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Migration
"Schlafgänger" - Auslotung der porösen Gegenwart

Die Sprache ist für viele Migranten ein großes Problem, aber auch für Inländer kann es schwierig sein, die richtigen Worte zur Migration zu finden. Davon handelt Dorothee Elmigers neuer Roman - und ihr gelingt das Kunststück.

Von Claudia Kramatschek | 28.05.2014
    Dorothee Elmiger , aufgenommen am 10.10.2010 auf der 62. Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main.
    Dorothee Elmiger 2010 auf der Frankfurter Buchmesse (picture alliance / dpa / Arno Burgi)
    Auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse hat sich die Schweiz für diesmal mit einem starken Auftritt Gehör verschafft: Über 80 Autorinnen und Autoren waren vertreten – darunter auch die 1985 in Wetzikon geborene Schriftstellerin Dorothee Elmiger. 2010 debütierte sie mit "Einladung an die Waghalsigen" – und gewann dafür den aspekte-Literaturpreis. Zu Recht – denn das Buch ist atemberaubende Literatur pur und doch eine andeutungsreiche und vielschichtige Auslotung der porösen Gegenwart. Elmiger, Absolventin des Literaturinstituts sowohl in Bern als auch in Leipzig, liebt das Experiment mit der Form, verbindet sprachliche Kühnheit mit politischem Widersinn. Nun hat sie, erneut im Dumont Verlag, ihren zweiten Roman vorgelegt. "Schlafgänger" heißt der. Claudia Kramatschek hat ihn gelesen und Dorothee Elmiger auf der Leipziger Buchmesse getroffen.
    Zitat: "Im Schlaf, sagte die Übersetzerin, sah ich einmal das ganze europäische Gebirge zusammenbrechen, wie von Sinnen lag ich da, aber still, hörte auch Geräusche in diesem Zusammenhang, die Gipfel zerbrachen vor meinen Augen, alles stürzte langsam ein und kam mir als Geröll entgegen."
    Die Erschütterung darüber, dass die Schweiz am 9. Februar dieses Jahres mit knapper Mehrheit beschlossen hat, die Einwanderung in die Schweiz massiv zu begrenzen, ist dem neuen Roman von Dorothee Elmiger vom ersten Satz an eingeschrieben. Schon 2010 veröffentlichte sie unter dem Titel "Die Abwesenden" einen Text über jene Menschen, die in der Schweiz leben, aber aufgrund der Illegalität in die Unsichtbarkeit gedrängt sind. Wie Gespenster besiedeln diese Menschen nun auch den neuen Roman – und das darf man wortwörtlich verstehen. Denn die Grenzgänger selbst, von denen er handelt, sind in diesem Roman bewusst eine Leerstelle.
    "Eigentlich hätte das Buch natürlich ausschließlich diese Stimme sein sollen, die jetzt fehlt. Aber ich kann diese Stimme nicht sein. Und ich habe sehr, sehr damit gerungen und hatte auch oft das Gefühl, dass ich das Buch deswegen nicht schreiben kann, weil ... diese Stimme in diesem Text fehlen muss, wie ich finde, weil ich das anmaßend gefunden hätte, die zu schreiben – aber das natürlich eine unglaubliche Schwäche des Buches ist, weil es genau eigentlich wiederholt, was sowieso schon passiert: das Sprechen über die anderen – was ich ja sogar kritisieren will."
    Die Grenzgänger als "Schlafgänger"
    Wer zu lesen beginnt, wird daher erst einmal irritiert sein: keine stringente Handlung, kein sensationsheischender Plot, keine bewegende Flüchtlingsgeschichte. Stattdessen gerät man von Satz eins an in eine Art Sprech-Theater, in dem eine Handvoll Figuren sich austauscht über ihre Gedanken und Erfahrungen in puncto Grenzgängerei. Diese Figuren – u. a. eine Übersetzerin, ein Logistiker, ein Journalist, eine Schriftstellerin – sind dabei selbst hochsymbolisch: Die Frage, wie man ein Thema adäquat in Sprache übersetzt, steht mit ihnen von Anfang an im Raum.
