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Belästigungsvorwürfe
Chefdirigent Daniele Gatti entlassen

Nur knapp zwei Jahre nach seinem gefeierten Antritt in Amsterdam trennt sich das Königliche Concertgebouworchester von Daniele Gatti. Die Vertrauensbeziehung zwischen Orchester und Chefdirigent sei irreparabel beschädigt. Wer so schnell reagiert, sollte gute Gründe und stichhaltige Beweise haben.

Von Uwe Friedrich | 02.08.2018
    Der italienische Dirigent Daniele Gatti inmitten von Musikern des Amsterdamer Concertgebouw-Orchesters.
    Dirigenten wie Daniele Gatti besetzen Schlüsselpositionen im Klassikbetrieb - sie dürfen diese Macht nicht missbrauchen (picture alliance / CTK / Michaela Rihova)
    Wieder einmal wissen wir nicht so ganz genau, was eigentlich passiert ist. Mehrere Musikerinnen berichten von sexuell unangemessenem Verhalten des Dirigenten Daniele Gatti. In einem viel beachteten Artikel der Washington Post heißt es, er habe sie ungefragt geküsst und angefasst. Die geschilderten Vorfälle liegen 18 beziehungsweise 22 Jahre zurück und klingen wie Berichte aus einer längst vergangenen Zeit.
    Damals war "Einzelprobe mit dem Dirigenten" noch ungefähr gleichbedeutend mit "Briefmarkensammlung zeigen", und das wurde aufgrund der Machtstellung der Dirigenten allgemein hingenommen. Da hat sich in der Zwischenzeit glücklicherweise doch einiges geändert, auch wegen der überfälligen Selbstermächtigung der betroffenen Frauen gegenüber den testosterongesteuerten Alphamännchen.
    Schnelle Reaktion - vielleicht zu schnell?
    Wobei man nicht oft genug betonen kann, dass es bei sexueller Belästigung nie um Lust geht, sondern immer um Machtausübung und Demütigung des Opfers. Es überrascht aber doch, wie schnell das Amsterdamer Concertgebouw Orkest nun die Taue zum Chefdirigenten kappt. Wer sich an das elende Trauerspiel um James Levine an der New Yorker Metropolitan Opera erinnert oder an das Hin und Her um Gustav Kuhn bei den Tiroler Festspielen Erl denkt, der kann sich über die schnelle Reaktion der Niederländer auf den amerikanischen Zeitungsartikel nur wundern. Da auch bei unseren Nachbarn die Unschuldsvermutung gilt, dürfen wir wohl annehmen, dass die Orchesterleitung ernstzunehmende Kenntnis von weiteren Vorfällen hat. Vielleicht sind sie dort auch einfach sensibler in solchen Dingen und wollen jeden Anschein der Komplizenschaft vermeiden.
    Eine überhaupt nicht repräsentative Blitzumfrage unter persönlich bekannten Künstlerinnen führt jedenfalls zu dem einhelligen Ergebnis, dass keine von ihnen überrascht ist und alle die Kolleginnen bewundern, die nun mit ihren Anschuldigungen an die Öffentlichkeit gegangen sind. Man darf ja nicht vergessen, dass gerade Dirigenten noch immer eine Schlüsselposition in der klassischen Musik besetzen. Sie sind die Stars im Konzertbetrieb, entscheiden über Besetzungen und können Karrieren massiv behindern, wenn nicht gar beenden. Solistinnen und Solisten hangeln sich schließlich von Einzelvertrag zu Einzelvertrag und sind deshalb abhängig von einem informellen Machtkartell, das mangelnde Unterordnung gerne drastisch bestraft.
    Mit Sinn und Verstand agieren
    Dennoch muss jeder Einzelfall gründlich geprüft werden, denn nicht jeder entgleiste Flirt ist gleich ein Fall von schwerer sexueller Belästigung. Abschreckendes Beispiel hierfür ist der Fall des schwedischen Regisseurs Benny Frederiksson, der sich nach falschen Anschuldigungen das Leben nahm, weil er keine Möglichkeit mehr sah, seinen Ruf wiederzuherstellen. Ein heikles Thema, bei dem mit Sinn und Verstand agiert werden muss. Gatti weg, Dutoit kaltgestellt, Kuhn pausiert, Levine abserviert, und das ist ganz bestimmt noch nicht das Ende der #Metoo-Debatte in der klassischen Musik. Wenn sich die Vorwürfe denn als stichhaltig erweisen, ist es jedenfalls gut, dass diese Männer endlich da getroffen werden, wo es am meisten weh tut, nämlich bei der öffentlichen Reputation und ihrem Geldbeutel.