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Michel Houellebecq: "Serotonin"
Schlechtes Kabarett

Mit einer Startauflage von über 300.000 Exemplaren ist Michel Houellebecqs neuer Roman im Januar in Frankreich erschienen. Die hohen Erwartungen erfüllt "Serotonin" nicht: Während die typischen Provokationen des Autors diesmal verpuffen, bietet das Werk wenig - außer der reinen Langeweile.

Von Jürgen Ritte | 27.01.2019
    Der französische Autor Michel Houellebecq bei der Präsentation seines 2015 erschienenen Buchs "Unterwerfung" in Barcelona.
    Der französische Autor Michel Houellebecq (EPA/ANDREU DALMAU)
    "Der neue Houellebecq ist da!", "Le nouveau Houellebecq est arrivé!" – Genau eine Woche vor Erscheinen von Serotonin, des jüngsten Romans von Michel Houellebecq am vergangenen 4. Januar, ging in Frankreich, pünktlich zur letzten Literaturbeilage der französischen Tageszeitungen im alten Jahr, zu den letzten Ausgaben der Wochenmagazine auch, ein gewaltiges Rauschen durch den Blätterwald. Und man fühlte sich fast schon erinnert an das alljährlich Mitte November in Frankreich aufgeführte Ritual um den Heurigen: "Le Beaujolais nouveau est arrivé!"!
    Bunte Banderolen und Luftballons kleben dann an den Fensterscheiben sämtlicher Kneipen, Weinhändler, Supermärkte und künden von der frohen Botschaft. Ähnlich wie jetzt auf den Titelblättern der bunten Magazine Houellebecqs Konterfei. Allerdings treten beim Beaujolais schon bald die feinnasigen Kritiker auf den Plan: "Der schmeckt nach Banane", sagen die einen. "Nein Himbeeren, eindeutig Himbeeren", die anderen. Und die ganz kritischen Köpfe geben zu bedenken, dass jährlich etwa zehnmal mehr Flaschen Beaujolais nouveau in die Welt verschickt werden als es Weinstöcke im Anbaugebiet gibt...
    Die rechten Blätter lieben ihn
    Anders bei Houellebecq: Soviel Einhelligkeit, soviel Heilserwartung war selten. "Le nouveau Houellebecq est arrivé!". Von Valeurs actuelles, dem Hausblatt des rechsradikalen Front National, über das nicht weniger rechtslastige Figaro Magazine über den eisern konservativen Figaro, die politisch höchst korrekte, nicht so eisern linksliberale Le Monde, die noch halbwegs linke Libération bis hin zu Hipster-Blättern wie Les Inrockuptibles und den politisch verschieden ausgerichteten Nachtrichtenmagazinen Express (Mitte), Le Point (Rechts), Le Nouvel Observateur (Links), ja bis zu den Kollegen im Radio in den noblen Programmen von France Culture oder France Inter erklang der Chor der Verzückten geradezu unisono.
    Verlassen konnte man sich nur auf die Journalisten im letzten wirklich unabhängigen Blatt des Landes, im realsatirischen Wochenblatt Le Canard enchaîné, wo man mit einem kurzen "Mmnaja" kaum hörbar entgegentönte. Sonst aber fühlte man sich fast schon an eine der berühmtesten Szenen in einem der klügsten und komischsten Filme überhaupt erinnert, an die Szene, wo, im "Leben des Brian" der unvergleichlichen Monty Pythons, die Massen unter einem Fenster in Jerusalem sich drängen und lauthals den Messias zu sehen begehren - oder eben den, den sie dafür halten. Und dann tritt die Mutter ans Fenster und ruft: "He is not the Messiah, he’s a very naughty boy!". Er ist nicht der Messias, er ist nur ein sehr unanständiger Junge...