    Zitat: "Manchmal war der Journalist am Apparat, er sprach von dem Geschehen in der Schweiz, er habe über dieses oder jenes Ereignis nachgedacht, so begann er meist das Gespräch und holte dann aus, er habe sich das so und so gedacht, er sei der Meinung, man müsse jetzt auf diese oder jene Art und Weise darüber schreiben, es sei wichtig, nun dies oder jenes dazu zu sagen und, so schloss er meist das Gespräch, das werde er jetzt tun."
    Fast alle werden am Ende übrigens angesichts dieser Frage immer mehr verzweifeln. Elmiger wiederum bezeichnet die Grenzgänger nicht zuletzt aus diesem Grund bewusst als "Schlafgänger".
    "Ich bin irgendwann über diesen Begriff gestolpert, der ursprünglich Menschen bezeichnet hat, die im 19. Jahrhundert in die Städte gekommen sind, um zu arbeiten, und es gab nicht genügend Wohnraum für alle. Und die Schlafgänger waren dann diejenigen, die kein eigenes Zimmer, keine eigene Wohnung hatten, sondern sich dann eingemietet haben auf ein Bett, das eigentlich jemand anderes benutzt hat, dann aber für ein paar Stunden frei war. Und dieser Begriff hat mich dann sehr interessiert auf die Fragen, die sich mir gestellt haben. Natürlich diese Verletzung der grundlegenden Bedürfnisse oder die Einschränkung eigentlich – und das war ja dann auch eine Bewegung in die Städte aus ökonomischen Gründen, ja und was ist damit passiert."
    Zwischen Schweiz und USA
    Elmiger verzahnt deshalb in "Schlafgänger" zwei sowohl geographisch wie zeitlich gegensätzliche Bewegungen: Der Schweizer Grenze stellt sie die Grenze zwischen den USA und Mexiko gegenüber. Den aktuellen Einwanderungen in die Schweiz stellt sie anhand historischer Figuren die Auswanderung jener Schweizer entgegen, die – wie etwa der Insektenforscher und Botaniker Jakob Boll – im 19. Jahrhundert nach Amerika gingen und dort – inspiriert von Fourier und getrieben von der eigenen ökonomischen Not – die sozialistische Kommune La Rèunion gründeten.
    "Der eine Grund war, dass ich selbst drei Monate in Kalifornien verbracht habe und dort auch viel herum gefahren bin und selbst konfrontiert wurde mit den Fragen, die sich dort stellen. ... Und dann hat mich ja auch in einem anderen Strang des Textes die Auswanderung aus der Schweiz nach Amerika beschäftigt, in der Vergangenheit. ... Gerade auch weil ja in der Schweiz dann immer auch behauptet wird, 'wir' gehören hierher, die anderen nicht – und vergessen wird, dass die Schweizer selbst ausgewandert sind, oftmals aus ökonomischen Gründen."
    Elmiger schichtet ihre einzelnen Themenfragmente dabei selbst wie ein zerklüftetes Gebirge ineinander: Der Utopie eines Fourier – schon damals nicht frei von Ein- und Ausschlussmechanismen – korrespondiert der Verweis auf eine Autorin wie Ayn Rand, Vertreterin eines uneingeschränkten Kapitalismus und ideologische Referenz der Tea-Party. Das tastende und suchende Gespräch ihrer Figuren wird konterkariert von Schlagzeilenfetzen im kalten Duktus der Nachrichten.
    Zitat: "Frau schmuggelte Kokain im Intimbereich, Frau mit 152 Gramm Kokain in Vagina von Grenzwächtern geschnappt, 152 Gramm! Frau (20) schmuggelt Kokain in Vagina, Schmuggel-Trick: Kokain in der Vagina, eine Nigerianerin trug den Stoff zwischen ihren Beinen."
