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Migranten aus Mittelamerika
"Diese Kinder sehen morgens Leichen auf dem Weg zur Schule"

Im vergangenen Sommer sind mehr als 68.000 Minderjährige aus Mittelamerika ohne Begleitung Erwachsener illegal in die USA gekommen. Sie flüchten vor Kriminalität, Gewalt und Armut. Unterwegs erlebten sie Horrorgeschichten, die sie bis heute traumatisieren. Ein Heim in Los Angeles kümmert sich um diejenigen, die den langen Weg geschafft haben.

Von Kerstin Zilm | 23.09.2015
    Migranten aus Zentralamerika waren auf einen Zug, der sie weiter in Richtung USA bringt.
    Migranten aus Zentralamerika waren auf einen Zug, der sie weiter in Richtung USA bringt. (AFP / Hector Guerrero)
    Victor Nunez sitzt im Büro von El Rescate, einer Organisation, die Einwanderern kostenlose Rechtsberatung gibt - Jeans, rotes, T-Shirt, Kopfhörer in den Ohren, Kaugummi kauend. Der 16-Jährige kam vor einem Jahr ohne Papiere, im Rucksack nur ein paar T-Shirts und eine Hose zum Wechseln aus El Salvador in die USA.
    "Ich bin wegen der wachsenden Kriminalität und den vielen Gangs in meinem Land gekommen. Sie haben gedroht, mich mit einem Messer zu töten, wenn ich nicht für sie arbeite, mehrmals. Dann hat meine Mutter beschlossen, mich her zu holen."
    Es war Victors zweite Fluchtversuch. Der erste endete zwei Jahre vorher in Guatemala - in einem Quartier der Zetas, einem berüchtigten Drogenkartell.
    Lidia und Victor vor dem Immigrationsgericht in Los Angeles.
    Lidia und Victor vor dem Immigrationsgericht in Los Angeles. (deutschlandradio.de / Kerstin Zilm)
    Victors Mutter Lidia Nunez wartete im Sommer 2012 auf Nachrichten von ihrem 14 Jahre alten Sohn.
    Die energiegeladene rundliche Frau mit ernstem Blick und zum Dutt hoch gesteckten langem Haar erzählt: Ein Schmuggler hatte versprochen, ihn aus El Salvador in die USA zu bringen. Sie hatte ihm 4.000 Dollar bezahlt - ihre gesamten Ersparnisse. Lidia Nunez wartete vergeblich. Statt von Victor bekam sie einen Anruf der Gang. Der Schmuggler hatte Victor an sie verkauft.
    "Sie haben mich um Mitternacht angerufen, dann morgens, die ganze Zeit. Sie verlangten 10.000 Dollar und drohten, ihn umzubringen. Ich konnte das Geld nicht auftreiben. Ich habe so viel geweint. Am Ende haben sie ihn für 3.500 Dollar freigelassen."
    Dafür hatte sie Möbel verkauft, bei Verwandten und Freunden Geld geliehen und einen Kredit aufgenommen. In die USA kam Victor trotzdem nicht. Die Kidnapper entließen ihn auf die Straßen von Guatemala City, halb verhungert und krank. Ein Onkel brachte ihn zurück nach El Salvador.
    Fahrgäste werden durch Bandenmitglieder in einem Bus an einer Haltestelle in San Salvador/El Salvador festgehalten, die versuchen, verhaftete Genossen freizupressen. 31.07.2015 - AFP Marvin Recinos
    Fahrgäste werden durch Bandenmitglieder in ihrem Bus an einer Haltstelle in San Salvador festgehalten. (AFP / Marvin Recinos)
    Seine Mutter sparte für einen zweiten Fluchtversuch. Der gelang zwei Jahre später. Versteckt in Autos, Lastern und Bussen erreichte Victor den Rio Grande. An der Grenze griffen ihn Immigrationsbehörden auf.
    "Sie brachten mich in ein Haus wie ein Gefängnis. Sie nennen es Kühlschrank, weil es so kalt ist. Ich habe kaum gegessen und viel geschlafen. Das Essen war schlecht, ich habe nie Tageslicht gesehen. Da war ich anderthalb Wochen."
    Die Immigrationsbehörden kontaktierten Lidia. Die bezahlte Victors Flugticket und konnte ihn endlich in Los Angeles in die Arme nehmen.
    Minderjährige werden in Heimen untergebracht
    Viele andere junge Flüchtlinge aus Mittelamerika haben keine Familie in den USA. Sie landen meist in Heimen.