    Vom "enfant terrible" zu "everybodys darling"
    Ja, eine solche mahnende Stimme fehlte, und man fragte sich, was der naughty boy Houellebecq, was der unanständige Junge von einst, das "enfant terrible" der französischen Literatur wohl mit seinem Roman angestellt haben mochte, um so vielgelobt zu enden, als "everybodys darling". Ein Provokateur, dem plötzlich alle freudig beipflichten, den alle in höchsten Tönen loben, das muss für den Autor doch so eine Art größter anzunehmender Unfall sein – nach allem, was er schon geleistet hat.
    Vor gerade einmal vier Jahren wurde sein Roman Soumission, Unterwerfung, eine brillante Parabel auf die politische und intellektuelle Orientierungslosigkeit im Lande, von französischen Feuilletons und Politikern vielfach nur mit einem Naserümpfen bedacht, wenn er nicht gar auf dezidierte Ablehnung stieß. Glaubte manch einer doch, darin so etwas wie "Islamophobie" ausgemacht zu haben, was inzwischen ungefähr das schlimmste Meinungsvergehen im Lande Voltaires ist.
    Houellebecqs Islamkritik – vergeben und vergessen
    Und in der Tat hatte Houellebecq Jahre zuvor in leicht angeheitertem Zustand – wobei der Begriff Heiterkeit bei diesem Herrn nur ganz relativ gemeint ist – den Islam als die "bescheuertste Religion überhaupt" bezeichnet. Das ging natürlich gar nicht, wurde ihm beschieden, auch wenn im Namen dieser Religion pünktlich zum Erscheinen von Houellebecqs Roman am 7. Januar 2015, fast die ganze Redaktion von Charlie Hebdo, drei Polizisten und zwei Tage später vier Kunden eines jüdischen Supermarkts ermordet worden waren, zu denen sich im November in Paris noch weitere über 300 Terroropfer gesellten. Doch scheint dem Autor Houellebecq seine angebliche Islamophobie – nicht einmal das Wort Islam kommt in seinem neuesten Roman vor, geschweige denn die Sache - vorvergeben und vergessen.
    Auch seine Misogynie, sein Lob auf die Prostitution in Thailand, wie etwa in Plattform: tempi passati. Schwamm drüber. Der neue Houellebecq, le Houellebecq nouveau, das sei etwas ganz ganz anderes. Ja, so las man aus der Feder des Literaturchefs von Le Monde, der sich ja nun wirklich auskennt im Schöngeistigen. Dieser Mann, dieser Houellebecq, habe in diesem neuen Roman, in Serotonin, doch tatsächlich eine ungeheure Entdeckung gemacht: Es gebe so etwas wie ... die Liebe! --- Zumindest eventuell die Möglichkeit. Und das in einem Genre, dem Roman, wo schon von allem Möglichen die Rede war, aber von - wie war das noch? – Liebe?
    Die Autobahn, na klar
    Und damit nicht genug: Wieder einmal habe uns der Autor mit einer seiner vielen Weissagungen beglückt: Er habe die Gelbwesten kommen sehen, er habe es genau gewusst, denn in seinem Roman besetzen ein paar unzufriedene normannische Bauern eine Autobahnauffahrt. Und Autobahn, das sei ja fast schon wie Kreisverkehr, wo die Gelbwesten sich so gerne tummeln, wenn sie nicht in der Tat gerade die Mauthäuschen auf den Autobahnen zerlegen. Großartig!
    Und damit nicht genug: Aus der prominentesten Literatursendung des öffentlichen französischen Rundfunks tönte es am Dreikönigssonntag– zwei Tage nach Erscheinen des Romans – noch wunderbarer: Wenn dereinst, in ein oder zwei oder fünf Jahrzehnten die Menschen etwas wissen wollten über den Zustand unserer gegenwärtigen Welt (was schon eine etwas optimistische Hypothese ist), dann fänden sie bei Houellebecq Antworten auf alle Fragen. Ja, selbst die Kolleginnen von der Kritik, die weiblichen Leser waren und sind schier verzückt. In derselben Sendung erklärte eine unter ihnen, sie habe den ganzen Roman, das sind weit über 300 Seiten, atemlos die ganze Nacht durch gelesen. Und, waouh, zou, ihr sei jetzt ganz anders. Und so weiter.