    Wer schaut zu?
    Zugleich weitet sich die Reflexion über die Frage, wie man und in welcher Sprache man sprechen kann, immer mehr zum eigentlichen Gegenstand des Romans. Die Schriftstellerin wird nach einem Gang durch den Wald den Stift resigniert zur Seite legen. Elmiger aber gelingt etwas so kluges wie wunderbares: Den moralischen Hiatus umgeht sie, indem sie die Bilder, die sie übersetzen will, nicht zeigt, sondern assoziativ aufruft mithilfe anderer Bildgebungsverfahren. Ob die Videoarbeiten eines Jan Bas Ader, Walt Whitmans Langgedicht "The Sleepers" über den Untergang der "Mexico" oder Géricaults 'Floß der Medusa' – gemeinsam ist diesen Arbeiten, dass sie zeigen: Der Betrachter der Katastrophe ist immer schon mit im Bild.
    Zitat: "Der Ort, an den ich denke, sagte Frau Boll, ist die Küste bei Hempstead, hier lebt Walt Whitman, als die Mexico auf Grund läuft, der Aufprall bricht das Steuerruder ab, der größte Kreuzmast knickt um, und ihr Rumpf wird aufgerissen. Die Passagiere retten sich aufs Hauptdeck, einigen gelingt es, ihr Geld an ihren Körpern zu befestigen, im Versuch, es zu retten. Die Temperaturen liegen unter null, und die Wellen, so sagt man, sind haushoch. Obwohl das Schiff nicht einmal dreihundert Meter vor der Küste liegt, kann es kaum erreicht werden. Ich suche mit der Menge, aber niemand, schreibt Whitman später, wird uns lebendig zugespült, In the morning I help pick up the dead and lay them in rows in a barn."
    "Natürlich haben mich diese Fragen beim Schreiben sehr stark beschäftigt: Wer schaut zu und wie? Und dann auch jetzt auf die Medien bezogen, auch die Fiktionalität: Also was sehen wir eigentlich, was wird uns gezeigt, wie können wir feststellen, was Fiktion ist oder was behaupten diese Bilder? Und wie involvieren sie uns?"
    Sprich: es gibt keinen unschuldigen Standort mehr angesichts des Schiffbruches der sogenannten Anderen. Eben daran leidet im Roman nicht zuletzt auch der Logistiker:
    Zitat: "Obwohl meine Situation sich gänzlich von der ihren unterschied, stand meine Unruhe doch in einem Zusammenhang mit ihrer Anwesenheit, mit meiner Beschäftigung als Logistiker, Import und Export, mit der Reise meiner Großmutter auf einem Kreuzfahrtschiff nach Nigeria, wo sie, das beweisen Fotos, von Bord ging, alles stand in einem Zusammenhang mit den Schlafgängern dieser Zeit."
    "Ich wurde jetzt schon ein paar Mal, seit das Buch erschienen ist, gefragt: Kennen Sie denn persönlich Asylbewerber? ... Und ich finde, diese Frage sollte eigentlich nicht so relevant sein. ... Solange ich in einem Land lebe, wo so und so umgegangen wird mit Leuten, wo gewissen Menschen Rechte verwehrt werden, geht mich das selbst auch an. Und ich glaube, dass dieses Interesse an den sogenannten Anderen oft fehlt und ich mir das wünsche und es mir auch irgendwie unerklärlich ist, weshalb das nicht da ist."
    Der Logistiker wird am Ende nicht mehr schlafen können, seine Schwester merkwürdige Risse im Putz ihrer Wohnung vorfinden, der Journalist seiner Arbeit nicht mehr nachgehen können. Dorothee Elmiger aber ist mit „Schlafgänger" ein kleiner großer Roman gelungen, der sicher keine leichte Kost darstellt – aber eines der derzeit besten Bücher über das schwierige Thema der Migration.
    Dorothee Elmiger: Schlafgänger.
    Roman. Dumont 2014. 141 Seiten. 18 €