte, kam sie mit Leuten zusammen, die an der Störung litten. Das Trauma, an dem ihre Romanfigur Mascha leidet, beruht auf einer wahren Begebenheit.

    "Mir wurde die Geschichte von einem aserbaidschanischen Asylbewerber erzählt. Seinem Sohn ist es passiert. Während der Armenischen Pogrome in Baku 1989/90, während dieser Tage ist eine Leiche vor seine Füße gefallen, von einer armenischen Frau, die aus ihrer eigenen Wohnung runtergestoßen wurde. Er hat sehr lange, fast zwei Jahrzehnte gebraucht, um mit diesem Trauma klarzukommen. Die Geschichte hat mich nicht mehr losgelassen. Die wollte ich unbedingt aufschreiben. Ich war damals sechs Jahre alt. Ich habe zwar schon mitbekommen, dass es eine andere Regierung gibt, dass es Unruhen gibt, dass es Demonstrationen gibt, dass es Stromausfälle gibt, alles was damit verbunden ist, aber nie wirklich das Ausmaß der Tragödie, obwohl es zu jedem Zeitpunkt so war, dass alle genau wussten was vorgeht. Aber mir selber ist weder etwas zugestoßen noch irgendwas anderes. Ich bin sehr behütet aufgewachsen."

    Elias stirbt. Und damit Maschas Lebensentwurf. Der Verlust erschüttert Mascha, die nach außen abgeklärt und berechnend wirken kann. Sie bemerkt erst jetzt, dass sie Elias mehr liebte als ihr bewusst war. Und zugleich triggert der Tod Elias’ ihre traumatische Erfahrung in Baku, ihre erste Begegnung mit dem Tod, der – auf einer anderen Ebene – ebenso sinnlos war wie das Dahinscheiden Elias’ an einer offenen Wunde, die partout nicht heilen konnte.

    Olga Grjasnowa verwebt auf kluge und geschickte Weise die drei Schauplätze Aserbaidschan, Deutschland und Israel, wohin Mascha nach Elias’ Tod geht, um dort ihre Trauer ausleben zu können. Wie nebenbei führt sie die ähnlichen Strukturen vor Augen: Überall sind Konstellationen von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kultur, Religion, Sprachen, Ess- und Trinkgewohnheiten, und ebenso die Präsenz beziehungsweise die Spuren und Schatten, die Nachwirkungen eines Krieges.

    Olga Grjasnowa verleiht Mascha eine Sprache, die prägnant und kompromisslos, aber auch pointiert und mit subtilem Witz unterlegt ist. Gekonnt operiert der Roman mit vielen Klischees, ihrer Selbstverständlichkeit und beiläufigen Einbindung in das Geschehen. So z.B. der Arzt, der den Familiennamen von Mascha nicht aussprechen kann; oder die deutschen Wanduhren im Wohnzimmer von Elias Eltern; Sami verbringt ein Jahr auf der Couch seiner Eltern, bis sein Studentenvisum verlängert wird; im Fernsehen läuft eine Tatort-Wiederholung; Cem wehrt sich nach einem Autounfall gegen rassistische Beleidigungen. Klischees über Klischees.

    "Ich mag Klischees, ich mag auch sehr die Arbeit mit ihnen. Es gibt diese Prämisse: Ihr seid ein bisschen anders, bei weitem nicht so leistungsfähig! Es ist das weit verbreitetste Klischee überhaupt. Ich glaube ich habe auch kein einziges ausgelassen, oder? ... Sobald man über Israel schreibt, werden sämtliche Klischees bedient, man kommt ja automatisch in diesen Diskurs, weil die Klischees auch sprachlich manifestiert sind."

    Mascha reist nach Israel. Sie nimmt eine Stellung an, für die sie eigentlich überqualifiziert ist. Es ist eine Flucht. Israel hat für sie den Vorteil, dass sie dort zur Mehrheitsgesellschaft gehört. Doch das Umfeld in Israel ist alles andere als ein Kurort. Es beginnt schon damit, dass bei der Einreise am Flughafen ihr Computer erschossen wird. Das Gefühl von Heimatlichkeit stellt sich nicht ein, ihre Verwandten verliert sie schnell aus dem Blick, ihre neuen Freunde haben, wie die meisten, traumatische Erfahrungen. Maschas Kindheitstrauma vermischt sich mit dem Tod von Elias, steigt mit unnachgiebiger Insistenz in ihr hoch und drängt sie zu einer Entscheidung. In einem Gespräch mit dem Palästinenser Ismael wird Mascha wieder mit den stereotypen Fragen nach ihrer Herkunft konfrontiert. Ist sie Deutsche, Jüdin, Araberin, Russin? Aber, wie sind Russen eigentlich?

    "'Der Russe ist einer der Birken liebt' war irgendwann mal Teil einer Kurzgeschichte, die ich vorgelesen habe. Alle Leute haben plötzlich angefangen zu lachen. Und hinterher meinten sie, das stimmt, genau so ist das, ich hab mir das zwar noch nie bildlich vor Augen geführt, aber ich glaube da haben Sie einen ganz guten Punkt erwischt. Und ich dachte: 'Hmm, eigentlich meinte ich das nur ironisch.' Und dann hab ich das als Arbeitstitel genommen, bis ich irgendwann bei Tschechow ganz zufällig dieses Zitat fand, das dem Buch voraussteht. Da geht es um das gesunde slawische Klima. Was auch aus dem Theaterstück heraussticht. Was nichts mit der Figur zu tun hat, nichts mit dem Stück. Es steht einfach da. Als ich das bei Tschechow gesehen habe, dachte ich, das wird das Motto, das wird der Titel des Buches."

    Ein gelungener Titel, ein gelungener Roman, ein gelungenes Debüt. Nach diesem Leseerlebnis wird man sich auf weitere Bücher von Olga Grjasnowa freuen.

    Olga Grjasnowa: "Der Russe ist einer, der Birken liebt"
    Hanser Verlag, 288 Seiten, 18,90 Euro