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Minderheiten in der Türkei
Als Armenierin geboren, als Muslimin gestorben

Einige Armenier haben den Völkermord im Osmanischen Reich überlebt, weil sie in der alevitischen Bevölkerung Schutz fanden. Doch zwei Jahrzehnte später wurden sie dann als Aleviten vom türkischen Staat angegriffen. Heute suchen die Nachfahren nach ihrer kulturellen und religiösen Identität.

Von Kemal Hür | 03.04.2018
    Demonstranten halten Fotos von Opfern des Massakers von Dersim 1937/38 in die Höhe
    Demonstranten erinnern an das Massaker von Dersim (AFP PHOTO / OZAN KOSE)
    Eine Frau, vielleicht in ihren 70ern, dunkles langes Kleid mit Blumenmuster, hellbraune Strickjacke, Kopftuch, kniet auf einem muslimischen Gebetsteppich und betet. Der muslimische Glaube wurde ihr als Kind aufgezwungen. Sie hat keine Erinnerungen an ihren ursprünglichen christlichen Glauben als Armenierin.
    "Sie haben mein Alter auf zwölf hochgestuft und mich mit einem Mann verheiratet, der mein Vater hätte sein können. Ich musste vor den Mufti treten und das islamische Glaubensbekenntnis sprechen. Sie wollten aus der Armenierin, die ich war, eine Muslimin machen. Ich gestehe, ich habe den Islam angenommen. Gott sei Dank bin ich Muslimin. Meinen Kindern habe ich später aber nichts erzählt. Ich hatte Angst, es könnte ihnen schaden. Mit niemandem habe ich darüber gesprochen."
    Aslıhan Kiremitçiyan erzählt ihre Geschichte in dem Dokumentarfilm "Vank'ın Çocukları", zu Deutsch "Die Kinder des Klosters". Aslıhans Großvater war Mönch eines armenischen Klosters im ostanatolischen Dersim. In dieser alevitischen Provinz hatten mehrere tausend Armenier den Genozid von 1915 überlebt.
    Ein zweiter Völkermord
    Doch 1937/38 verübte der türkische Staat einen zweiten Völkermord, wie die Menschen in Dersim und viele Wissenschaftler sagen. Die türkische Regierung spricht bislang von einem Massaker. Staatspräsident Erdogan bezifferte die Zahl der Toten vor einigen Jahren auf über 14.000. Experten sprechen von 30.000 bis 50.000 ermordeten Aleviten. Auch das armenische Kloster wurde zerbombt und der Mönch getötet. Aslıhan war ein kleines Kind und überlebte nur zufällig.
    "Die Soldaten haben die Männer aufgereiht, sie erschossen und vom Abhang in den Fluss geworfen. Ich weiß nicht, wie ich mit dem Leben davon gekommen bin. Meine Tante hat wohl ihre Kinder und mich in einer Höhle versteckt. Später hat uns die Regierung als Adoptivkinder in die Westtürkei deportiert. Dort wurden in einem Dorf die Söhne meiner Tante und ein großer Mann, der irgendwie mit meiner Tante verwandt war, vor meinen Augen beschnitten. Das kann ich nicht vergessen."
    Nezahat Gündoğan (links) im Gespräch mit Aslıhan Kiremitçiyan - Standbild aus dem Film
    Nezahat Gündoğan (links) im Gespräch mit Aslıhan Kiremitçiyan - Standbild aus dem Film (Nezahat und Kazım Gündoğan )
    In diesem neuen Dorf wuchs Aslıhan bei einer muslimischen Familie auf. Sie war mehr Haushälterin als Adoptivtochter, erzählt sie. Ihre Tochter Zeynep stößt nur zufällig auf den armenischen Ursprung ihrer Familie.
    "Als meine Mutter alt und krank wurde, wollte ich sie in meine Versicherung übernehmen. Aber unter ihrem Namen war sie nirgendwo registriert. Ich fuhr schließlich nach Konya in Zentralanatolien, wo sie als Kind gelebt hatte. Dort erfuhr ich, dass sie nicht Fatma Yavuz hieß, sondern Aslıhan Kiremitçiyan. Ihre Eltern waren Armenier. 1947 war ihr Name geändert worden."
    "Sie wurden entwurzelt"
    Der Dokumentarfilm "Kinder des Klosters" handelt vom Schicksal der Kinder und Enkel des letzten Mönchs aus Dersim. Kazım Gündoğan produzierte den Film und veröffentlichte seine Recherchen auch als Buch - bislang nur in türkischer Sprache. Aslıhan Kiremitçiyan konnte den Film nicht mehr sehen. Sie starb im September 2015. Kazım Gündoğan erfuhr während einer Konferenz in Ankara von ihrem Tod. Er reiste sofort zur Beisetzung nach Izmir.
