Donnerstag, 28. März 2024

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Mikro-Biologie
Großer Lauschangriff auf die Natur

Ökologen starten einen Lauschangriff auf die heimische Natur. In ausgesuchten "Biodiversitätsexploratorien" postieren sie Hunderte Mikrofone, die die Lautäußerungen aus der Fauna permanent aufnehmen. Computer sollen dann hinkriegen, was ein Mensch zeitlich nie fertigbrächte: sie durchmustern das umfangreiche Ton-Material und liefern Hinweise auf Veränderungen im Artenspektrum.

Von Volker Mrasek | 30.08.2015
    Ein Buchenwald, dessen Äste in den Himmel ragen, fotografiert am Rande von Idstein in Hessen
    Derzeit montieren die Wissenschaftler zahlreiche unscheinbare Mikrofone in ausgesuchten Waldstücken. (picture alliance / dpa)
    Wer singt, quakt oder zirpt da vielleicht nicht mehr unter den Vögeln, Fröschen und Feldgrillen in einem unter Druck stehenden Naturreservat?
    Neue Technologie macht auch solche Geräusche hörbar, die bislang niemand auf dem Schirm hatte: Trockenstress etwa lässt Bäume regelrecht seufzen. Derzeit verteilen Wissenschaftler für diverse Projekte ihre Geräte in Wald und Feld. Unser Reporter Volker Mrasek hat sie begleitet und schildert die Chancen einer gerade im Entstehen begriffenen "Mikro"-Biologie.
    Das Manuskript zur Sendung:
    "So, wir machen jetzt erst mal eins: Um 'mal die Rekorder zu synchronisieren, da hätte ich ganz gerne einen Assistenten. Einfach beide Daumen hier auf die Record-Taste. Und wenn ich sage 'Los!', dann hier draufdrücken. Auf die Plätze, fertig, los! Es ist jetzt 19:39 Uhr. Und damit haben wir erst mal so eine Start-Synchronisation der Rekorder."
    Ein lauer Aprilabend im Nationalpark Unteres Odertal, direkt an der polnischen Grenze. Seggen und Schilf-Bestände prägen das Bild der Landschaft. In dem Feuchtgebiet gibt es seltene Sumpfhühner, Bekassinen und Blaukehlchen ... und Karl-Heinz Frommolt, der den streng geschützten Vögeln nachstellt.
    So, jetzt bauen wir den ersten auf. Vielleicht kann 'mal jemand ein Stativ mitbringen?"
    Frommolt leitet das Tierstimmenarchiv am Museum für Naturkunde in Berlin. An der Oder trifft er Ornithologen und andere Naturkundler, um sie mit einer besonderen Freiland-Technik vertraut zu machen. Einer der Teilnehmer ist eigens aus der Schweiz angereist, ein anderer kommt sogar aus New York City ...
    "So, wir können jetzt noch mal kurz einen Funktionstest machen, schauen, ob auch auf allen Kanälen etwas aufgezeichnet wird. Eins, zwei drei, vier. Die Drei ist ein bisschen schwach. Ah, jetzt ist der dritte Kanal auch da!"
    Bisher ist es so: Ein Ornithologe geht raus ins Gebiet, hört den Ruf einer Ralle oder den Gesang des Blaukehlchens und notiert das in seinem Notizbuch.
    Es geht aber auch ohne die Feld-Visite von Forschern. Stattdessen postiert man draußen Rekorder und Mikrofone. Vollautomatisiert zeichnen sie die ganze Konzert-Kulisse auf. Nicht die Ökologen, sondern ein Computer-Programm wertet den Datenwust anschließend aus und erkennt darin artspezifische Audiogramme ...
    "Der Koffer ist auch wetterfest. Wenn's da in der Nacht ein bisschen regnet - / da brauchen wir dann nicht panikartig nach draußen zu springen und die Technik reinzuholen."
    "Bioakustisches Monitoring" nennt sich das Ganze.

    Eine Bekassine
    Eine Bekassine (picture alliance / dpa / Willi Rolfes)
    "So, und jetzt fehlt nur noch eins. Wir müssen die Mikrofone richtig ausrichten. Dafür haben wir hier einen Präzisionskompass. Und dieses Ausrichten ist ein Grund, weshalb ich immer anfange zu drängeln, dass wir rechtzeitig aufbauen. Denn wenn's dunkel ist, wird's schwierig zu orten."
