Freitag, 19. April 2024

Archiv

Migrationsgeschichte
Kontinent der Flüchtlinge

65 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht, so viele wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Flucht und Integration bestimmen die aktuellen politischen Debatten. Dabei ist Migration kein neues Phänomen, sondern ein fester Bestandteil der europäischen Geschichte, wie der Historiker Philipp Ther in seinem Buch "Die Außenseiter" zeigt.

Von Johanna Herzing | 11.12.2017
    Buchcover: "Die Außenseiter" von Philipp Ther
    Buchcover: "Die Außenseiter" von Philipp Ther (Suhrkamp / dpa / Combo: Deutschlandradio)
    Was verbirgt sich hinter der Bezeichnung "Molukker", wo liegt "Rumelien" und wer bekämpfte sich eigentlich im "Karlistenkrieg"? Philipp Ther hat für sein neues Buch den ganz großen Rahmen gewählt. Nicht nur die bedeutendsten Fluchtbewegungen im Zuge verschiedener europäischer Kriege finden darin Platz. Sondern auch Bevölkerungsgruppen, Regionen, historische Ereignisse und Vertreibungsgeschichten, die heute fast vollkommen vergessen sind.
    Mitunter verlässt der Autor dafür sogar den europäischen Kontinent. Da geht es um die Auswirkungen der Dekolonisation in Afrika, die Situation in Nahost seit Gründung des Staates Israel oder die Fluchtmotive der Boatpeople aus Vietnam. Gut 500 Jahre Flucht- und Integrationsgeschichte ordnet Philipp Ther dabei nicht zeitlich, sondern nach Motivlage.
    Warum Menschen ihre Heimat verlassen
    Er unterscheidet drei Kategorien: Flucht aus religiösen Gründen, Flucht ausgelöst durch Nationalismus und politisch bedingte Flucht. Dazu der Autor:
    "Sonst hätte man auch ein Buch schreiben können was einfach einem chronologischen Ablauf folgt, aber das war mir zu simpel. Und ich finde schon, dass diese Unterscheidung hilft, um sowohl die Flucht zu verstehen, die Flüchtlinge und deren Motive und dann eben auch die Aufnahme und im günstigen Fall die Integration. Natürlich gibt es Überschneidungsbereiche - das ist völlig klar, ich sag auch nicht, dass man das völlig auseinander halten kann, aber ich glaub, es ist erstmal gut, klärt den Kopf und die Gedanken und dient der inhaltlichen Durchdringung."
    Ein Vorgehen, das mitunter gezieltere Vergleiche zulässt. So hat Philipp Ther auf der einen Seite ein Überblickswerk mit großer Detailfülle und weitem Horizont vorgelegt: Europa als eine Art Perpetuum mobile - ständig in Bewegung gesetzt durch Kriege und Herrscher, die Menschen wie Schachfiguren auf der Landkarte verschieben.
    Desintegration in der neuen Heimat
    Auf der anderen Seite belässt Ther es nicht bei der Beschreibung der Fluchtbewegungen, sondern fragt auch, was in den Jahren und Jahrzehnten passiert, nachdem die Menschen Zuflucht gefunden oder - neutraler ausgedrückt - nachdem sie sich niedergelassen haben. Armut, Hunger, Krankheit, Tod, Desintegration und politische Radikalisierung über Generationen - all das schildert der Autor an etlichen historischen Beispielen und mit vielen Zahlen belegt, aber auch in Kurzbiografien einzelner Flüchtlinge, die sich über das ganze Buch verteilt finden.
    Zugleich lenkt er den Blick auf Aufnahmegesellschaften, die sich aus verschiedenen Gründen solidarisch verhielten:
    "Es waren dann eben doch überwiegend religiöse, nationale oder co-nationale und politische Solidaritäten, die dazu benutzt wurden, um die Aufnahme von Flüchtlingen zu legitimieren und eben auch um Flüchtlinge zu integrieren, auf sie auch zuzugehen."