    "Nach dem Ruf des Muezzins und dem Nachmittagsgebet in der Moschee wurde sie nach islamischem Ritus beerdigt", sagt Gündoğan. "Es war sehr schwer für mich, dieser Zeremonie beizuwohnen. Sie wurde als Armenierin mit dem Namen Aslıhan geboren, lebte als Türkin mit dem Namen Fatma Yavuz und wurde als Muslimin mit diesem Namen beerdigt."
    Kazım Gündoğan und seine Frau Nezahat machen bei ihren umfangreichen Recherchen in der gesamten Türkei und in Europa mehrere Nachkommen des Mönches von Dersim ausfindig. So stoßen sie auf Kadriye. Ihre Mutter ist eine Schwester von Aslıhan. Die beiden hatten sich nach dem Genozid in Dersim 1938 aus den Augen verloren und wussten nicht, dass die jeweils andere überlebt hatte. Kadriye lernt ihre Tante Aslıhan erst nach dem Tod ihrer Mutter kennen.
    "Sie sehen sich sehr ähnlich, aber sie sind in unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen", sagt Kadriye. "Sie wurden entwurzelt. Die eine ist alevitisch erzogen worden, die andere sunnitisch-muslimisch."
    Keine verlässlichen Zahlen zu Überlebenden
    Was mit dem Kloster Surp Garabed in Dersim passiert ist, erzählt Sultan, eine Cousine von Aslıhan. Sultan hat in einer alevitischen Familie den Genozid überlebt. Sie hat nicht nur den alevitischen Glauben angenommen, sondern spricht auch die Sprache Zaza, die von den meisten Menschen in Dersim gesprochen wird.
    "Das Kloster war sehr schön. Die Steine in den Mauern waren eigens angefertigt worden. Es war zweistöckig und hatte runde Fenster. Der Innenraum war hell und schön. Es gab darin viele wertvolle Gegenstände. Sie funkelten und glänzten. Nichts ist davon übrig geblieben. Als wir fortgebracht wurden, sah ich nur noch den Rauch von den Mauern aufsteigen."
    Überreste des armenischen Klosters im ostanatolischen Dersim
    Überreste des armenischen Klosters im ostanatolischen Dersim, dem heutigen Tunceli - Standbild aus dem Film (Nezahat und Kazım Gündoğan) (Nezahat und Kazım Gündoğan )
    Unmittelbar vor dem Genozid an den Armeniern 1915 lebten laut osmanischen Dokumenten mehr als 14.000 armenische Christen in der Region Dersim. In der Literatur wird zwar stets betont, dass das alevitische Volk von Dersim viele Armenier versteckt, oder deren Kinder als eigene ausgegeben und vor der Ermordung gerettet habe, verlässliche Zahlen zu Überlebenden gibt es aber nicht, sagt Filmemacher Kazım Gündoğan.
    "Die Mehrheit der Geretteten lebte innerhalb alevitischer Familien. Diejenigen, die ihren christlichen Glauben beibehalten und offen als Armenier gelebt haben, wurden in den Jahren 1937/38 gemeinsam mit den Aleviten gezielt ermordet. Sie erlebten damit zum zweiten Mal einen Genozid. Die Menschen in Dersim sprechen deshalb auch oft vom ersten und vom zweiten Völkermord."
    "Zwischen zwei oder sogar drei Kulturen hin- und hergerissen"
    Als Nezahat und Kazım Gündoğan die ersten überlebenden Armenier aufsuchen, weigern sich die betagten Leute, über ihre Vergangenheit zu sprechen. Sie leugnen sogar, Armenier zu sein. Erst als sie erfahren, dass sie noch lebende Verwandte haben, brechen sie ihr Schweigen und sprechen vor der Kamera. Ihre Nachkommen sind wie sie entweder alevitisch oder muslimisch aufgewachsen und hadern, wie sie mit der neuen Situation umgehen sollen - so auch Meryem.
    "Wir hielten uns für Aleviten, dann erfuhr ich, dass wir Armenier sind. Ich ging in die Kirche, aber fremdelte dort. Ich wusste gar nicht, wie man dort betet, wie man sich bekreuzigt. Ich konnte mich nicht anpassen. Die streng gläubigen Armenier sahen mich als Türkin an. Und die Türken wollten nicht glauben, dass ich eigentlich Armenierin bin. Man ist zwischen zwei oder sogar drei Kulturen hin- und hergerissen."
    Zeynep aber, die Tochter von Aslıhan, freut sich über das Positive in dieser tragischen Spurensuche.
    "Während meine Mutter niemanden hatte, habe ich jetzt viele Verwandte. Wir kommunizieren miteinander und haben das Gefühl, uns seit Jahrzehnten zu kennen. Das bedeutet wohl echte Verwandtschaft."