    Karl-Heinz Frommolt ist ein Pionier auf diesem Gebiet in Deutschland.
    Vier Rekorder postiert die Gruppe am Ende an verschiedenen Stellen der Feuchtwiese. Inzwischen hat die Dämmerung eingesetzt. Es wird spannend.
    - Zweimaliges Pfeifen-
    Das war noch nicht das ersehnte Tüpfelsumpfhuhn!
    Frommolt: "Nein, das war ich!"
    Doch wenig später erwacht das Schutzgebiet im Unteren Odertal hörbar zum Leben.
    "Also, Tüpfelsumpfhuhn. Drei Rufer, die da am Rufen sind."
    Der Schweizer Ornithologe Michael Lanz taucht ein in das Konzert der nachtaktiven Vögel.
    "Also, es ist einfach ein Ruf, den sie machen. Es ist nicht ein Gesang wie bei den Singvögeln ..."
    "... und dann noch Wasserfrösche, die da am Quaken sind."
    "Die Bioakustik hat natürlich schon länger das Ziel, Stimmen und Geräusche von bestimmten Tierarten hauptsächlich zu erfassen, das heißt über akustische Methoden die Identität von Arten, die in einem Habitat, in einem Ökosystem vorkommen, zu identifizieren ..."
    "Es entwickelt sich sehr stark weiter momentan. Und vor allem, was die automatisierte Erfassung von Arten anbelangt - da läuft momentan relativ viel."
    Michael Scherer-Lorenzen, Professor für Geobotanik an der Universität Freiburg und Bioakustiker.
    Es gibt Tierarten, die Zoologen sogar bevorzugt akustisch erfassen, Wale etwa oder Fledermäuse.
    Lexikon-Eintrag: "Fledermäuse. Nachtaktive Säugetiere. Rufe im Ultraschall-Bereich. Für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar. Erfassung mit Spezial-Detektoren. Umwandlung in hörbare Laute."
    "Dass man dort etwas weiter ist, hat unter anderem ja auch damit zu tun, dass man bei diesen Tiergruppen sonst überhaupt nicht weiterkommt ."
    "Lexikon-Eintrag: "Wale. Meeressäuger. Vorkommen bis in über 1000 Meter Tiefe. Verständigung durch gesangsähnliche Laute. Reichweite: Hunderte von Kilometern. Erfassung mit Unterwasser-Mikrofonen. "
    "Bei den Walen ist es ja so, dass man sie in der Regel nicht sieht, wenn sie da unter Wasser sind. Und bei den Fledermäusen kommt ja auch hinzu, dass man sie in der Nacht nicht sieht. Das ist also dann die beste Möglichkeit, die überhaupt nachzuweisen."
    Neues Bioakustik-Projekt mit ungewöhnlichen Ausmaßen
    "Bereits mit Entwicklung der Magnettonband-Technik gab's die ersten Versuche. Anfang der 50er-Jahre gab es schon eine amerikanische Untersuchung, wo man versucht hat, den nächtlichen Vogelzug anhand der Zug-Rufe zu dokumentieren."
    "Die Magnettonband-Technik war damals ja schon revolutionär gewesen. Man konnte nicht nur eine einzelne Aufnahme machen, sondern wirklich auch 'mal mehrere Minuten kontinuierlich hintereinander weg beziehungsweise auch Stunden."
    Heute haben Bioakustiker ganz andere Möglichkeiten. Speichermedien wie SD-Karten sind auf Briefmarkengröße geschrumpft, Rekorder wurden in ihrem Energieverbrauch optimiert. Dadurch laufen die Geräte länger.
    Die Zunft kann richtig aus dem Vollen schöpfen.
    Vom Nordosten in den Südwesten Deutschlands. Sandra Müller und Lisa Anhäuser sind mit einem Bus auf der Schwäbischen Alb unterwegs. Im Staatswald Reutlingen, rund 50 Kilometer südlich von Stuttgart ...
