Donnerstag, 18. April 2024

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Milo Rau inszeniert "Lam Gods" in Gent
Gott und die Welt

Mit der Produktion "Lam Gods" eröffnen der neue Leiter Milo Rau und sein Team die Saison am Genter Stadttheater NTGent. Leitmotiv ist eine Ikone der Stadt: der berühmte "Genter Altar" der Brüder van Eyck aus dem 15. Jahrhundert.

Von Eberhard Spreng | 29.09.2018
    Szene aus Milo Raus neuem Stück "Lam Gods": Ein Schäfer steht am Zaun, hinter dem sich einige Schafe befinden
    Nein, diese Schafe werden nicht geschlachtet (Michiel Devijver)
    Es geht um alles: Um Adam und Eva, Gott und die Welt, Geburt und Tod und um die Erstehung des Universums. Ein Erzähler sitzt links auf der kahlen Bühne und erzählt vom Urknall und dem Anfang aller Dinge.
    "The big bang, an explosion of un unimaginable force, stars are born and die."
    Wenn Fatima zu Maria wird
    Angesichts solcher Ereignishorizonte nehmen sich der berühmte Genter Altar der Brüder van Eyck von 1432 und die Genter Gesellschaft von 2018 wie beiläufige kleine Eposoden aus. Und diese beiden in Beziehung zu setzen, ist Milo Raus künstlerische Geste für den Beginn seiner Amtzeit in Gent. Adam flankiert das aus zwölf Tafeln zusammengesetzte Meisterwerk des 15. Jahrhunderts auf der linken und Eva auf der rechten Seite. Aber bevor zwei Laiendarsteller aus der Genter Gesellschaft auf die Bühne gebeten werden, sich ausziehen und die Posen der gemalten Vorbilder einnehmen, führen zwei altgediente Schauspieler aus dem Ensemble des NTGent in den Abend ein, erzählen vom Schauspielerberuf und ihrer Ausbildung. Es ist eine schöne Geste, dass Milo Rau, der entsprechend seinem Genter Manifest das traditionelle Schauspielertheater von der Bühne verbannen will, hier zwei Ensembledarstellern immerhin doch die Rolle von Spielleitern überträgt. Nach und nach bitten sie Menschen auf die Bühne, deren Geschichten mit einzelnen der vielen Bildmotive in Verbindung gebracht werden können: Eine ist die von Fatima, deren Sohn sich nach Syrien aufgemacht, dem IS angeschlossen hatte und vor wenigen Wochen in Idlip getötet wurde. Sie soll Maria spielen, die Mutter Gottes. Eine Provokation? Nicht in dieser behutsamen, sofort auf den menschlich-emotionalen Kern abzielenden Inszenierung, die sich zwar an den Bruchlinien gesellschaftlicher Konflikte bewegt, aber nichts Polemisches an sich hat.
    Hier wird das Schaf nur geschoren
    Ein leeres Rahmenwerk auf der Bühne bildet die Tafelumrisse des Polyptychons der Genter Sankt-Bavo-Kathedrale nach und immer wieder werden mit voraufgezeichneten Videos Gruppenbilder in die dafür vorgesehenen Positionen eingeblendet: Nicht als exakte Kopien des Originals, sondern eher als zeitgenössische Nachbildungen. Die Gesangsgruppe ist hier ein Kinderchor, der aber nichts Liturgisches, sondern alte Genter Volksmusiken singt.
    Die vielleicht berührendste Begegnung mit einem Genter Schicksal von heute ist die Videobotschaft von Leentje, die auf einer Palliativstation dem kommenden Tod ins Auge blicken muss und nicht weiß, ob sie zum Zeitpunkt der Premiere noch leben wird. Bilder einer Wassergeburt sind im Spiel um Leben und Tod der Kontrapunkt. Dass allerdings Kindsvater Bram nun gebeten wird, Johannes den Täufer zu verkörpern, gehört zu den etwas gewaltsam hergestellten Parallelen von Mythos und Gegenwartsbiografie. Herzstück im Tafelbild und Herzstück der Aufführung ist das Lamm. Der Genter Altar zeigt das eucharistische Lamm, mit einem Kelch, das dessen Blut auffängt. Und für Momente ist zu befürchten, Milo Rau wolle hier nun tatsächlich auf der Bühne eines der fünf Schafe schlachten, die ein Schafsbauer mitgebracht hat. Aber während nur im Video die ziemlich schwer zu ertragenden Bilder einer Schlachthausszene erscheinen, begnügt sich der Bauer, das Schaf auf der Bühne zu scheren und dessen Wolle an die Kinder zu verteilen. Eine theatrale Verwandlung der Abendmahlsgabe.
    Der Regisseur als Heilsbringer
    Milo Raus Spiel mit der Repräsentation, mit dem Schauen des Publikums, mit Erwartungshaltungen und Bilderklischees ist auch hier wieder zu erleben. Natürlich will, an anderer Stelle, keiner auf der Vorderbühne eine Liebesszene zwischen Adam und Eva erleben, zum Voyeurismus gezwungen werden, aber die Regie lenkt auch diese Szene nur bis zum Rand des Erträglichen, nicht darüber hinaus.
    Dieser Eröffnungsabend, der so voll ist mit individuellen Geschichten von Menschen verschiedenster Herkünfte, ist im Kern der Versuch, die von Konflikten und Spaltungen zerrissene Genter Gesellschaft mithilfe des größten Kunstwerkes der Stadt zu versöhnen. Auf dem Vorbild strömen von allen Bildrändern Menschengruppen zur Anbetung des Lammes zusammen. Pilger, Märtyrer, Apostel, himmlische und irdische Heerscharen. Und heute sollen alle Gruppen der belgischen Gesellschaft in Anschauung von Milo Raus "Lamm Gottes" am NTGent zusammenfinden. Das ist natürlich größenwahnsinnig, aber Heilsbringer Milo Rau ist nun einmal beseelt von der Arbeit an den großen Menschheitsaufgaben. Vielleicht sind wir im Kosmos ganz allein, heißt es mahnend in der Einführung. Und dann geht es jetzt natürlich um alles oder nichts.