    Portrait eines Weicheis
    Das alles ist wohl Grund genug, sich auf dieses Wunderbuch, dieses Zauberbuch zu stürzen, das ja schon ein kleines Wunderhormon, ein Wohlfühlhormon, im Titel trägt: Serotonin. Wir haben es, wie so oft, wie eigentlich immer bei Houellebecq, mit einem Erzähler zu tun, dem Houellebecq Züge seiner eigenen Person verleiht, den er auch mit Meinungen ausstattet, die sich mit den seinen auf oftmals verblüffende Weise decken, die aber – so schelmisch, verschmitzt und pfiffig ist Houellebecq seit jeher – nur seinen "Helden" engagieren, nicht aber ihn selbst. Überlassen wir ihm selbst, das heißt seinem Erzähler, die Vorstellung:
    "Ich bin sechsundvierzig Jahre alt, ich heiße Florent-Claude Labrouste, und ich hasse meinen Vornamen. Ich glaube, er geht auf zwei Familienmitglieder zurück, die mein Vater und meine Mutter jeweils ehren wollten; das ist umso bedauerlicher, als ich meinen Eltern darüber hinaus nichts vorzuwerfen habe, sie waren in jeder Hinsicht ausgezeichnete Eltern und haben ihr Bestes getan, mich mit den notwendigen Waffen für den Lebenskampf zu rüsten [...] Jedenfalls habe ich meinen Eltern nichts vorzuwerfen außer dieser geringfügigen, dieser ärgerlichen, aber geringfügigen Namensgeschichte [...]. Florent ist zu lieblich, zu nah an dem weiblichen Florence und in gewissem Sinne geradezu androgyn. Der Name passt überhaupt nicht zu meinem markanten, je nach Blickwinkel sogar groben Gesichtszügen, die schon häufig (zumindest von gewissen Frauen) als besonders männlich betrachtet wurden, aber gar nicht, wirklich gar nicht als das Gesicht einer botticellihaften Schwuchtel. Von Claude gar nicht zu reden, er lässt mich sofort an die Claudettes denken, und sobald ich den Vornamen Claude auszusprechen versuche, kommt mir direkt wieder das entsetzliche Bild aus einem alten Video von [dem Schlagersänger] Claude François in den Sinn, das auf irgendeiner Soirée alter Homos in Endlosschliefe lief."
    Mein quadratisches Gesicht
    Seinen Vornamen zu ändern, ist nicht schwierig [...], aber ich habe nichts unternommen, ich habe mich weiter bei diesem abscheulichen Vornamen Florent-Claude nennen lassen, ich habe lediglich bei gewissen Frauen [...] erreicht, dass sie sich auf Florent beschränkten, bei der Gesellschaft als Ganzer habe ich gar nichts erreicht, in dieser Hinsicht habe ich mich wie in fast jeder anderen Situation auch zum Spielball der Umstände machen lassen, ich habe meine Unfähigkeit bewiesen, mein Leben wieder in die Hand zu nehmen, die Virilität, die mein quadratisches Gesicht mit seinen klaren Kanten, meine scharf geschnittenen Züge auszustrahlen schienen, war nichts weiter als Illusion, ein reiner Schwindel – für den ich allerdings nichts konnte, Gott hat mich so geformt, aber ich war nichts anderes, war nie irgendetwas anderes gewesen als ein substanzloses Weichei, und nun bin ich sechsundvierzig Jahre alt...
