Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Migration
"Wenn Sie an muslimische Unterwanderung glauben, sehen Sie sie auch"

Der Konfliktforscher Andreas Zick fordert, dass Migration in Deutschland besser erklärt werden muss. Studien zeigten, dass es derzeit Vorurteilsmuster seien, die "die Art und Weise bestimmen, wie wir integrieren", sagte Zick im Dlf. "Das müssen wir umdrehen."

Andreas Zick im Gespräch mit Christiane Kaess | 18.01.2018
    Andreas Zick
    Andreas Zick leitet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld (Uni Bielefeld )
    Christiane Kaess: Die Bundesregierung verkündet es als Erfolg ihrer Politik, oder als das Einlösen eines Versprechens. 2017 kamen rund 186.000 Asylsuchende nach Deutschland. Das sind weniger als im Jahr davor; da waren es noch etwa 280.000. Und es sind viel weniger als 2015, als die Statistik rund 890.000 Menschen zählte, die nach Deutschland kamen. In der Regierung atmet man auf. Schließlich hat man im turbulenten Jahr 2015, als das Thema in aller Munde war und die rechtspopulistische AfD nach oben spülte, gesagt, die Zahlen der Asylsuchenden müssen runter.
    Manche Beobachter weisen auf etwas anderes hin. Vor vier Jahren hätten auch diese Zahlen noch als extrem hoch gegolten, stand zum Beispiel in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Und die Zeitung "Die Welt" interpretierte es so: "Zum einen leben wir in der Zeit einer globalen Völkerwanderung mit dem Ziel Europa und zum anderen in einer überalterten Gesellschaft, die Fachkräfte von außen braucht, weil sie versäumte, selbst genug Nachwuchs zu zeugen. Deutschland wird muslimischer, afrikanischer und auch asiatischer werden."
    Darüber sprechen möchte ich mit Professor Andreas Zick. Er leitet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. Guten Morgen, Herr Zick.
    "Es wird immer Wanderungsbewegungen geben"
    Andreas Zick: Guten Morgen, Frau Kaess.
    Kaess: Ist das, um bei diesem Begriff zu bleiben, eine "globale Völkerwanderung", die Europa und Deutschland nachhaltig verändern wird und vielleicht sogar schon verändert hat?
    Zick: Ich bin ein bisschen vorsichtig, weil diese Bilder der globalen Völkerwanderung, da müssen wir mal genau nachgucken, wo sie herkommen. Die erzeugen wieder eine massive Verunsicherung, weil viele Menschen denken, nun kommen Millionen. Auch da wurde beim Brexit argumentiert, wir brauchen den Brexit wegen einer globalen Völkerwanderung.
    Nein. Die größte Wanderung haben wir innerhalb von Afrika seit vielen, vielen Jahren. Wir haben große Wanderungsbewegungen, die wir überhaupt nicht kennen in den arabischen Staaten, wenn man sich das mal anguckt. Nein. Natürlich ist Deutschland, natürlich ist Europa ein Ziel, ein wichtiges Ziel. Man wandert in ökonomisch starke Gegenden. Aber der Rücklauf – wir müssen jetzt mal gucken, wo kommt eigentlich der Rücklauf her. Warum kommen weniger Menschen – weil zum Teil ist es in den Herkunftsländern sicherer. Wir haben zum Teil eine andere Sicherung von Außengrenzen. Und auch Europa hat verstanden, dass man etwas tun kann gegen Wanderung, wenn man Fluchtursachen bekämpft. Wir haben ja vor Jahren noch den Kosovo diskutiert, die Zuwanderung von Kosovo-Albanern. Das war Elendszuwanderung. Die gibt es überhaupt nicht mehr. Und ich glaube, dass Politik sehr beraten ist, jetzt mal zu erklären, wie es zu dem Rückgang kommt, und nicht einfach davor zu warnen, dass die nächste Wanderung vor der Tür steht. Es wird immer Wanderungsbewegungen geben.
    "Können nirgendwo empirisch nachweisen, dass wir muslimischer werden"
    Kaess: Herr Zick, lassen Sie mich noch mal auf meine Frage zurückkommen. Hat die Migration unsere Gesellschaft verändert?
