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Atlanta
Auf den Spuren von Martin Luther King

Mit seinem Konzept des gewaltlosen Widerstands war Martin Luther King Leitfigur für eine ganze Generation von jungen aufstrebenden Afroamerikanern, die für gleiche Rechte und Chancen kämpften. In seiner Heimatstadt Atlanta ist Dr. King, wie er hier respektvoll genannt wird, noch immer überall präsent.

Von Jeanette Seiffert | 02.04.2018
    Blick auf Atlanta im US-Bundesstaat Georgia
    Blick auf Atlanta im US-Bundesstaat Georgia (picture alliance / dpa / Carsten Rehder)
    Eine Straßenbahn mit leuchtend blauen Wagen schiebt sich durch die "Auburn Avenue". Gerade mal zwölf Haltestellen hat die einzige Linie des "Atlanta Streetcar". Seit gut drei Jahren bringt sie Touristen von der Innenstadt nach "Sweet Auburn", dem historischen Stadtviertel im Herzen der Südstaatenmetropole, nur ein Spaziergang von Downtown Atlanta entfernt. In einer Art Freilichtmuseum sind entlang der Straße eine ganze Reihe von Sehenswürdigkeiten rund um das Leben und Wirken von Martin Luther King aufgereiht. Sie sind zu einer regelrechten Pilgerstätte der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung geworden.
    Schräg gegenüber vom Martin-Luther-King-Besucherzentrum liegt die historische Ebenezer Baptist Church. Der junge Martin Luther King hielt in der schlichten Kirche seine ersten Predigten. Schon sein Vater und sein Großvater waren Pastoren der Baptistengemeinde. Heute gehört die Kirche ganz den Touristen: Die Gemeinde der Ebenezer Church ist vor Jahren in den Neubau gegenüber gezogen, im historischen Kirchengebäude finden nur noch zu besonderen Gelegenheiten Gottesdienste statt. Eine Holztreppe führt nach oben in den Kirchenraum. Aus einem Lautsprecher dröhnen Mitschnitte aus früheren Gottesdiensten - Martin Luther Kings wortgewaltige Predigten in Dauerschleife.
    Auf den einfachen Holzbänken im Kirchenschiff sitzen ein paar Besucher und lauschen andächtig. Die 25-jährige Paula, eine schlanke Afroamerikanerin mit kurz geschnittenen Haaren, ist eigentlich geschäftlich in Atlanta und nur auf einen Abstecher nach Sweet Auburn gekommen.
    Mord an King war der Moment von Jeannis Politisierung
    Sie sei sehr glücklich darüber, mehr über Martin Luther King zu erfahren und seine Worte an diesem historischen Ort zu hören. Es sei für sie Erinnerung und Ermutigung, sich für die Dinge einzusetzen, die einem wichtig seien.
    Immer habe er an seiner Mission festgehalten: gleiche Rechte und Freiheit für alle - auch wenn er wusste, dass er selbst es wahrscheinlich nicht mehr erleben würde, dass dieser Traum wahr wird.
    Nur ein paar Schritte von der Ebenezer Baptist Church entfernt, in der Mitte eines Wasserbeckens, steht der marmorne Sarkophag, in dem Martin Luther King und seine Frau Coretta beigesetzt sind. Daneben lodert eine ewige Flamme, die tapfer dem prasselnden Frühlingsregen standhält. Jeanni Cyriaque, eine kleine, resolute Frau mit krausen grau melierten Haaren, klammert sich an ihren bunt gemusterten Schirm. Die 67-Jährige ist auf dem Weg zu einem Termin im Viertel. Trotz des ungemütlichen Wetters bleibt sie einen kurzen Moment vor der flackernden Flamme stehen, wie immer, wenn sie hier vorbei kommt.
    1963 habe sie Martin Luther King persönlich erlebt, erzählt sie, bei einer Veranstaltung in ihrer Heimatstadt Chicago. Obwohl sie damals erst 13 war, sei sie tief bewegt gewesen. Eigentlich könnte die Soziologin schon im Ruhestand sein, doch ihre Mission lässt sie einfach nicht los: das Erbe der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung für die Nachwelt zu erhalten. Seine Ermordung vor 50 Jahren sei der Moment ihrer Politisierung gewesen. 17 Jahre alt war sie damals und Sprecherin der Abschlussklasse an ihrer High School.
    Die schwarzen Schüler an ihrer Schule entschieden sich, als Zeichen der Trauer eine schwarze Armbinde über der Schuluniform tragen. Der Schuldirektor habe sie in sein Büro gerufen und sie zwingen wollen, dafür zu sorgen, dass die Schüler ihre Binden abnehmen. In diesem Augenblick sei ihr klar geworden, dass sie Teil der Bürgerrechtsbewegung werden würde.
