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Michaela Wiegel
"Emmanuel Macron. Ein Visionär für Europa"

Vor einem Jahr wurde Emmanuel Macron zum französischen Staatspräsidenten gewählt. Die FAZ-Korrespondentin Michaela Wiegel beschreibt ihn in ihrem neuen Buch als Visionär für Europa. Und als Herausforderung für Deutschland.

Von Ursula Welter | 07.05.2018
    Emmanuel Macron steht neben einer französischen Flagge und lacht.
    Emmanuel Macron (MAXPPP, Leon Tanguy, dpa)
    Da ist er wieder, dieser Moment, gleich im ersten Kapitel. Wir schreiben den Abend des 7. Mai 2017. Emmanuel Macron hat die Präsidentschaftswahl gewonnen, Marine Le Pen ist aus dem Rennen geworfen.
    Aber: Frankreich ist weiter tief gespalten, vor allem in der Europafrage. Und dann dieser Auftritt in diesem eigentlich urfranzösischen Augenblick:
    "Wandel ist immer schwer zu fassen, aber in Frankreich hat er seit Mai 2017 sogar einen Klang: Ludwig van Beethovens 'Ode an die Freude'. Die Hymne Europas ertönte, als Emmanuel Macron am Abend seines Wahlsieges am 7. Mai 2017 in einem Seitenhof des Louvre in Paris vor den Fernsehkameras der Welt erschien", schreibt Michaela Wiegel und sagt im Gespräch mit dem Deutschlandfunk:
    "Es war klar eine musikalische Botschaft an die Deutschen insbesondere, aber an alle Europäer, dass hier ein Präsident antritt, der sich wirklich Europa verbunden und verpflichtet fühlt."
    Rücksicht auf deutsche Belange
    Der junge Präsident habe Europa vor dem Zerfall gerettet, urteilt die FAZ-Korrespondentin, die seit zwei Jahrzehnten aus Paris berichtet.
    Macron ist der vierte Präsident Frankreichs, den Wiegel ins Amt kommen sah. Sie schreibt: "Nie zuvor erlebte ich einen Präsidentschaftskandidaten, der so sehr auf die deutsche Karte setzte. [...] Deutschland liegt auf Macrons persönlicher Landkarte ganz eng bei Frankreich, das hat sich auch nicht geändert, seit er in den Elysée-Palast eingezogen ist."
    Selten habe ein französischer Präsident so viel Rücksicht auf deutsche Belange genommen, schildert Michaela Wiegel und erinnert unter anderem daran, dass Macron seine Europarede der Bundeskanzlerin zur Ansicht gab, bevor er sie in der Sorbonne hielt.
    Eine Strategie nicht ohne Risiko, denn als Vasall Deutschlands zu gelten, bedeutet Nahrung für die extreme Rechte und die extreme Linke Frankreichs. Aber, so Wiegel, Macron setze alles daran, damit Europa vorankomme: "Den Karlspreis [...] will er sich wirklich verdienen. Für einen europäischen Frühling aber braucht er Deutschland."
    "Er ist sich bewusst, wie schwierig es werden wird, er ist sich auch ganz besonders bewusst, wie viel Misstrauen sich in Deutschland insbesondere, was die Wirtschafts- und Währungsunion angeht, aufgestaut hat, er weiß, dass es viele Schwierigkeiten gibt…"
    Zukunftsvisionen statt Altschulden
    In diesem Zusammenhang räumt die FAZ-Korrespondentin mit Legenden auf, und trifft damit nicht nur einschlägige Parteienkreise in Deutschland, sondern - gewollt oder ungewollt - auch manchen Kommentator des Blattes, für das sie aus Paris schreibt.
    "Das ist auch ein Punkt, wo er richtig wütend werden kann, wenn man ihm unterstellt, er fordere Eurobonds. Er ist ganz vehement dagegen, dass Altschulden 'vergemeinschaftet' werden. Und seine Idee einer Lastenteilung besteht eher darin, dass für Zukunftsprojekte und dazu zählt ein für Deutschland wichtiges Thema, nämlich Außengrenzen besser zu sichern angesichts der Flüchtlingsströme besser zusammen zu arbeiten, dass er sagt, für solche Zukunftsinvestitionen, da wäre es wirklich schade, wenn wir nicht ein gemeinsames Budget hätten."