    Zick: Die Migration verändert immer unsere Gesellschaft. Sie rufen mich gerade in Ostwestfalen an. Durch Ostwestfalen sind immer Menschen gewandert. Wir sind eine Migrationsgesellschaft. Ich glaube, wir müssen es mal erklären. Wenn wir nur immer Einwanderungsgesellschaft sagen, dann bedeutet das, irgendwelche Fremden wandern zu uns ein. Sagen wir Migrationsgesellschaft, dann müssen wir verstehen, dass wir unterschiedlicher werden, dass Migration ein Teil unserer Gesellschaft ist. In Deutschland hat jedes zweite Kind irgendwie in der Familie eine Migrationsgeschichte. Der Berliner Gendarmenmarkt war das größte Flüchtlings-Camp, was wir in der deutschen Geschichte mal hatten, weil die Hugenotten dort aufgenommen worden sind. Migrationsgesellschaft bedeutet eigentlich eine moderne Gesellschaft, in der Migration stattfindet, in der sich dann aber auch Kultur bildet. Das heißt: Wenn uns die Kultur so wichtig ist, dann müssen wir über kulturelle Bildung reden. Dann können wir auch über Deutschsein reden. Aber zum Deutschsein gehört auch Wandern, zumal wir ein föderaler Staat sind.
    Kaess: Lassen Sie mich noch mal das Zitat aus der "Welt" aufgreifen, diesen Satz, Deutschland wird muslimischer, afrikanischer, auch asiatischer werden. Dem folgte dann noch: "Gerade darum muss die Politik Zuwanderung viel stärker kanalisieren und sehr entschieden jene zurückweisen, die keinen Schutzanspruch haben und weder Fähigkeit, noch Willen mitbringen, unserer Gesellschaft zu nutzen. Der soziale Friede kann nur gerettet werden, wenn vor allem die beiden großen Parteien sich dieser Herausforderung tatsächlich bewusst sind."
    Da klingt etwas von Bedrohung an, was viele Menschen ja tatsächlich auch so empfinden. Ist das die dominierende Wahrnehmung?
    Zick: Es ist tatsächlich ... Beim Muslimischsein, das ist so etwas, da kommen wir fast kaum raus. Wir haben in unserer letzten Studie – das war im Sommer 2016 – mal Zustimmungsraten in einer repräsentativen Stichprobe gehabt. Da sagten 40 Prozent – und das ist die Mitte -, wir werden von dem Islam unterwandert.
    Kaess: Ist das normal geworden, über Zuwanderung als Bedrohung zu sprechen? Konnten Sie das auch herausfinden?
    Zick: Ja, das ist tatsächlich so. Immer wieder, wenn wir Medienanalysen angucken, was diskutiert wird, wenn wir angucken, wie Menschen über Migration reden, dann reden sie darüber, als wenn Migration immer eine Einbahnstraße ist. Das heißt, Migration ist damit verbunden, dass Fremde, die erst mal eine Verunsicherung oder Bedrohung darstellen – Verunsicherung wäre okay -, immer wahrgenommen werden als Fremde, und die müssen irgendwie Eigene werden so wie wir. Das ist relativ normal für die, die Zuwanderung erleben. Aber Migration ist eigentlich ein Prozess des kulturellen Austausches und, indem wir zusammen neue Kultur bilden. Wir können ja nirgendwo empirisch nachweisen, dass wir tatsächlich muslimischer werden. Wir werden eher islamophober. Das heißt, wenn wir Zuwanderung haben, dann führt die Verunsicherung zu der Frage, welches Konzept ist eigentlich da. Vielleicht fragen sich Menschen auch, werden wir tatsächlich jetzt unterwandert. Dann muss man eine Antwort geben und nicht darauf verweisen, welche Bedrohung es ist.
    Wir haben aber immer auch gesehen in unseren Daten: Die Menschen haben viele Stereotype. Sie haben viele Schubladen. Mit diesen Schubladen verbinden wir zunehmend, weil immer wieder das betont wird, Negatives. Wenn Sie an muslimische Unterwanderung glauben, dann werden Sie sie auch sehen. Dann wird jedes Minarett Ihnen den Hinweis geben. Das heißt, da müssen wir tatsächlich dran arbeiten. Die Studien zeigen in Deutschland, die Vorurteilsmuster bestimmen die Art und Weise, wie wir integrieren. Und das müssen wir umdrehen, aber auch natürlich, vollkommen klar, über Regeln und Bedingungen. Wir müssen hier keine kriminellen oder terroristischen Zuwanderer aufnehmen. Das ist doch vollkommen klar.
    "Wir sehen in unseren Studien, die Zivilgesellschaft schafft das kaum noch"
    Kaess: Herr Zick, wenn ich da mal kurz einhaken darf? Sie sprechen es ja selber schon ein bisschen an. Diese Bedrohung für den sozialen Frieden ist ja zumindest zum Teil real, würden zumindest viele so argumentieren. Wir haben die Diskussion über Parallelgesellschaften, wir haben soziale Probleme in Vierteln mit hohem Migrantenanteil. In Frankreich ist das noch viel stärker ausgeprägt. Also es ist ja auch da!