    Sie weigerte sich - und gab auch nicht nach, als der Rektor ihr androhte, sie nicht die Abschlussrede ihres Jahrgangs halten zu lassen.
    Martin Luther Kings Geburtsort
    Einige Schritte weiter die Straße hinauf stehen einige stilecht renovierte Holzhäuser, jedes mit der für die Südstaaten-Architektur so charakteristischen kleinen Veranda davor. Die Siedlung wurde Ende des 19. Jahrhunderts von den Nachfahren deutscher Einwanderer gegründet. Auf der rechten Seite, neben einem historischen Buchladen, steht die Nummer 501: ein zweistöckiges hellgelbes Holzhaus mit dunkelbraunen Fensterläden. Hier wurde Martin Luther King 1929 geboren.
    Ranger Jenkins, ein 30-jähriger breitschultriger Veteran der US-Armee, führt ehrenamtlich Besucher durch die Räume.
    Die Familie King lebte dort, bis Martin, das mittlere von drei Geschwistern, 12 Jahre alt war. Damals sei das einfach ein hübsches Haus im Queen Anne-Stil aus der Viktorianischen Ära gewesen – typisch für die Architektur in den USA im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert.
    Als Dr. King dann berühmt wurde, sei auch das Haus berühmt geworden. Seine Nachfahren haben es liebevoll mit zum Teil originalen Einrichtungsgegenständen in den Zustand der späten 1930er-Jahre zurückversetzt. Im Empfangsraum steht das Original-Klavier der Familie. Ranger Jenkins würzt die Führung mit Anekdoten aus King's Kindheit: Wie er und sein Bruder versuchten, mit diversen Streichen die Klavierlehrerin los zu werden, weil sie ihren Unterricht verabscheuten. Wie er auf der Toilette Comics las, anstatt beim Abwasch zu helfen.
    Beim Abendessen habe es eine eiserne Regel gegeben: Ehe Vater King am Abend nicht von seiner Arbeit in der Ebenezer-Kirche zurückgekehrt war, durfte sich die Familie nicht an den Essenstisch setzen – auch wenn es mal 8 oder 9 Uhr wurde.
    Zu Lebzeiten Martin Luther Kings war "Sweet Auburn" das angeblich wohlhabendste Schwarzen-Viertel der Welt: Die allgegenwärtige Rassentrennung zwang die kleine aufstrebende afroamerikanische Mittelschicht, eine eigene Infrastruktur aufzubauen. Sie gründeten Friseurläden, Banken, Beerdigungsunternehmen; im Gebäude neben Martin Luther Kings Geburtshaus entstand die "Atlanta Daily World", die erste schwarze Tageszeitung in den USA. Bis heute ist es die von Afroamerikanern meistgelesene Zeitung in der Region. Nachtclubs, Bars und Cafés entlang der Auburn Avenue machten das Viertel auch zu einem kulturellen Treffpunkt für die afroamerikanische Community.
    Das einstige Flair eines Ausgehviertels
    Wie die Familie King, zogen in den 50er- und 60er-Jahren viele wohlhabendere Schwarze in Atlantas gehobene Stadtviertel. Der Niedergang von Sweet Auburn begann.
    Heute ist von dem einstigen Flair eines Ausgehviertels nicht mehr viel zu spüren. Die gewaltigen Betonpfeiler der Interstate 75 durchschneiden das Viertel. Jenseits der Schnellstraße beginnt der triste Teil der Auburn Avenue: Leer stehende Läden und marode Gebäude prägen das Bild.
    Dasselbe sei in vielen US-Städten geschehen, sagt Bürgerrechtsexpertin Jeanni Cyriaque. Ob in der Hauptstadt Washington oder in ihrer Heimatstadt Chicago: Überall wurden Schnellstraßen gebaut, die mitten durch Schwarzenviertel führen.
    Ja, es schmerze sie noch immer, das zu sehen, sagt Jeanni. Doch zum Glück gebe es heute viele Menschen, die daran arbeiten, das Viertel wieder zu dem zu machen, das es einmal war, als man ihm den Namen "Sweet Auburn" gab.
    Einige hundert Meter weiter liegt auf der linken Seite der regennassen Straße, in einem unscheinbaren Backstein-Haus mit roter Markise, das APEX-Museum.