    "Hier wahrscheinlich, oder?"
    "Hier rechts 'rum. Oder warte!"
    "Wissen Sie, wo's lang geht?"
    "Wo wollt Ihr hinauf?"
    "Wir wollen zur 17."
    "17. Gottes Willen, 17!"
    "Ochsengarten" heißt das Waldgebiet - eher ein Irrgarten. Dichte Eichen- und Buchenbestände wechseln einander ab. Die ortsfremden Biologinnen finden nicht gleich das, was sie eigentlich suchen: ihre nächste Beprobungsfläche ...
    "Warte 'mal! Und jetzt?" "Jetzt hat er gesagt ..." "... hier 'rein."
    Am Ende landen die beiden aber doch da, wo sie hinwollen. In einem Waldstück, das auf ihrer Karte als weißer Punkt markiert ist. Das bedeutet: noch nicht erledigt.
    "Das sind die Rekorder. Da kommen jetzt Batterien rein. Acht Stück."
    Lisa Anhäuser und Sandra Müller gehören beide zur Arbeitsgruppe von Michael Scherer-Lorenzen in Freiburg. Auch die steigt jetzt in die Bioakustik ein, mit einem Projekt, das es in diesem Ausmaß noch nicht gegeben hat - weder in Deutschland noch anderswo in der Welt.
    "Wir laufen jetzt direkt auf eine kleine Wetterstation zu, eine eingezäunte Wetterstation."
    "Damit das Wild nicht reinkommt."
    Gleich 300 Rekorder haben sie in diesem Frühjahr aufgestellt. Nicht nur in Wäldern, sondern auch in Wiesen. Und nicht nur auf der Schwäbischen Alb, sondern auch noch an zwei Stellen im Osten Deutschlands. Im Nationalpark Hainich bei Jena. Und im Biosphären-Reservat Schorfheide-Chorin ...
    Jetzt den Kabelbinder festziehen!"
    Die Rekorder stecken in regendichten grauen Plastikkästen, groß wie Schuhkartons.
    "So, fertig!"
    "Der hängt jetzt an der Nordostecke des Zaunes, in ungefähr zwei Meter Höhe. Und nach Süden hoch, den kleinen Hang hinauf, legen wir dann gleich die Strecke, wo wir dann die Testaufnahmen machen."
    "Dann messen wir zwei jetzt die Strecke ein, Lisa?"
    "Ja."
    Mit den Wald- und Wiesen-Rekordern betreiben die Freiburger Soundscape Ecology. Scherer-Lorenzen übersetzt das mit Ökologie der Klanglandschaften.

    "Diese Klanglandschaft ist dann eben zusammengesetzt aus natürlichen Geräuschen. 'Biophonie' sagen wir auch dazu. Das sind also dann die Stimmen von Tieren. Dann gibt es aber auch natürliche Geräusche, die von der unbelebten Welt kommen, also Wind, Wellen, Wasserrauschen. Und schließlich gibt es natürlich auch noch menschengemachte Geräusche, was man dann auch als Anthropophonie bezeichnet."
    "Dann müssen wir noch mal uns verbinden, den Sender und Empfänger."
    "Unser Ziel ist momentan, dass wir ein komplettes Jahr an allen 300 Standorten, die ausgewählt worden sind, alle zehn Minuten für eine Minute eine solche Tonaufnahme machen. Deswegen kommen auch die großen Datenmengen zusammen."
    "Jetzt senden wir hier die Töne. Und es wird ziemlich laut und auch hochfrequent nachher. Also bis 20 Kilohertz. Und da wir dicht daneben stehen, tragen wir Ohrstöpsel."
    "Um dann zu schauen: Wie verhält sich diese Klanglandschaft über das ganze Jahr hinweg, aber auch über den Tag hinweg?"
    "Geh' 'mal noch zwei ... einen Schritt nach links!"
    "Unsere Idee ist eben, diese Klanglandschaft als Ganzes zu erfassen. Um zu schauen, ob sie Indikator sein kann für die biologische Vielfalt ..."
    "Noch 20 Sekunden"
    "... Indikator / für die Biodiversität in einem Ökosystem. /// Wie steht es um die biologische Vielfalt eines Ökosystems?"