    Ein substanzloses Weichei also, und der liebe Gott ist schuld. Das wäre dann ein klassischer Fall von wirklich höherer Gewalt. Denn dem guten Florent-Claude Labrouste fehlt eigentlich nicht viel. An seinem virilen Aussehen hat er nichts auszusetzen, an seinem nach gutem alten Frankreich klingenden Familiennamen auch nicht – tatsächlich stammt er aus dem gehobenen Provinzbürgertum: der Vater Notar, die Mutter gelernte Kunsthistorikerin aus der prestigeträchtigen Ecole du Louvre - , allein der Vorname ist ihm zu schwul. Es gibt Menschen, die haben mehr Sorgen. Außer Namen und Vornamen haben die Eltern Labrouste ihrem einzigen Sohn darüber hinaus schon zu Studienzeiten ein Apartment im Pariser Quartier Latin übermacht sowie, nach ihrem freiwilligen Ableben, ein Erbe von siebenhunderttausend Euro in bar (nach Abzug aller Steuern und Gebühren). Labrouste junior hat zudem eine der beiden besten Schulen des Landes besucht, das Lycée Henri IV in Paris, wo er die – erfolgreich bestandene – Aufnahmeprüfung ins ruhmreiche Institut agronomique vorbereitet hat.
    Mit Captorix gegen Lebensekel, Libidoverlust, Depression
    Wie so manche andere reale Berühmtheit der französischen Literatur, Alain Robbe-Grillet zum Beispiel oder eben Michel Houellebecq, hat Labrouste sich dort zum Agraringenieur ausbilden lassen. So etwas wie Arbeitslosigkeit ist in Labroustes Leben auch nicht vorgekommen: Mit dem Diplom in der Tasche hat er bei Monsanto angeheuert, doch wechselte er ins Landwirtschaftsministerium, wo er sich mit Problemen der normannischen Milchwirtschaft auseinanderzusetzen hatte (darüber zumindest erfährt der Leser in diesem Roman eine ganze Menge), als ihm die Umtriebe von Monsanto nicht mehr geheuer waren. Ja, und auch Frauen hat er gehabt, selbst das hat er, neben dem Materiellen, seinen Vorgängern in den anderen Houellebecq-Romanen voraus, eine Dänin, eine Japanerin, eine Französin, eine Jamaikanerin
    "... oder vielleicht auch aus Barbados, jedenfalls von einer dieser Inseln, die scheinbar unendliche Mengen von Ganja, Rum und hübschen Schwarzen mit kleinen Ärschen hervorbringen können, lauter Dinge, die das Leben erleichtern [...] Ich muss dazu sagen, dass sie blies ‚wie eine Königin‘ ..."
    ... und wahrscheinlich waren da noch ein paar andere mehr. So what?, fragt sich der Leser. Der Roman beginnt mit dem Entschluss, quasi über Nacht zu verschwinden, auszusteigen, unsichtbar zu werden. Grund ist ein Lebensekel im Allgemeinen (er glaubt, angesichts einer sterbenden Landwirtschaft, nicht mehr an seinen Beruf, seine Mission), und der Ekel vor dem Sex und seiner rapide abnehmenden Libido im Besonderen.
    Insbesondere seine letzte Lebenspartnerin Yuzu, ein stummes japanisches Modepüppchen, macht es ihm leicht, den Plan des Verschwindens in die Tat umzusetzen: Sie treibt vorzugsweise Sex mit mehreren Männern gleichzeitig auf einschlägigen Gangbang-Parties, wie man sie aus Erzählungen von Catherine Millet kennt (die Houellebecq auch zitiert), aber sie treibt nicht nur Sex mit Männern, sondern auch mit Dobermännern. Das findet der Erzähler dann doch, nachdem er sich die Videos von diesen Veranstaltungen angeschaut hat, ein wenig eklig.
    Provokation als Pose
    Er steigt also aus, verzieht sich über Nacht in die Anonymität. Verschwindet wie der sprichwörtliche Ehemann, der mal eben runtergeht, um Zigaretten zu holen. Den Lebensekel bekämpft er mit dem neuen Antidepressivum Captorix, das das Hormon Serotonin schneller freisetzt und den Patienten in eine ruhige umweltverträgliche Mittellage von Zufriedenheit versetzt. Nein, Captorix ist, trotz pharmazeutisch genauer Deskription im Buch, ein rein fiktives Medikament, eine von Houellebecqs hübschen Erfindungen – und damit eine Enttäuschung für alle jene, die ihr Prozac schon absetzen wollten ...Es bleibt, wie bei Houellebecqs Erzähler immer wieder ein begleitender Griff zur Flasche...