    Zick: Ja, und ich will das überhaupt nicht schön reden. Die Lasten der Integration, die trägt die Zivilgesellschaft. Wir sehen in unseren Studien, die Zivilgesellschaft schafft das kaum noch, man ist überfordert. Wir haben das gesehen in den Flüchtlingsunterkünften konzentriert. Das sind Menschen, die sind überlastet. Da muss der Staat regulieren. Wir müssen tatsächlich ein Modell haben. In Kanada sagt man, welche Migration man haben will.
    Kaess: Das heißt, so etwas wie eine Obergrenze meinen Sie tatsächlich damit?
    Zick: Es wird ja implizit eine Obergrenze diskutiert, indem wir jetzt darüber diskutieren, was empirisch kann ein Land als Belastung ertragen. Wir können nicht jedes Jahr eine Million Zuwanderung ertragen. Das wird niemand schaffen und auch niemand behaupten. Wir können auch nicht alle Grenzen komplett öffnen. Nein. Migration bedeutet - und wenn wir das ernst nehmen, Zuwanderung -, dass wir ein Konzept entwickeln, was kann ein Land an Integrationskräften schaffen, wo müssen wir nachsteuern bei der Integration, die Potenziale schöpfen. Die Wirtschaft wollte die letzten 20 Jahre jedes Jahr 200.000 bis 250.000. Die wollten das.
    Kaess: Da kommt jetzt immer das Argument, die jetzt kommen, die sind nicht diejenigen, die die Voraussetzungen und die Qualifikation erfüllen.
    Zick: Aber wenn wir jetzt mal gucken, was denn mit der einen Million passiert ist – da sind Bilder von Kriminalität und Furchtzuwanderung. Wir haben tatsächlich Kriminalität erlebt. Aber was wissen wir eigentlich über die gut funktionierende Integration? Wir hatten eine Zuwanderung von Gastarbeitern, die uns zum Beispiel enorm geholfen hat in vielen Regionen, nicht nur die Wirtschaft voranzubringen, sondern auch den kommunalen Raum zu erhalten. Wir haben bei den Ehrenämtlern in der Flüchtlingshilfe massiv Menschen mit Migrationshintergrund. Wir müssen auch mal ein bisschen hingucken, wo sind Potenziale, wo klappt das besonders gut. Wir haben Zuwanderung in den Universitäten. Wir haben Spitzenkräfte. All das gehört ja mit dazu. Aber natürlich ist Integration und Migration eine Problemlage, wie das aber auch in jeder Familie so ist, wenn wir altern. Dann braucht eine Familie Integrationskräfte. Da müssen wir drüber nachdenken, Integration ernsthaft annehmen. Tatsächlich dann kann man später darüber reden, welche Grenze. Aber nur allein die Grenze schafft ja keine Lasten weg, sondern die Überschreitung der Grenzen schafft immer wieder neue Bedrohungen.
    "Wenn man Migration erklärt, beruhigt sich die Lage auch - das fehlt uns"
    Kaess: Wenn wir davon ausgehen, dass ein gewisses Maß an Zuwanderung ja bleiben wird – wahrscheinlich schon allein wegen des Fachkräftemangels oder wegen der demographischen Entwicklung -, gewöhnt sich eine Gesellschaft daran?
    Zick: Wir haben uns daran gewöhnt. Die meisten Menschen gewöhnen sich auch daran. In unseren Studien sind die allermeisten – das ist eine Mehrheit von fast 70 Prozent -, die sagen, ich bin stolz darauf, dass wir diese Flüchtlingszuwanderung geschafft haben, und die auch wissen, dass man von dieser Vielfalt sehr viel Nutzen hat. Außerdem, wir müssen bedenken: Wir sind doch schon multikulturell geworden. Jede fünfte Person hat eine Migrationsgeschichte und wenn man historisch mal vor den Krieg guckt, sind wir eine Migrationsgesellschaft. Man muss sich immer allen Gefahren stellen und tatsächlich über Belastungsgrenzen ernsthaft reden. Man muss sie nur bestimmen und nicht nur über nebulöse Bedrohung nachdenken und bei einem einzelnen Terrorfall die Migration in Frage stellen. Sondern das muss man annehmen, Konzepte entwickeln, und man muss vor allen Dingen den Menschen vermitteln, was für eine Migration stattfindet. Wir sehen: Wenn man Migration erklärt, dann beruhigt sich die Lage auch, und das fehlt uns.
    Kaess: … sagt Professor Andreas Zick. Er leitet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. Danke für das Gespräch heute Morgen.
    Zick: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.