Freitag, 29. März 2024

Archiv


Mikrokosmos Bonner Republik

Leo Münks, Verfassungsschützer, und Gregor Korff, Ministerberater - zwei politisch-demokratisch Aktive durchleben die letzten Jahre der Bonner Republik um die Wendezeit. Gregors große Liebe war Stasispitzel, Leo Münks sieht sich konfrontiert mit der Radikalität eines ehemaligen Freundes.

Eine Besprechung von Harro Zimmermann | 24.06.2009
    "Sie wollte weiter. Vorwärts. Gregor wollte aber bleiben. Er war fürs Erste angekommen, auch wenn er ihr das nicht sagte. Gregor sagte stattdessen: Du hast recht, mit mir ist nichts anzufangen. Er sagte: Nein, ich habe keinen Lebensplan, du hast recht. Er sagte: Vorwärts möchte ich gerade nicht. "Ich bleibe erst mal hier. Dann schmetterte Carla die Tür und grüßte ihn bis zu ihrem Abschied aus Speyer nur noch mit einem knappen Kopfnicken aus der Distanz."

    Nein, dieser Gregor Korff ist keiner, der immer nur geradeaus will, kein Planer, kein Macher, kein Draufgänger und schon gar kein Frauenheld. In der Liebe hat er noch weniger Glück als im Auf und Ab seiner Berufskämpfe. Einer ganz normalen mittel- und norddeutschen Kindheit entstammt er, der Twen-Leser und Beckettbegeisterte, der Hemingway-, Faulkner- und Capote-Leser, den es später zum Studium nach Berlin verschlägt, in die Arme des K-Gruppen-Wesens, seinem "Orden", in die konspirative Nähe zum Großen Vorsitzenden. Doch schon nach zwei Jahren zeigt er sich geheilt vom Wahn und von der Paranoia linker Politisierung, lieber spielt er nun Fußball, schließt sein Politikstudium ab, und beginnt an eine ordentliche berufliche Zukunft zu denken. Er ist noch einmal davon gekommen, dieses Gefühl von damals wird ihn durch sein ganzes Leben begleiten. Aber dieses Leben ändert sich nach der großen Erregung von 1968 von Grund auf. Und vor allem – Gregor, der seine akademische Abschlussarbeit über den Begriff der innerstaatlichen Feinderklärung geschrieben hat, beginnt sich mit seinem Land, dem wirtschaftsblühenden deutschen Teilstaat, mehr und mehr auszusöhnen. Ringsumher sprießen die Karrieren der Kommilitonen und Freunde von einst nur so aus dem Boden, BND-Mitarbeiter werden sie, oder Strafverteidiger, oder Professoren und Archivare. Und auch Gregor selbst verschlägt es mitten ins Herz der Macht, er wird nach einigen universitären Umwegen Referent eines einflussreichen Politikers. Wie ein Fisch im Wasser bewegt sich Gregor für einige Zeit im politischen Element der provisorischen Hauptstadt Bonn. Die Bonner Republik, überhaupt der Rückzug in den rheinisch-frohsinnigen Westen wird jetzt, so könnte man glauben, zur friedvollen Heimat eines erfolgreichen Mannes.

    Doch das währt nicht ewig. Es kommt eine Zeit, in der er sich nicht mehr so erfolgreich und zufrieden vorkommt, sondern eher wie ein ungebundenes und nichtsnutziges Wesen. Denn es ist ganz und gar nicht einfach, sein ironisches und optimistisches Temperament zu bewahren angesichts der Veränderungen von 1989, des Wandels von der Bonner zur Berliner Republik:

    Niemand von denen, die tagsüber über die Flure der Ministerien schlichen oder zur Sitzung des Parlaments ins Wasserwerk eilten, liebte wirklich Bonn: außer Gregor. Niemand wusste aber auch, außer seinem Freund Leo und vielleicht Anita, wie weit der Weg gewesen war, vom Zonenrandgebiet aus über Westberlin und die Schriften der Väterchen Stalin und Mao, über Göttingen und Speyer bis ins Regierungsviertel der Bonner Republik. Die Straßen, durch die er jeden Abend nach Hause ging, mit ihren freundlichen Häusern aus der Gründerzeit, waren für ihn das Inbild des größtmöglichen Glücks ... Diese Häuser hier vertrieben in ihrer Freundlichkeit auch noch den nachzitternden Schrecken über die Jahre im Schulterschluss und vor den Fabriktoren, mit Flugblättern in der Hand. Alles in allem waren sie ein Abbild des Davongekommenseins, nicht nur seines persönlichen, sondern des ganzen Landes, zumindest seines westlichen Teils. Das alles schien jetzt, nachdem die Geschichte zurückgekehrt war, höchst gefährdet, das war dem politischen Meisterdenker Gregor Korff natürlich klar.

    In diesem Deutschland nach 1989, in dem sich scheinbar die Vergangenheit dräuend zurückgemeldet hat, entsteht eine vollkommen veränderte Welt. Und Gregor, der politische Analytiker, begreift sie immer weniger, schlimmer noch, die Turbulenzen dieser Wirklichkeit mutieren zu seinen eigenen, auch sein Leben wird zunehmend unübersichtlich. So hintergeht er den alten Freund Leo mit dessen Frau und wird seinerseits ausspioniert durch eine ehemalige Stasimitarbeiterin, wodurch er seinen illustren Bonner Job verliert. Irgendwann muss er sogar seinen geliebten Borgward, diese Reminiszenz an das gute alte Deutschland, verkaufen. Als dann auch noch Carl Schelling, der Genosse aus alten Tagen, von den Sicherheitsbehörden verhaftet und zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wird, weil er geplant hatte, das deutsch-patriotische Niederwalddenkmal in die Luft zu sprengen, lässt der Freundeskreis um Gregor, Leo und Anita den utopischen Überschwang von einst in eine neuerliche Politposse umschlagen. In einer spontanen Aktion sorgen sie für die gewaltsame Befreiung des Freundes und bringen ihn unter verschwörerischen Umständen mit neuer Identität in den Niederlanden in Sicherheit. Eine politisch hochgemute Tat mit nichts als privatistischen Folgen - immerhin. Derweil ziehen Politik und Zeitgeschichte, deutsche Einheit und weltweite Staatsaktionen, wie Nachrichtenkulissen am Alltag dieser ergrauten Aktivisten vorbei.

    Ihre Welt ist das nicht mehr, und auch Gregor kann kaum länger behaupten, er bekomme sein Leben noch in den Griff, alltäglicher Gleichmut, eine Art Zeitverlorenheit scheint sich bei ihm und seinen Freunden einzunisten. Der präsenten Agilität der Generation Berlin setzt Schimmang noch einmal die abgeklärte Klugheit einer müde gewordenen Alterskohorte von Individualisten gegenüber. Mögen sie auch gelegentlich komisch wirken, sie leben ihr Leben im Zentrum der Abgeschiedenheit, in der Provinz, aber noch ihr resignativer Habitus steckt voller Fantasien. Auch Jochen Schimmangs neues Werk ist also, wie zum Beispiel der "Schöne Vogel Phönix" von 1979 und die "Murnausche Lücke" von 2002, ein Gedächtnisbuch geworden, eine beachtliche Generationsstudie zur 68er Revolte und ihren Nachwirkungen. Den Protagonisten des Romans widerfährt Politik zuerst als Faszinosum ihrer kollektiven Utopie, dann als Verwirrspiel der konkreten Mitverantwortung, und schließlich als Farce einer nachgeholten Rebellion. Über ihre Köpfe hinweg hat sich die Bonner zur Berliner Republik verfremdet, aber in den Tiefen ihrer weltkundigen Ratlosigkeit vibriert noch die Sehnsucht nach dem Besten, was diese Generation einst besaß - die Utopie der gemeinsamen Befreiung, die lustvollen Momente einer erfüllten Selbstgewissheit.

    Jochen Schimmang: Das Beste, was wir hatten. Roman. Edition Nautilus 2009, 319 S.