    Dan Moore geht leicht gebückt und spricht mit leiser Stimme. Er hat das Museum 1978 gegründet. Auf wenigen Quadratmetern will der 79-Jährige Besuchern aus aller Welt die Geschichte aus der Perspektive der Schwarzen nahebringen. Heute ist der ganze Jahrgang einer High School zu Gast. Für Moore ist das Museum zu einem Lebensprojekt geworden. Mit seinem Museum wolle er ein vollständigeres Bild der afroamerikanischen Kulturgeschichte liefern: in Kunst, Wissenschaft und Architektur. Eine Geschichte, die nicht erst mit der Sklaverei anfange.
    Schwarze waren nicht immer nur Sklaven und Diener – das ist seine zentrale Botschaft. Es sei wichtig, das den Kinders so früh wie möglich zu vermitteln. Staatliche Mittel bekommt er dafür nicht. Das APEX-Museum finanziert sich fast ausschließlich über Eintrittsgelder und ein paar Spenden.
    Von der Revolution mitgerissen
    Wer Glück hat, trifft dort auf Tyrone Brooks, einen engen Freund Moores – und ein Weggefährte Martin Luther Kings. Der 72-jährige Afroamerikaner mit federndem Gang war bis vor drei Jahren Abgeordneter im Repräsentantenhaus des Bundesstaats Georgia. Brooks trägt einen schwarzen Nadelstreifenanzug mit rotem Einstecktuch. Seine Jugend war geprägt von den Fernsehberichten über den charismatischen Führer Martin Luther King: Das Idol der Bürgerrechtsbewegung war auch sein großes Vorbild.
    Er und seine Mitschüler seien von seiner Revolution geradezu mitgerissen worden, erzählt er, und seine Augen hinter den schwarz umrandeten Brillengläsern leuchten. Mit gerade einmal 14 Jahren trat er in die SCLC ein, die "Southern Christian Leadership Conference". In den 50er- und 60er-Jahren war sie eine treibende Kraft der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Er werde den Tag nie vergessen, an dem er sein Idol zum ersten Mal persönlich traf, erzählt Brooks. In Worrenton, Georgia – seiner Heimatstadt.
    King war auf dem Weg zu einer Veranstaltung in Charleston und machte in Worrentan einen Zwischenstopp. Brooks, damals knapp 16 und im Afro-Look, baute gemeinsam mit anderen Aktivisten ein Picknick für Martin Luther King und seine Delegation auf, mit Sandwiches und selbst gemachter Limonade. Als King schließlich aus einem der Autos stieg – mit hochgekrempelten Ärmeln und gelockerter Krawatte – sei er fast ein bisschen enttäuscht gewesen.
    Sie alle hätten einen Mann mit großer Statur erwartet – doch King war eher klein gewachsen und sah mit seinen 31 Jahren selbst noch aus wie ein Student.
    Damals gab es noch keine Mobiltelefone, daher konnten sie keine Selfies mit ihm machen, lacht er – leider. Er wünsche, es habe sie damals schon gegeben – die Bürgerrechtsbewegung wäre auch im Internet sehr aktiv gewesen.
    Das sei der Beginn seiner Lehrzeit als Bürgerrechtsaktivist gewesen. Später wurde er hauptamtlicher Mitarbeiter der SCLC. Nach der Ermordung von Martin Luther King verlor die Organisation viele aktive Mitglieder – Tyrone Brooks aber blieb dabei, bis heute. Was hat sich seitdem geändert für die afroamerikanische Bevölkerung in den USA?
    Immer noch Anstrengungen notwendig
    Alles ist anders geworden, doch es hat sich nichts geändert – dieser Satz von Martin Luther King gelte noch immer.
    Immerhin könne er heute als Schwarzer mit einer weißen Frau in einem Raum an der Auburn Avenue sitzen – ohne Angst zu haben, vom Klu-Klux-Clan angegriffen zu werden.
    Der Erhalt von Sweet Auburn als einem historisch bedeutsamen Ort sei wichtig – nicht als eine Art Disneyland, wo man Spaß haben, sondern an dem man etwas über die Anstrengungen lernen kann, die noch immer notwendig seien.
    Erst kürzlich hat US-Präsident Donald Trump das historische Viertel rund um das Geburtshaus von Martin Luther King zur "National Historic Site" erklärt. Die Anerkennung als Nationales Geschichtserbe könnte den Sehenswürdigkeiten in der Auburn Avenue mehr Besucher bescheren – und damit auch dem APEX-Museum. Viel wichtiger sei es aber, sich mit der Bedeutung von Martin Luthers Konzept des gewaltlosen Widerstands auseinanderzusetzen, sagt Brooks. Wer ihn ehren wolle, der solle nicht auf Gebäude und Straßennamen starren, sondern jeden Tag aufstehen und dessen Arbeit weiterführen.