    Eben hier bewährt sich der nicht-chronologische Ansatz des Autors. Ther macht die von ihm erwähnten Solidaritäten in den verschiedensten Jahrhunderten aus: unter den protestantischen Fürsten und Königen, die im 18. Jahrhundert Hugenotten aus Frankreich aufnahmen. Bei den jüdischen Hilfsorganisationen, die bereits im 19. Jahrhundert Juden halfen, die vor Pogromen flohen, etwa im Russischen Reich. Aber auch in den westlichen Staaten, die zur Zeit des Kalten Kriegs Flüchtlinge aus den Ostblock-Ländern wohlwollend aufnahmen und aus politisch-ideologischen Gründen zeitweise zu wahren Heldengestalten aufbauten.
    Wie Aufnahmegesellschaften von Flüchtlingen profitieren
    Dabei ist Thers Buch beinahe durchgehend durchzogen von Kommentaren zur Situation unserer Tage, zur sogenannten "Flüchtlingskrise". Manches Mal wagt der Autor dafür große zeitliche Sprünge:
    "An die Beidseitigkeit und den Verhandlungscharakter der Aufnahme und der nachfolgenden Integration der Hugenotten sei hier auch deshalb erinnert, weil sie in der gegenwärtigen Asylgesetzgebung und bei der massenhaften Aufnahme syrischer und anderer Flüchtlinge seit 2015 fast völlig fehlen. Zwar haben die heutigen Flüchtlinge je nach Rechtsstatus einen Anspruch auf staatliche Sozialleistungen, aber sie werden nicht danach gefragt, mit welchem Ziel sie gekommen sind und wie sie ihre Zukunft gestalten wollen. [...] So gesehen, kann man keinen besonders hohen Grad an Identifikation mit dem aufnehmenden Staat erwarten, eher vielleicht mit gesellschaftlichen Gruppen, die Hilfe beim Start in ein neues Leben leisten."
    So will der Autor an die rationalen, durchaus utilitaristischen Motive erinnern, mit denen in der Vergangenheit die Aufnahme von Flüchtlingen legitimiert wurde.
    "Normative Argumente, das merkt man in letzter Zeit, reichen auch nur so und so weit. Wenn die Mehrheit einer Gesellschaft sich aus welchen Argumenten auch immer, vielleicht auch verführt durch Rechtspopulisten und durch diesen neu aufkommenden Nationalismus, gegen Flüchtlinge wendet, dann ist das erstmal so. Nur mit moralischen Argumenten kommt man auch nur so und so weit. Mein Punkt ist eigentlich nur der, dass ich schon auch betonen möchte, dass Flüchtlinge auch zum Wohlstand der Aufnahmegesellschaften fast immer beigetragen haben. Die wollen doch was! Die wollen sich wieder hocharbeiten. Da müssen sie natürlich auch dazu die Gelegenheit bekommen, dass sie es schaffen."
    Thers Vorgehen, das häufige Verknüpfen historischer Ereignisse mit der aktuellen europäischen Flüchtlingsdebatte, ist einerseits naheliegend, interessant und oft aufschlussreich. Andererseits wirkt es manches Mal assoziativ, verkürzt und dann eher kommentierend als argumentierend. Nicht alles lässt sich auf diese Weise gut nachvollziehen. Der Leser muss dann einfach glauben, es besser wissen oder an anderer Stelle vertieft nachlesen.
    Geschichte und Gegenwart
    So möchte man den Mut loben, mit dem Ther den Elfenbeinturm verlassen hat. Ein Buch über Flucht zu schreiben ohne zur Gegenwart Stellung zu beziehen, wäre absurd gewesen. Zugleich wäre man als Leser auf dem Weg ins Freie lieber die eine oder andere Treppenstufe mitgegangen statt sie im Laufschritt zu überspringen.
    Das mindert nicht den Gewinn, den dieses Buch bringt: Einen umfassenden Überblick über die Vielzahl selbst wenig bekannter Fluchtbewegungen sowie über die Härten und Risiken, denen Menschen auf der Flucht, aber auch noch danach ausgesetzt waren. Es erinnert zugleich an die Erfahrungen, die Gesellschaften im Umgang mit Flüchtlingen bereits gemacht haben und welche Handlungsoptionen erprobt wurden. Welche davon Erfolge brachten und welche bitter und tödlich endeten.
    Ein Panorama also des Gestaltungsspielraums in der Flüchtlingsfrage, aber auch die Mahnung, nicht immer wieder die gleichen Fehler zu machen.
    Philipp Ther: "Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa"
    Suhrkamp Verlag, 436 Seiten, 26,00 Euro.