    Bis es zum Ausstieg kommt, sind sechzig Seiten zu bewältigen, auf denen Houellebecq sein Programm abspult: Die Schwuchteln bekommen ihr Fett gleich zu Anfang weg, es folgen die Frauen, die entweder deutsche Touristinnen mit hängenden Titten und Hintern an spanischen Stränden sind oder junge Dinger mit knackigen Ärschen, auf jeden Fall sind sie alle Mösen, Muschis, Pussis, und wirklich interessant an ihnen ist eigentlich nur, wie viel Können sie darin entwickeln, mit ihren drei Körperöffnungen dem männlichen Gemächte, also dem des Erzählers, verstehen wir uns richtig, Befriedigung zu verschaffen. Das heißt, so lange sich dessen Libido noch nicht vermittels Captorix aus dem Staub gemacht hatte.
    Eine Groteske
    Dass dies alles in der Kritik lautlos verpufft, dass sich weder Homosexuelle noch, immerhin leben wir hoch überwacht in #metoo-Zeiten, Frauen empören, entrüsten und für den üblichen Houellebecq-Skandal sorgen, zeigt zum einen, das ist die optimistische Erklärung, wie "cool" die von Houellebecq stets provozierten Homos und Emanzen inzwischen sind. Es zeigt aber vor allem, wie ausgelutscht diese Art von Sticheleien gegen die in der Tat nervtötende "political correctness" inzwischen sind. Sie verpuffen wie Houllebecqs (oder seines Erzählers) Gekrächze gegen die umweltbewussten Pariser "Bobos", denen er den Stinkefinger zeigt, indem er mit einem alten Mercedes SUV Diesel die Luft verpestet.
    Nein, die Provokation ist nur noch Pose, schlechtes Kabarett, saftlos, kraftlos, das man ihm wie seinem siebenhunderttausend Euro schweren Erzähler (der im Vergleich zu seinem Schöpfer eine kleine Nummer sein dürfte) nicht abnehmen kann. Eine traurige Clowns-Nummer, die aufs Wunderbarste dazu passt, dass Houellebecq pünktlich zum Erscheinen von Serotonin Photos von seiner Hochzeit im vergangenen September freigegeben hat. Diese erschienen ausgerechnet in einem so spießigen Magazin wie Paris-Match und dem erzbourgeoisen, politisch höchst unappetitlichen Figaro-Magazine, wo sich so ziemlich alles tummelt, was da im politischen Wirtshaus krakeelt. Houellebecq im grauen Cut, grauer Melone auf dem Kopf, englisch geblümtem Hemdchen und Binder. Im Arm die in rosa Seide gewandete chinesische Frau. Dazu Bilder vom lustigen Abendessen im Traditionsrestaurant Lapérouse (wo Wehrmachtsoffizier Ernst Jünger schon gerne tafelte). Eine Groteske.
    Aber wir hatten ja gerade erst sechzig von dreihundertdreißig Seiten hinter uns. Nun: Anders als einige meiner deutschen und viele meiner französischen Kritikerkollegen, die da sagen, dass es jetzt erst richtig losgehe, muss ich Ihnen leider sagen, dass es das schon war, dass nicht mehr viel kommt. Außer der reinen Langeweile, der Geschichte eines Typen, der sich in einem billigen Hotel an der Pariser Place d’Italie einmietet, die Supermärkte durchstreift und den ganzen Tag Fernsehen schaut, um die Zeit totzuschlagen, dann seinen ehemaligen Kommilitonen in der Normandie besucht, einen Adelsspross, der sich auf die Landwirtschaft verlegt hat und genauso deprimiert ist wie der Erzähler, weil die Frau ihn verlassen hat (oder hat sie ihn verlassen, weil er schon deprimiert war?), und der sich schließlich, als das Pariser Hotel ihm kein Raucherzimmer mehr garantieren kann – so furchtbar grausam sind unsere Zeiten – eine kleine Wohnung im Pariser China-Town kauft, gleich hinter der Place d’Italie, wo auch Houellebecq wohnt.
