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Mikrokredite aus dem Lieferwagen

Armut, Kriminalität, hohe Arbeitslosigkeit. Die Probleme in den französischen Banlieuesiedlungen sind groß. Mit Hilfe von Mikrokrediten wird immer mehr Banlieuebewohnern die Möglichkeit gegeben, ihren eigenen Arbeitsplatz zu schaffen.

Von Bettina Kaps | 06.05.2011
    Rachid Ech Chetouani steigt in seinen weißen Lieferwagen. "Gewerbedarlehen" steht groß auf der Schiebetür. Ech Chetouani ist Kreditberater, er arbeitet für ADIE, eine gemeinnützige Organisation, die Kleinkredite für Existenzgründer vergibt. Zweimal pro Woche macht er seinen Job im Auto. Diesmal fährt er nach Clichy-la Garenne, in den Norden von Paris. Dort angekommen parkt er seinen Wagen quer auf dem Bürgersteig, zwischen einem 15-stöckigen Wohnblock und einem Jobcenter.

    "Wir wollen auf potenzielle Firmengründer zugehen, dafür müssen wir vor Ort sichtbar sein. Hier, vor dem Jobcenter, kommen viele Arbeitslose an unserem Wagen vorbei. Manche haben Ideen und brauchen Beratung, um ein Firmenprojekt zu entwickeln. Andere haben schon ein Projekt, aber kein Geld, um es zu verwirklichen. Die meisten kennen ADIE nicht."

    Rachid Ech Chetouani öffnet die Schiebetür: Ein Tisch, zwei Wandschränke, vier Klappstühle kommen zum Vorschein - der Laderaum ist als Büro eingerichtet. Der Kreditberater legt sein Laptop auf den Tisch, holt Unterlagen aus der Tasche. Ein Mann in Lederjacke, Jeans und Turnschuhen setzt sich zu ihm in den Wagen: Joel Assi ist arbeitslos und will sich jetzt selbstständig machen. Der 30-Jährige hat ganz genaue Vorstellungen.
    "Ich will als Event-Manager arbeiten, ich habe schon Konzepte für große Feste wie Hochzeiten entwickelt. Jetzt brauche ich ungefähr 5.000 Euro Startkapital. Ich will mir zwei Computer kaufen. Außerdem muss ich den Führerschein machen, weil ich auch im ländlichen Raum arbeiten will und dafür muss ich spät in der Nacht beweglich sein."

    Ech Chetouani nimmt eine Personalakte, notiert den Namen des Mannes, seinen Werdegang, seine finanzielle Lage und sein Projekt. Dann erklärt er, was ADIE leisten kann, falls sein Vorhaben akzeptiert wird.

    "Wir bei ADIE begleiten unsere Kreditnehmer. Ich schlage Ihnen daher ein Treffen mit einem unserer ehrenamtlichen Berater vor. Wir können das Projekt dann mit Ihnen zusammen besprechen und versuchen, ihre Risiken zu verringern. Es kann sehr hart sein, einen Kredit zurückzubezahlen."

    Rachid Ech Chetouani arbeitet seit fünf Jahren bei ADIE. In dieser Zeit hat er etwa 300 Firmengründungen finanziert, vor allem in den Bereichen Handel und Dienstleistungen. Die Überlebensrate zwei Jahre nach der Existenzgründung liegt mit rund 70 Prozent über dem nationalen Durchschnitt, sagt er.

    Auf dem Rückweg zu seinem Büro kommt er durch eine Hochhaus-Siedlung. Das Viertel ist für Bandenkriege bekannt, erst wenige Tage zuvor wurde dort ein 15-Jähriger erstochen. Aber in sozialen Brennpunkten wie diesem gibt es auch positive Entwicklungen. So belegen mehrere Studien, dass die Menschen in den sozial benachteiligten Vorstädten besonders geschäftstüchtig sind: Die Bevölkerung ist jung und dynamisch, mehr als ein Viertel aller Bewohner möchte eine Firma gründen.

    "Diese Lust, die spüren wir. Die Menschen sind gezwungen, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen, weil sie oft schlecht ausgebildet sind, verarmt, und weil sie auf dem Arbeitsmarkt eindeutig diskriminiert werden. Vielen bleibt nichts anderes übrig: Sie schaffen sich ihre eigene Stelle."

    Rachid Ech Chetouani geht an einem Hochhaus vorbei, dessen Dach gerade repariert wird. Ein junger Mann manövriert einen Fassadenlift, der die Handwerker in die Höhe befördert. Als er den Kreditberater sieht, macht er kurz Pause, und begrüßt ihn mit Handschlag. Auch Karim ist Kleinunternehmer.

    "Ich habe einen Mikrokredit aufgenommen, um diesen Fassadenlift zu kaufen, den ich zum Arbeiten brauche. Ich wollte unbedingt meine eigene Firma gründen, und dafür brauchte ich Geld. Die Banken vertrauen einem wie mir nicht, zum Glück bin ich auf ADIE gestoßen."

    Sein Auftragsbuch ist so gut gefüllt, sagt Karim, dass er den Kredit schon fast abbezahlt hat. Rachid Ech Chetouani zeigt auf eine Kneipe: Auch in diese Bar hat ADIE Geld gesteckt. Der Besitzer war zuvor arbeitslos, vor vier Jahren hat er sich mit dieser Wirtschaft seinen eigenen Job geschaffen.

    "Es gibt neue Marktlücken, vor allem im Bereich ethnische Ökonomie. Die Globalisierung hat in den Banlieue-Siedlungen früh eingesetzt, vor allem auf dem Schwarzmarkt. Afrikanische Mütter haben Gewänder und Stoffe aus ihrer Heimat mitgebracht und verkauft. Andere Bewohner haben mit Drogen gehandelt. Import-Export ist hier an der Tagesordnung. Der Drang zum Unternehmertum ist hier nichts Neues, aber jetzt werden in den Banlieues immer mehr richtige Firmen gegründet."