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Miniserie "Das Verschwinden"
Die Melancholie der Provinz

Julia Jentsch sucht als Mutter nach ihrer 20-jährigen Tochter: Filmemacher Hans-Christian Schmid erzählt in der ARD-Miniserie "Das Verschwinden" einen spannenden Kriminalfall, der auf einer wahren Geschichte beruht. Sein sechsstündiges Werk ist auch ein fesselndes Drama über die Entfremdung zwischen Eltern und ihren erwachsen gewordenen Kindern.

Von Eric Leimann | 20.10.2017
    Janine Grabowski (Elisa Schlott, li.) nabelt sich von ihrer alleinerziehenden Mutter Michelle (Julia Jentsch) ab.
    Janine Grabowski (Elisa Schlott, li.) nabelt sich von ihrer alleinerziehenden Mutter Michelle (Julia Jentsch) ab. (ARD Degeto/BR/WDR/NDR/23/5 Filmproduktion/Gerald von Foris)
    Michelle: "Und wie läuft’s?" - Janine: "Gut." - Michelle: "Und bei der Arbeit?" - Janine: "Auch gut." - Michelle: "Und warum lügst du mich an?"
    Gelogen wird viel in Hans-Christian Schmids Miniserie "Das Verschwinden". So wie hier zwischen der Hauptfigur Michelle, grandios gespielt von Julia Jentsch, und ihrer Tochter Janine. Die 20-Jährige verschwindet wenig später aus der fiktiven niederbayerischen Kleinstadt Fürstenau. Doch nur die Mutter findet das besorgniserregend, die Polizei ermittelt zurückhaltend. Regisseur Hans-Christian Schmid, der mit Bernd Lange auch das Drehbuch zu "Das Verschwinden" schrieb, fand die Grundidee seiner sechsstündigen Erzählung vor etwa 15 Jahren in der Zeitung.
    Hans-Christian Schmid: "Teil dieser Meldung war damals eben auch, dass ein oder zwei Freundinnen - oder ein Freund - aus der Clique sich das Leben genommen haben. Auch das fand ich hochinteressant. Wie kann es denn sein, dass das Verschwinden einer Person bei der Clique so eine Verunsicherung auslöst? Was war da los?"
    Drogen und kurze Euphorie
    Der Fall aus dem "Dorf der todessüchtigen Kinder", wie die Boulevardpresse damals titelte, schaffte es sogar in die Sendung "Aktenzeichen XY … ungelöst". Dennoch war die Geschichte für Schmid nur der Anfang einer Erzählung über vier Familien mit Kindern, die gerade erwachsen geworden sind. Über deren Provinzexistenz liegt ein seltsamer Schleier aus Drogen, kurzzeitiger Euphorie und ganz viel grundsätzlicher Melancholie. Stimmungsvoll untermalt übrigens mit Musik der Band "The Notwist", so etwas wie die Stamm-Komponisten im Filmwerk Hans-Christian Schmids.
    Formal ist "Das Verschwinden" ein weiterer Krimi - von denen es doch schon viel zu viele im deutschen Fernsehen gibt. Trotzdem fesselt die triste Provinzstudie mehr als fast alles, das man im Fernsehen seit langem zu sehen bekam. Zum einen ist da die "Ermittlerin": Michelle, Ende 30, alleinstehende Mutter zweier Töchter, Beruf Altenpflegerin. Eine grandiose Alltagsheldin, fast so echt wie aus einem Dokumentarfilm. Bald stößt Michelle darauf, dass ihre erwachsene Tochter und zwei Freundinnen Crystal Meth konsumierten, das es im nahen Tschechien günstig zu kaufen gibt. Aus der Clique hat Manu die größten Probleme mit der Droge …
    Michelle: "Wo soll ich dich jetzt hinbringen? Zu den Eltern?" Manu: "Die schicken mich nach Aarau zum Entzug. Das erste Mal war schon wie Guantanamo." Michelle: "Entzug wäre vielleicht ganz angebracht." Manu: "Das Gift aus meinem Körper zu kriegen, ist nicht das größte Problem, das schaff ich. Aber aus dem Kopf. Ohne das Zeug ist irgendwie alles so leer. Dagegen hilft keine Therapie." Michelle: "Das Leben macht oft keinen Spaß, kann ich dir versichern." Manu: "Das glaub ich dir sofort. Aber warum wollt ihr dann alle, dass wir so werden wie ihr?"
    Lügen in modernen Familienstrukturen
    "Das Verschwinden" ist auch eine wunderbar subtile, genau beobachtete Studie darüber, wie "moderne" Eltern heute mit ihren Kindern umgehen. Weniger autoritär als früher, eher als Partner der nachfolgenden Generation. Schön gedacht, aber was ist, wenn die wirklichen Ängste, Sorgen und vor allem Lügen der Eltern nie ans Tageslicht kommen? Die wirken dann wie ein schleichendes Gift, glaubt auch Hauptdarstellerin Julia Jentsch, die für ihre Rolle in diesem Jahr eigentlich sämtliche Fernsehpreise gewinnen müsste. Julia Jentsch:
    "Man will, das Kind geht mal gestärkt durch die Welt. In Vertrauen in sich und in andere Menschen. Und wenn's natürlich schon zu Hause das erste Mal erlebt hat, dass das Vertrauen ganz grundsätzlich gebrochen worden ist, dass die Menschen, die man für die nächsten, wichtigsten hält, wichtige Sachen vorenthalten oder einen sogar belogen haben, ist das schon mal ein Fehler, der wahrscheinlich fast nicht wieder gutzumachen ist."
    "Das Verschwinden" zeigt, wie wichtig die Qualität des Drehbuch für ein solches Projekt ist. Über sechs Stunden erforscht und verdichtet es die Charaktere der vier Familien. Auch die am Anfang noch recht leise Spannung steigert sich immer mehr, weshalb es gut ist, dass nach den ersten 90 Minuten am Sonntag und einer Woche Pause, Teil zwei, drei und vier innerhalb von drei Tagen gesendet werden. Hans-Christian Schmid ist mit "Das Verschwinden" einiges gelungen, das im deutschen Fernsehen außergewöhnlich ist: Ein Krimi, der sich komplett frisch anfühlt. Eine Studie über moderne Familienstrukturen und - ein genaues Stimmungsbild der Provinz, in der sich der Filmemacher bestens auskennt.
    "Ja, ich komm aus der Ecke. Nicht Niederbayern, aber Oberbayern. Und es hilft mir beim Geschichten erzählen, dass ich sofort das Gefühl hab': Ich kenn mich da aus. Ich bin immer vorsichtig mit so Thesen, dass Geschichten nur irgendwo passieren können, aber ich glaube schon, dass die Provinz für junge Leute noch mal wie so ein Gefühlsverstärker wirkt. Also wenn man tendenziell ein bisschen unglücklich ist und nicht so weiß, wo es hingeht im Leben, dann fühlt man sich vielleicht auch dort verloren: Und so wurde es dann auch eine Geschichte von zwei zurückgelassenen Freundinnen, die sich überlegen: Was ist denn passiert?"
    Die Miniserie "Das Verschwinden" läuft am 22., 29., 30. und 31. Oktober jeweils um 21.45 Uhr in der ARD.