Samstag, 20. April 2024

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Michel Foucault und die Künste

Noltze: Sie eröffnen heute ein – es nennt sich – Treffen, bei dem es um einen Theoriehelden der Philosophie des 20. Jahrhunderts gehen soll, um Michel Foucault. Aber es geht um dessen Bezug auf die ganz praktischen Künste. Welche Rolle spielen welche Künste für das Denken von Foucault?

Holger Noltze sprach mit dessen Leiter Peter Weibel. | 19.09.2002
    Weibel: Foucault war nach seiner eigenen Selbstauskunft zu Beginn seiner theoretischen Laufbahn extrem beeinflusst von der seriellen Musik. Die Lektüre und das Hören der französischen seriellen Musik von Barraqué bis Boulez haben einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen. Deswegen werden wir auch heute Abend sein Konzert, ein Pianokonzert von Herbert Henck, spielen, wo eben diese Musik vorgestellt wird. Foucault war ja auch mit Barraqué und Boulez persönlich sehr befreundet.

    Noltze: Er selbst spricht von dem Schock, dem ihm die Begegnung mit der französischen seriellen Musik versetzte. Was ist da wohl passiert? Kann man darüber spekulieren?

    Weibel: Ich glaube, dass die Serie der Beginn dessen ist, was wir heute Algorithmus nennen. Die heutige Computermusik nennt man algorithmische Musik, weil die Entscheidungsprozeduren darüber, wie die Tonfolgen bestimmt werden, nicht mehr nur der subjektiven Expressivität untergeordnet sind. Sondern schon mit Beginn der Zwölftonmusik – die serielle Musik ist ja nur die Ausformulierung der Zwölftonmusik – entsteht auch die Eigengesetzlichkeit der Töne, durch die selbst bestimmt wird, was der nächste Ton ist. Also es war schon der Beginn der Enthebung des Autors, eine Abdankung des Autors.

    Noltze: Aber in dem Zusammenhang ist es doch völlig überraschend, Herr Weibel, wenn Foucault von einem Schock spricht. Das klingt so nach Wende, nach Umkehrerlebnis eines Subjekts im klassischen Sinne, das er dann ausgehebelt hat.

    Weibel: Das ist eine der Vermutungen, die wir hier noch debattieren werden. Ich glaube nämlich, dass Foucault eben nicht nur durch die Entdeckung des Archivs, sondern auch durch die Entdeckung der modernen Kunst – Sie kennen ja auch seine Arbeiten zur modernen Literatur –bis hin zur Malerei eines Magritte über wichtige Säulen der Moderne Aufsätze gemacht hat. Wir glauben, dass er nicht eine enorme Wirkung auf die zeichnerische moderne Kunst gehabt hat, sondern dass er auch selber von der modernen Kunst angeregt wurde, nämlich von der Krise der Zeichen. Das zeigt sich beispielsweise in der Magritte und auch in der Erzeugung von Literatur aus algorithmische Verfahren. Raymond Russel war wirklich der Beginn weit über Duchamps hinaus, der gezeigt hat, dass er nur einen Anfangs- oder Endsatz braucht und sich dazwischen der Roman von selbst schreibt. Ich glaube, dass diese Lektüre und dieses Musikerlebnis stellvertretend gezeigt hat, wie er neben der Entdeckung des Archivs seine Philosophie aufgebaut hat. Deshalb kann man, glaube ich, auch sagen, dass das Archiv für ihn eine wichtige Rolle spielt, nicht nur in der Geschichte der Genealogie, sondern auch in der Kunst selber.

    Noltze: Wenn Foucault über Kunst nachdenkt, wenn er sich mit Literatur, z. B. mit dem "Don Quijote" auseinandersetzt. Nimmt er die Kunst als Denkstoff, als Beispiel als Zeugnis für etwas Dahinterliegendes oder geht es doch noch um das Werk selber, darum, das Werk zu verstehen?

    Weibel: Er nimmt es als Denkstoff. Es ist kein kunsthistorischer Diskurs, auch kein Diskurs der auf Empathie oder auf Elementarem der Kunstgeschichte beruht. Sondern es sieht glücklicherweise das Kunstwerk als Denkanregung, das heißt es holt das Diskursive, das Intellektuelle an der Kunst hervor. Für ihn sind sozusagen die Kunstwerke philosophische Anregungen. Was auch noch wichtig wäre, ist, dass er Recherchen nach dem erweiterten Kunstbegriff betrieben hat. Das heißt, er hatte im Grunde die gesamte Existenz unter die Ästhetik gestellt. Das heißt, der Kunstbegriff ist soweit, dass man sagen kann, dass von der Sorge um sich selber, von der Kriegskunst über die Kunst, jemand anderen zu lieben der Kunstbegriff sozusagen folgt.

    Noltze: Es soll ein Fest, eine Feier sein. Das ist etwas anderes als eine Philosophentagung. Was feiern Sie?

    Weibel: Wir versuchen, aus einer Philosophentagung eine Begegnung zu machen, indem wir durch die Konzerte, die Filme und die persönlichen Begegnungen Raum lassen, damit das Ganze nicht ein akademisches Ritual wird. Ob das gelingen wird, müssen wir noch sehen.

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