    Heimkehr zu Gott?
    Und das war’s. Oder nein. Nachzutragen ist ja noch die wichtige Entdeckung der Liebe. Ja, da gab es im Leben des Florent-Claude Labrouste eine engelhafte Erscheinung. Sie hieß Camille, war Tochter portugiesischer Einwanderer mit einem Trafikbüro nebst Bar in der Normandie. Aber sie verschwand nach fünf Jahren wieder aus seinem Leben, nachdem er sie mit einem knackigen Arsch aus der Karibik betrogen hatte und dabei erwischt worden war. Dem möglichen Leben mit Camille, der ausgelassenen Möglichkeit des Glücks, weint Labrouste nun nach – und Houellebecq lässt einen seiner Helden erstmals von wirklicher Liebe faseln.
    Das geht nicht, ohne auf nur einer Seite – was in der Tat eine Leistung ist – Kant, Hegel, Heidegger zu zitieren (Schopenhauer kommt auch irgendwann vor) und miefigste Betrachtungen über die Frau an sich und den Mann sich anzustellen, die ähnlich schon in Omas Hausschatz nachzuschlagen waren. Und was die berühmten Weissagungen angeht: Französische Bauern haben nicht auf Houellebecq warten müssen, um zu zeigen, was sie anrichten können. Im Französischen gibt es dafür seit Urzeiten sogar ein eigenes Wort. Des Erzählers Freund Aymeric führt eine so genannte Jacquerie an, wie es sie immer gegeben hat und in deren Verlauf er sich tötet.
    Die molekulare Rüstung splittert
    Genau das, die Möglichkeit eines vorgezogenen Selbstmords statt des langen Wartens auf den Tod, bestimmt die letzten Seiten und Zeilen des Romans. Wäre der Erzähler schon früher auf diese Idee gekommen, hätte man Zeit gehabt, ein anderes Buch zu lesen. So muss man sich noch anhören, dass dieses selbst verpfuschte und in keiner Weise repräsentative Leben mit – bedauerlicherweise – vorzeitigem Aussetzen der Libido eine geradezu theologische, gar christologische Dimension haben soll. Drunter geht’s nicht. Und dieser ideologische Wucher ist wohl das Eingeständnis für die Billigkeit des Produkts:
    "Doch der Tod setzt sich durch, die molekulare Rüstung splittert, der Zerfallsprozess nimmt seinen Lauf. Schneller geht es sicherlich bei jenen, die der Welt nie angehört haben, die nie vorhatten zu leben oder zu lieben oder geliebt zu werden [...]. Ich hätte eine Frau glücklich machen können [...] Es war von Beginn an alles klar, ausgesprochen klar, aber wir haben es nicht begriffen. Sind wir Illusionen von individueller Freiheit erlegen, von einem offenem Leben, von unbegrenzten Möglichkeiten erlegen? Das mag sein, diese Gedanken entsprachen dem Zeitgeist [...]. Gott kümmert sich tatsächlich um uns, er denkt in jedem Augenblick an uns, und manchmal gibt er uns sehr genaue Weisungen. Seine überschwängliche Liebe, die in unserer Brust strömt, bis es uns den Atem verschlägt, seine Erleuchtungen, sine Verzückungen, unerklärlich angesichts unserer biologischen Natur, unserer Stellung als einfache Primaten sind äußerst klare Zeichen.
    Und heute verstehe ich den Standpunkt Christi, seinen wiederkehrenden Ärger über die Verhärtung der Herzen: Da sind all die Zeichen, und sie erkennen sie nicht. Muss ich wirklich zusätzlich noch mein Leben für diese Erbärmlichen geben? Muss man wirklich so deutlich werden?"
    Offenbar ja.
    Michel Houellebecq: "Serotonin", aus dem Französischen von Stephan Kleiner, Dumont Buchverlag, Köln, 335 Seiten, 24 Euro