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Migration und Kolonialismus
"Jetzt kommt die Welt zurück nach Europa"

Kriege, Armut, Klimawandel: Die Gründe für eine Flucht nach Europa sind vielfältig. Der Historiker Wolfgang Reinhard nennt in seinem Buch "Die Unterwerfung der Welt" noch einen weiteren Grund für Migration: die Folgen des Kolonialismus.

Von Jan-Christoph Kitzler | 04.01.2017
    Afrikanische Flüchtlinge auf Sizilien sind in Wärmedecken eingehüllt.
    Afrikanische Flüchtlinge auf Sizilien sind in Wärmedecken eingehüllt. (picture alliance / dpa / Olivier Corsan)
    Rund 360.000 Menschen sind 2016 über das Mittelmeer nach Europa geflohen, mehr als 5.000 haben es nicht geschafft und sind auf der Überfahrt gestorben. Diese Zahlen sind die bisher höchsten – aber trotzdem ist die massenhafte Wanderung nach Europa zu Normalität geworden. Auch für den Historiker Wolfgang Reinhard ist das Phänomen erklärbar, wenn auch aus einem scheinbar ungewöhnlichen Grund:
    "Diese Leute sind ja in der Regel auch nicht arm, denn sonst könnten sie ja die Schlepper auch gar nicht bezahlen. Das ist ja nicht das heulende Elend, sondern ein Strom von Leuten, die die Attraktivität Europas und Amerikas kennengelernt haben und nun finden, an der wollen wir partizipieren. Das ist gewissermaßen eine Folge der Verbreitung der europäischen Kultur. Denn nur auf der Basis ist das überhaupt möglich, dass sie versuchen, sich bei uns zu integrieren."
    Wolfgang Reinhard, lange Jahre Professor für Neuere und Neuste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, hat ein über 1.600 Seiten dickes Buch über die europäische Expansion geschrieben, über Kolonialismus, die Eroberung der "Neuen Welt", über Ausbeutung und Sklavenhandel. Für ihn gibt es durchaus einen Zusammenhang zwischen der "Unterwerfung der Welt", so der Titel des Buches, und den Migrationsbewegungen unserer Zeit:
    "Erst sind die Europäer ausgeschwärmt und haben die Welt unterworfen und jetzt kriegen sie die Quittung, denn jetzt kommt die Welt zurück nach Europa. Da ist einiges dran, aber eigentlich ist das schon vorbei. Inzwischen ist die Situation etwas anders, und man könnte sagen: Die Europäer haben die koloniale Welt unterentwickelt hinterlassen, dadurch entsteht eine Notlage, ein wirtschaftlicher Engpass, der dann die Menschen dazu drängt, ihr Land zu verlassen und sich nach Europa zu flüchten."
    Falsche Politik sorgte für schlechte wirtschaftliche Entwicklung
    Aber das ist längst nicht der einzige Grund, sagt Wolfgang Reinhard. Die Einteilung in europäische "Täter" und kolonisierte "Opfer", zum Beispiel in Afrika, hält er für einseitig. Weil schon die frühen Eroberer auf die Hilfe von Einheimischen angewiesen waren, um die neuen Gebiete zu beherrschen. Und auch, weil nicht nur die Kolonisierung ausgebeutete, unterentwickelte Regionen hinterlassen hat, sondern weil auch eine falsche Politik in der Zeit danach dafür gesorgt hat, dass sich viele Ex-Kolonien wirtschaftlich schlecht entwickelt haben. Denn es gibt auch Beispiele, wo eine bessere Politik gemacht wurde, und dort gab es einen bemerkenswerten Aufschwung:
    "Man kann bis zu einem gewissen Grad die Flüchtlingsbewegung auf von Europa veranlasste, verantwortete Fehlentwicklungen zurückführen, aber nicht hundertprozentig. Ein anderes ist, dass es diese Bewegung gibt, ist bereits eine Konsequenz der Aneignung der europäischen Kultur durch den Rest der Welt."
    So ist für den Historiker der Export der europäisch-amerikanischen Kultur, die eine Art Weltkultur geworden ist, die Folge der Expansion Europas, die heute vielleicht den größten Einfluss hat:
    "Der andere Punkt ist, dass Europa, zum Teil unbeabsichtigt, der Welt seine Kultur aufgeprägt hat. Und weltweit heute Elektrizität, Internet, moderne Medizin, Autos, Kalaschnikows. Alles mehr oder weniger europäische Errungenschaften, die in der Welt inzwischen selbstverständlich geworden sind. Das heißt mit anderen Worten: die Weltkultur, wenn es so was gibt, die Grundtendenzen sind eben europäische, vielleicht inzwischen auch amerikanische."
    Menschen fliehen nach Europa vor Krieg und Terror, vor Armut und dem Klimawandel – aber sie suchen eben auch die europäische Kultur, die europäische Lebensform, die mit der "Unterwerfung der Welt" exportiert worden ist. Und die Sehnsucht danach lässt sich nur schwer aufhalten.