    Aus ihrem Gespräch mit dem jungen Präsidenten zitiert Wiegel diesen mit den Worten: "Es geht nicht um Altschulden, sondern um Zukunftsinvestitionen. Eurobonds, um Altschulden zu finanzieren, sind inakzeptabel."
    Beim eher technischen Thema Wirtschafts- und Währungsunion, vermutet Wiegel, habe Macron den größten Verhandlungsspielraum. Beim Thema Europäische Sicherheitspolitik, das Macron sehr wichtig sei, sei er zunächst sehr optimistisch gewesen, mit Blick auf die deutsche Beweglichkeit vielleicht "zu optimistisch".
    Macrons Interesse für deutsche Literatur und Musik
    Syrien habe Macron ernüchtert, sagt Michaela Wiegel: "Denn man hat gesehen, dass Frankreich in solchen Momenten doch wieder in eine Sicherheitsgemeinschaft mit Großbritannien und Amerika zurückgedrängt wird."
    Michaela Wiegel lässt ihre Macron-Biografie um ein Interview kreisen, das sie mit dem Staatspräsidenten führte. Die Idee war, herauszuarbeiten, wie eng Frankreich mit diesem Präsidenten an der Seite Deutschlands steht, und dass das mehr ist als eine vorübergehende Laune:
    "Er interessiert sich sehr für die deutsche Literatur, für die deutsche Musik, für die deutsche Philosophie. Es ist ein sehr verkopftes Verhältnis, das kann man schon sagen, aber es ist eben ein sehr inniges Verhältnis."
    Die Zeitungskorrespondentin, die in Paris wie kaum eine andere über Kontakte in Politik und Gesellschaft verfügt, bleibt ihrem Schreibstil im Buch treu. Politisches wird mit Alltagsbeobachtungen gepaart, dadurch leichter verdaulich, ohne dass leichte Kost daraus würde.
    Nicht nur für Frankreichkenner
    Michaela Wiegel zeichnet ein spannendes, komplexes Porträt des Mannes, der vom politisch unbeschriebenen Blatt in kurzer Frist zum Präsidenten aufgestiegen ist.
    Sie zeigt uns den Privatmann, lässt die noch junge Lebensgeschichte an diversen Orten spielen, erklärt den Präsidenten über Personen aus seinem Umfeld, die geliebte Großmutter, die Eltern, die deutlich ältere Ehefrau, Brigitte.
    "In diesem Lebenslauf, in dem man vergeblich nach Misserfolgen und Durststrecken gesucht hatte, schrieb sich mit einem Mal der Bruch aller Konventionen ein. Macron begehrte eine Frau, die er nicht begehren durfte, nach dem Anstandsgefühl seiner Familie und dem Werteverständnis der von ihm gewählten Religion."
    Die religiöse Bindung, die philosophische Erziehung und Erkenntnis, die Macrons Verständnis für Deutschland befördert haben, seine Studien des Protestantismus, um Angela Merkel besser zu verstehen, Macrons ökonomische und politische Überzeugungen, all das wird von vielen Seiten ausgeleuchtet. Hinzu kommen zahlreiche, für das Verständnis Frankreichs wichtige historische und gesellschaftspolitische Bezüge. Eine Empfehlung deshalb nicht nur für Frankreichkenner.
    Privates und Politisches
    Hie und da verschwimmt im Eifer zwar die Quellenlage, trotz langer Literaturliste am Ende, und doch wird klar: Im Zentrum steht das Interview, das Michaela Wiegel mit Emmanuel Macron geführt hat, dazu viele Gespräche im privaten und politischen Umfeld des Präsidenten.
    Lesenswert auch die Porträts der Wegbegleiter und Berater, die Macrons Deutschland- und Europabegeisterung teilen.
    Ein Präsident, der "Deutschland viel abverlangt", formuliert Michaela Wiegel. Ihr Buch ist eine Empfehlung nicht zuletzt für Zweifler.
    Denn die Autorin hat eine klare Haltung, wenn es um die Frage geht, ob Macron hauptsächlich aus nationalem Egoismus agiert: "Emmanuel Macron verdient, dass ihm Vertrauen entgegengebracht wird, das liegt auch im nationalen Interesse Deutschlands. Europäischer als unter diesem Präsidenten wird Frankreich auf mittlere Sicht nicht mehr."
    Michaela Wiegel: "Emmanuel Macron. Ein Visionär für Europa - eine Herausforderung für Deutschland"
    Europa Verlag, 200 Seiten, 19,90 Euro.