    "Fünf ... und los!"
    "Also, die Hypothese ist tatsächlich so: Je vielfältiger ein Habitat ist, desto komplexer auch diese Klanglandschaft. Man könnte damit auch feststellen, ob sich in einem Habitat, in einem Ökosystem, Veränderungen vollziehen. Wenn wir mit solchen Methoden solche Ökosysteme beobachten. Ohne dass man jetzt relativ zeitaufwendig ins Gelände geht und alle Pflanzen- und Tierarten einzeln erfasst, was man in vielen Fällen einfach nicht machen kann."
    "Aktuell kann man sich auch vorstellen, dass im Rahmen des Klimawandels natürlich Veränderungen in Ökosystemen dramatisch ablaufen. Neue Tierarten wandern ein, Und so etwas könnte man über so ein akustisches Monitoring zum Beispiel ja auch erfassen."
    "Ja, und das wiederholen wir jetzt noch viermal. Um zu sehen, wie sich die Lautstärke der Signale über die Entfernung reduziert. Damit ich nachher bei meiner Auswertung weiß, aus welcher Entfernung ich überhaupt noch Aufnahmen bekomme auf das Mikrofon. Das kann an manchen Orten nur 50 Meter Radius sein. Und an anderen Stellen hab' ich dann vielleicht 100 Meter Radius."
    "So! Jetzt können wir wieder runtergehen."
    Die Orte für das Pilotprojekt sind mit Bedacht ausgewählt. Es sind sogenannte Biodiversitätsexploratorien, eingerichtet von der DFG, der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Gebiete, in denen eh schon Langzeit-Untersuchungen laufen.
    Wie unterscheiden sich Wildblumenwiesen und Weiden in ihrer biologischen Vielfalt? Wie Naturwälder und Forsten? Hier klinken sich die Freiburger bewusst ein.
    "Es gibt eben Arbeitsgruppen, die arbeiten über Fledermäuse, über Vögel, über Insekten. Und von daher können wir diese Daten auch nutzen, um sie dann mit unseren akustischen Daten zu korrelieren und zusammenzubringen. Und das ist eine Besonderheit, die weltweit fast einmalig ist. Es geht darum, an ausgewählten, repräsentativen Ökosystemen so etwas durchzuführen und diese Methoden zunächst einmal zu testen. Wie hört sich intakte Natur an? Und kann ich hören, wann intakte Natur sich verändert?"
    Die Bioakustik entwickelt sich weiter. Und bekommt einen neuen Ableger: die "Öko-Akustik". So heißt sie auch offiziell seit Juni vergangenen Jahres. Seit Gründung der Internationalen Gesellschaft für Ökoakustik auf einer Fachkonferenz in Paris. Dort arbeitet auch einer ihrer Wegbereiter ...
    Jérome Sueur durchmustert Tonaufnahmen an seinem Rechner im Museum für Naturgeschichte in Paris ...
    "Das ist tropischer Regenwald. Eine Aufnahme aus Französisch-Guyana in Südamerika. Im Vordergrund, das ist eine Gruppe männlicher Schrei-Pihas, eine ganz charakteristische Vogelart. Man hört sie sofort, sobald man in den Wald kommt."
    Lexikon-Eintrag: "Schrei-Piha. Etwa amselgroß. Zur Familie der Schmuckvögel gehörende Art. Verbreitungsgebiet Südamerika. Besonderes Merkmal: laute, peitschenartige Rufe."
    "Wir haben diese Aufnahmen vor fünf Jahren gemacht, etwa zwei Monate lang. Und dafür 24 Mikrofone aufgehängt, vom Boden bis in 20 Metern Höhe in den Baumkronen. Das lief alles vollautomatisch, mit fest installierten Rekordern. Zu der Zeit gab es kein anderes Projekt in diesem Umfang. Man kann schon sagen, dass es ein Stück Pionierarbeit war."
    Sueur blättert weiter in seinem Ton-Archiv ...