    Eines davon ist das Casa Libre, eine gothische Villa nahe Downtown Los Angeles. 14 ehemals obdachlose Teenager aus Mittelamerika bekommen hier eine Unterkunft, rechtliche und psychologische Hilfe. Drei Jungs lernen im Wohnzimmer an Computern Englisch.
    Schüchtern sprechen sie die Sätze eines Englisch-Unterrichts nach. Einer von ihnen hat seine weiße Baseballkappe über die Augen nach unten gezogen. Er nennt sich Jesus und ist 17 Jahre alt. Auch Jesus kam im vergangenen Sommer aus El Salvador nach LA. Allein, ohne Schmuggler. In Mexiko kidnappten ihn Mitglieder einer Gang.
    "Sie haben mich in einem Van zu einem Haus gebracht. Da war überall Blut. Viele hässliche Sachen sind passiert. Die Typen sind sehr gefährlich. Sie haben gemerkt, dass ich kein Geld habe, mich zur Grenze gebracht und den Immigrationsbehörden übergeben."
    Kinder protestieren am 13. August 2014 in Los Angeles gegen die Einwanderungspolitik der USA. Nach Angaben der Behörden kamen allein in diesem Jahr bislang rund 57.000 Kinder ohne Begleitung erwachsener Verwandter aus Mittelamerika in die USA, wo sie hoffen Armut und Gewalt entfliehen zu können.
    Kinder protestieren am 13. August 2014 in Los Angeles gegen die Einwanderungspolitik der USA. (AFP PHOTO / Mark Ralston)
    Der Teenager hat keine Verwandten in den USA, die ihn aufnehmen wollen. Im Casa Libre hat er eine neue Familie gefunden und seine Leidenschaft für den Ringkampf entdeckt. Jesus hat schon Medaillen gewonnen und träumt von den Olympischen Spielen. Doch das Leben in Los Angeles ist schwerer als er erwartet hatte.
    "Alle sagen, hier kannst Du ein gutes Leben haben. Das stimmt nicht. Ich dachte, ich arbeite, kaufe ein Auto und schicke meiner Mutter Geld nach Hause. Es ist ganz anders."
    Neben Jesus sitzt Cristian - schlaksig, kaum 1,60 Meter groß, 21 Jahre alt. Er flüchtete schon 2008 vor Armut und Gewalt in Guatemala. Mehrere Jahre lebte er ohne Papiere in Los Angeles. Dank der Hilfe im Heim hat er inzwischen eine Aufenthaltsgenehmigung, studiert Bühnenbild und arbeitet für kleine Theater in Los Angeles. Was er auf der Reise in die USA erlebt hat, kann er nicht vergessen.
    "Einmal warteten wir zwei Tage auf einem Feld in Mexiko auf unseren Schmuggler - ohne Essen, ohne Decken. Später hat er uns in ein Versteck hinter dem Fahrerhaus von einem Laster gezwängt. Es gab nur ein sehr kleines Fenster. Wir standen zusammengepfercht acht Stunden lang ohne Pause!"
    Casa-Libre-Direktor Federico Bustamante - athletisch, die schwarzen Locken zum Pferdeschwanz zusammengebunden - ist für die Teenager Ersatzvater und -bruder. Er würde gerne mehr Kindern helfen. In der Villa wäre Platz, doch es fehlt das Geld. Bustamante ist sicher: Minderjährige werden in die USA kommen, bis sie zu Hause keine Gewalt mehr fürchten müssen.
    "Solange diese Kinder morgens Leichen sehen, zur Schule vorbei an Leichen gehen und solange ihre Verwandten verschwinden, ohne dass sich jemand kümmert, wird das passieren."
    Ein Helfer der NGO "Border Angels" setzt in Kalifornien Kreuze an Gräber von unbekannten Menschen, die bei der Flucht von Mexiko in die USA in der Wüste ums Leben gekommen sind.
    Ein Helfer der NGO "Border Angels" setzt in Kalifornien Kreuze an Gräber von unbekannten Menschen, die bei der Flucht von Mexiko in die USA in der Wüste ums Leben gekommen sind. (AFP / Foto: Mark Ralston)
    Victor ist unterdessen vor Gericht. Die Richterin verschiebt die Entscheidung über seine Abschiebung, weil ein Antrag auf Sonderstatus vor den Flüchtlingsbehörden noch nicht entschieden ist. Mutter Lidia ist erleichtert über den Aufschub. Er bedeutet mindestens zwei Monate länger Sicherheit für Victor.
    "Er kann nicht zurückgehen. Gangs werden ihn umbringen. Besonders jetzt, wo er aus den USA kommt. Ich werde alles tun, was die Richterin sagt und mit Gottes Hilfe geht hoffentlich alles gut aus. Er ist der einzige, der uns hilft."