    "Eine Aufnahme aus Mexiko. Das ist ein Zikaden-Chor. Was sehr verblüffend ist: Alle Arten singen zur selben Zeit, so gegen 6 Uhr morgens. Und nach 15 Minuten hören sie schlagartig wieder auf. Das scheint überhaupt keinen Sinn zu ergeben. Aber schaut man sich das Ganze genauer an, stellt man fest: Jede Zikaden-Art belegt ein anderes Frequenzband - so wie verschiedene Sender im Radio. Die Tiere teilen sich also denselben akustischen Raum. Aber es scheint so, dass sie Konkurrenz vermeiden, indem sie individuelle Ton-Frequenzen benutzen."
    Der Verhaltensbiologe ist auch der ideale Ansprechpartner, wenn man sich fragt, wie das eigentlich genau funktioniert mit der Auswertung der ganzen Aufnahmen aus dem Freiland.
    "Wir machen heute alles mit Computern!"
    Jérome Sueur und seine Mitarbeiter entwickeln immer wieder neue Algorithmen. Die sind dann imstande, gesuchte Lautmuster in den umfangreichen Audio-Datensätzen automatisch zu erkennen - zum Beispiel das Schmettern des Schreipihas ...
    "Wir haben einen Doktoranden, der gerade einen Algorithmus speziell für diesen Vogel entwickelt. Um ihn in den Hunderttausenden soundfiles zu finden, die wir aus dem Regenwald haben. So erfahren wir, wo die Art überall vorkommt und wann sie aktiv ist. Wir können unsere Aufnahmen aber auch dazu nutzen, um die gesamte Klangkulisse des Waldes zu analysieren. Um zu sehen, wie sie sich verändert - im Tagesverlauf oder auch über Wochen und Monate."
    Automatisierte Auswertung der Aufnahmen
    Niemand hört all die Aufnahmen selbst durch. Auch der Freiburger Michael Scherer-Lorenzen erspart sich das bei seinem aufwendigen Projekt mit 300 im Land verstreuten Rekordern:
    "Das geht auch gar nicht. Es sind über 150 Terabyte an Daten. Da bräuchte man Tausende von Leuten, die es anhören."
    Jérome Sueur holt sich verschiedene Spektrogramme auf den Bildschirm. Es sind Grafiken, die die Klänge aus dem Urwald sichtbar machen. Sie zeigen die Tonhöhe, die Lautstärke und die zeitliche Abfolge der aufgenommenen Laute. Daraus ergeben sich Muster, die für Arten typisch sind. Oder auch für ein ganzes Ökosystem. Sueurs Programm erkennt diese Muster, wenn es die Audiodaten verarbeitet. Und spuckt am Ende seiner Berechnungen einen Wert aus. "Index" nennt er ihn ...
    "Wir können 'mal versuchen, einen solchen Index zu berechnen, den wir entwickelt haben, um eine ganze Klanglandschaft zu beschreiben. Ja, hier ist das Klangspektrum! Es zeigt, wie die ganzen Frequenzen verteilt sind. In diesem Fall sind die Laute im Bereich zwischen null und fünf Kilohertz am stärksten. Daneben gibt es noch eine Spitze bei acht Kilohertz. So, und wenn wir jetzt den Index für das berechnen lassen, was wir Entropie nennen, dann ... Moment bitte! ... kriegen wir einen Wert von 0,843. Das ist ziemlich hoch und sagt uns, dass wir es hier mit einer sehr komplexen und lautaktiven Lebensgemeinschaft zu tun haben.
    Sueur und einige Kollegen sind nach wie vor im Dschungel in Französisch-Guyana aktiv ...
    "Wir haben ein Projekt, bei dem wir nur einen einzigen Rekorder mit zwei Mikrofonen aufgestellt haben. Aber der läuft jetzt jahrelang! So wie eine Wetterstation. Nur dass wir permanent Naturklänge aufzeichnen. In einem tropischen Regenwald mit seiner unglaublichen akustischen Vielfalt."
    Sie konzentrieren sich dabei auf Tropenfrösche, mit denen sie sich inzwischen ganz gut auskennen, wie Sueur sagt.
    "Wir haben testweise einige kurze Ton-Sequenzen aus den Morgenstunden analysiert - zusammen nicht mehr als 15 Minuten. Und landen bereits bei 70 verschiedenen Lauten, die wir vermutlich einzelnen Frosch-Arten zuschreiben können! Es ist merkwürdig, dass so etwas nicht schon früher untersucht wurde. Was haut einen denn förmlich um, wenn man in den Regenwald kommt? Sicher nicht nur die hohe Luftfeuchtigkeit und die riesigen Bäume. Sondern auch die Geräuschkulisse! Aber vielleicht bin ich da ja auch nur hellhöriger als andere."
    Algorithmen statt Abhören - der Computer liefert den Ökologen Informationen, an die sie sonst niemals kommen würden. Noch ist die Zahl der Algorithmen für das akustische Biomonitoring überschaubar. Michael Scherer-Lorenzen:
    "Es gibt gerade einen sehr netten Übersichtsartikel von den Kollegen aus Frankreich, die die ganzen Algorithmen und Indices aufgelistet haben. Manche fokussieren eher auf die Tonhöhe oder Frequenz, andere eher auf die Intensität. Das sind über 25 inzwischen, die bestimmte Aspekte des Klanges und deren Veränderungen erfassen."
    Das ist natürlich nur ein erster Schritt. Gerade auch für Jérome Sueur, der davon träumt, komplexe Tier-Chöre in Einzelstimmen aufzulösen:
    "Wir müssen weiter an den Algorithmen und Indices arbeiten. Es wäre gut, und das ist auch eines unserer ersten Ziele - es wäre gut, wenn sie uns sagen könnten, wie viele Arten es sind, die auf einer Aufnahme zu hören sind. Und zu welchen Gruppen sie gehören. Sind es Vögel, Insekten, Frösche oder Säugetiere? Wir arbeiten daran. Aber so weit sind wir im Moment noch nicht."
    "Was als Erstes auffällt, sind diese lauten Knackser, die man hört. Diese sogenannten Kavitationspulse entstehen, wenn sich Gefäße schlagartig mit Luft füllen. Dann gibt's aber auch so tiefe Klänge, eher dumpfe Klänge. Da denke ich, dass das eher aus dem Boden kommt. Beispielsweise Wasser, das sich im Boden bewegt."
    Auch Nadelbäume können sich ausdrücken
    Auch Marcus Maeder lauscht den Kundgebungen der Natur. Nur stammen sie nicht von Tieren, sondern von einer Waldkiefer aus dem Schweizer Kanton Wallis.
    Lexikon-Eintrag: "Waldkiefer. Häufige Nadelbaumart. Über ganz Europa verbreitet. In den Alpen bis in 2.200 Metern Höhe. Aktuelle Entwicklung: In sommerwarm-trockenen Gebieten auf dem Rückzug."
    Nadelbäume wie eine Kiefer geben zwar keine Lock- oder Revierrufe von sich. Aber auch sie haben eine Art, sich auszudrücken ...
    "Die meisten Geräusche entstehen im Zuge der Transpiration, also des Wassertransportes in den Gefäßen. Es kommt zu wenig Wasser aus dem Boden nach, und dann reißt die Wassersäule und erzeugt Klickgeräusche. Also diese Impulse, die eigentlich rein physikalisch sind und dann aber als akustisches Signal an der Pflanzenoberfläche ankommen."
    Eine Waldkiefer (Pinus sylvestris) steht im Zoologischen Garten in Berlin.
    Eine Waldkiefer (Pinus sylvestris) steht im Zoologischen Garten in Berlin. (AP)
    Die Klicklaute sind eine Art Wimmern. Die Bäume treibt es dazu, wenn der Boden austrocknet und ihre Wurzeln kaum noch an Wasser kommen. Das wurde schon vor Jahrzehnten entdeckt. Doch dann geschah lange nichts.
    Marcus Maeder gehört zu den Wissenschaftlern, die die Bioakustik mit Pflanzen jetzt neu beleben. Und sagen, es lohne sich, auch bei ihnen genauer hinzuhören. Der Schweizer forscht am Institut für Klangtechnologie der Kunsthochschule Zürich und leitet ein einzigartiges Forschungsprojekt. Dafür wurde eine Waldkiefer mit Körperschall-Sensoren bestückt, wie sie Materialprüfer verwenden. Die Geräte registrieren nun jeden Mucks, den der Baum macht ...
    "Man hat beispielsweise in Kalifornien schon Reben mit solchen akustischen Sensoren ausgerüstet, die dann anschlagen, wenn der Trockenstress zu groß wird, am meisten Geräusche auftauchen und beispielsweise dann eine Bewässerung auslösen."
    Forstbäume und Kulturpflanzen hadern immer stärker mit dem Klimawandel.
    "Für die Biologen ist es halt wirklich interessant, weil viele dieser Geräusche Stress-Indikatoren sind und man dann diese Stressreaktionen untersuchen kann."
    "Also, wir wollen eigentlich wissen, was wann wo im Baum geschieht. Ich glaube, dort liegt ein recht großes Potenzial, auch Dinge zu hören, die auf die Weise gar noch nicht untersucht wurden."
    Womöglich geraten auf diese Weise sogar alte Lehrsätze ins Wanken.
    Eine interessante Frage ist zum Beispiel, wie Wasser in Bäumen von der Wurzel bis in die Wipfel gelangt. Wirklich allein dadurch, dass die Pflanzen über ihre Blattöffnungen ständig Wasser verdunsten? Sodass in ihren Leitbahnen ein sogenannter Transpirationssog von unten nach oben entsteht?
    Es gibt Stimmen, die sagen: Bei Baumriesen müsse es einen weiteren Fahrstuhl-Mechanismus geben. Die These: Aufsteigende Gasblasen in den Gefäßen sind daran beteiligt, das Wasser bis ins Kronendach hochzuhieven.
    "Und wir haben auch das Gefühl, dass es das ist, was man hört, wenn man sich beispielsweise diese Aufnahme anhört."
    "Habt ihr den schon angemacht, den Rekorder?"
    "Nee."
    "Sollen wir ihn noch anmachen?"
    "Ja!"
    Blubbernde Bäume, nachtaktive Vögel, ökosysteme, die von sich hören lassen. Die Bio-Akustik wagt sich auf neue Felder vor.
    "Hat auch nichts geblinkt jetzt. Alles in Ordnung."
    Das Ganze ist auch ein Versuchsballon. Lohnt sich der große technische Aufwand?
    "Nur die letzte Messung noch mal?"
    "Genau! noch mal ab fünf Kilohertz."
    Wird es möglich sein, Algorithmen für die automatische Arterkennung zu entwickeln, die intelligent genug sind? Und was die noch jungfräuliche Öko-Akustik anbelangt: Geben Natur- und Kulturlandschaften wirklich neue Geheimnisse preis, wenn man sie unentwegt belauscht?
    Diesen Beweis müssen die neuen Mikro-Biologen erst noch antreten.
    Erfolgsgeschichten? Nein! Haben wir noch nicht. Wir stehen erst am Anfang einer Geschichte, die sich entwickelt.
    "Diese Ökologie der Klanglandschaften wird, denke ich, einen gewissen Anteil haben, wenn es darum geht, Umwelt zu beobachten. Wenn es darum geht, die Qualität und Integrität auch von städtischen Parks zum Beispiel über die Zeit zu dokumentieren."
    Unsere Zielrichtung ist in erster Linie der Naturschutz. Es geht darum, zum Beispiel den Managern von Nationalparks ein zusätzliches Werkzeug an die Hand zu geben. Die Leute warten nämlich darauf! Viele machen schon jetzt eifrig Tonaufnahmen in Schutzgebieten - einfach, weil es heute Geräte dafür gibt. Eine Schlüsselaufgabe für die Öko-Akustik wird es sein, alle nützlichen Informationen herauszufiltern, die in diesem Material schlummern.
    "Es kann durchaus sein, dass irgendwann 'mal die Forderung kommt: Also, bevor jetzt eine Baumaßnahme ist: Dokumentiert auch akustisch die Umgebung!"
    "Gut. Jetzt gibt's eigentlich nichts mehr zu besprechen. Jetzt packen wir ein und fahren zur nächsten Untersuchungsfläche."
    Sie hörten "Mikro-Biologie. Großer Lauschangriff auf die Natur"
    Von Volker Mrasek.
    Produktion: Claudia Kattenak
    Regie: Christiane Knoll