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Minsk-II-Abkommen
"Grenze des Erträglichen erreicht"

Was das Minsker Abkommen für ein Ende der Gewalt in der Ost-Ukraine wert ist: Der Osteuropa-Historiker Wilfried Jilge äußert sich im Deutschlandfunk äußerst pessimistisch. Er spricht von "sehr fragilen Punkten" und "prekären Bruchstellen" - und einer bitteren Erkenntnis.

Wilfried Jilge im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 13.02.2015
    Der russische Präsident Wladimir Putin (hinten) spricht während des Minsker Ukraine-Gipfels mit dem ukrainischen Staatschef Petro Poroschenko.
    Mit dem Minsk-II-Abkommen habe sich der russische Präsident Wladimir Putin weiteren Handlungsspielraum verschaffen, sagt der Osteuropahistoriker Wilfried Jilge im DLF. (AFP / UKRAINIAN PRESIDENTIAL PRESS SERVICE / POOL / MYKOLA LAZARENKO)
    Das Positive an der Vereinbarung sei lediglich, dass es jetzt eine "reale Chance seit längerer Zeit" gebe, das Blutvergießen bald zu stoppen, sagte Jilge im DLF. Das Abkommen könne einen "Prozess zur Herbeiführung einer nachhaltigen politischen Lösung" einleiten - mehr nicht.
    Die Einigung der Staats- und Regierungschefs der Ukraine, Russlands, Frankreichs und Deutschlands enthalte einige 'sehr fragile Punkte", sagte der Osteuropahistoriker. "Ausgesprochen bitter ist die Erkenntnis, dass ein aggressiver Staat mit informellen Vorposten mittels roher Gewalt Fakten schaffen kann."
    Die ukrainische Regierung sei "jetzt auf Gespräche mit den Separatisten angewiesen im Rahmen der Kontaktgruppe, die keinerlei verfassungsmäßige oder demokratische Legitimation haben", sagte Jilge. "Das sollte man sich ganz genau merken, denn die Grenze des Erträglichen ist aus der Sicht eines souveränen Staates wie der Ukraine im Grunde genommen mit dieser Vereinbarung erreicht."
    Das Abkommen enthalte prekäre Bruchstellen, sagte der Historiker. Zum einen trete die Waffenruhe erst am Sonntag in Kraft. Bis dahin könnten sich ukrainische Armee und prorussische Separatisten eine Schlacht um den strategisch wichtigen Eisenbahnknotenpunkt Debalzewe liefern. Sollten die Separatisten diesen Ort einnehmen, dann sei das Abkommen Makulatur. Ein weiterer Knackpunkt sei die Grenzkontrolle, die erst dann vollzogen werden könne, wenn der politische Prozess abgeschlossen sei. Bis dahin gebe es ausreichend Handlungsspielraum für den Nachschub von Waffen.

    Lesen Sie hier das vollständige Interview mit Wilfried Jilge:
    Christoph Heinemann: Auch nach der Vereinbarung über eine Waffenruhe in der Ukraine halten die Europäer an ihren Strafen gegen Russland fest. Die von der EU bereits beschlossenen Sanktionen werden am kommenden Montag wie geplant in Kraft treten. Die Union hält sich auch neue Strafmaßnahmen offen, falls dies nötig sein sollte. Nach der Übereinkunft soll die Feuerpause am Sonntag um null Uhr Ortszeit in Kraft treten. Darüber hat mein Kollege Tobias Armbrüster mit Wilfried Jilge gesprochen. Der Osteuropa-Historiker lehrt an der Universität Leipzig.
    Tobias Armbrüster: Herr Jilge, was ist diese Einigung nun wert?
    Wilfried Jilge: Positiv ist zunächst, dass es eine reale Chance seit längerer Zeit wieder gibt, dass das Blutvergießen bald gestoppt wird und es damit Aussicht zumindest gibt oder die Möglichkeit gibt, dass ein Prozess in Gang gesetzt wird zur Herbeiführung einer nachhaltigeren politischen Lösung.
    Armbrüster: Wie groß ist denn diese Chance?
    Jilge: Nun, die Chance ist da, aber insgesamt enthält dieses Abkommen sehr fragile Punkte. Ausgesprochen bitter, und das muss man vielleicht vorneweg sagen, ist die Erkenntnis, dass ein aggressiver Staat mit informellen Vorposten mittels roher Gewalt Fakten schaffen kann, denn von dem komplexen politischen Prozess, der in der Vereinbarung vorgesehen ist, bis hin zu den Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden - Stichwort Kontrolle der Grenze - ist die Ukraine jetzt auf Gespräche mit den Separatisten angewiesen im Rahmen der Kontaktgruppe, die keinerlei verfassungsmäßige oder demokratische Legitimation haben. Das sollte man sich ganz genau merken, denn die Grenze des Erträglichen ist aus der Sicht eines souveränen Staates wie der Ukraine im Grunde genommen mit dieser Vereinbarung erreicht.
    Armbrüster: Das, Herr Jilge, klingt jetzt allerdings sehr pessimistisch.
    Jilge: Ja, das ist auch pessimistisch. Ich will vielleicht mal auf konkrete Sachen kommen. Der erste Knackpunkt an diesem Abkommen ist schon, dass es erst am 15. Februar um null Uhr, also am Sonntag um null Uhr in den umkämpften Gebieten in Kraft treten soll. Und es droht bis dahin durchaus noch eine Schlacht um den strategisch wichtigen Eisenbahnknotenpunkt Debalzowe. Sollte das geschehen, dann ist dieses Abkommen Makulatur. Denn ein Fall Debalzowes kann Poroschenko nicht akzeptieren, und die Separatisten haben im Grunde genommen damit offen gedroht. Sie haben gesagt, als sie die Vereinbarung ja zunächst ablehnen wollten, haben sie gesagt, Poroschenko hätte nicht erkannt, dass im Grunde genommen Debalzewe verloren ist, und da wurde ganz offen eingestanden, dass man aggressiv vorgeht, um die Verhandlungsposition zu sichern. Der zweite ganz gefährliche Punkt in diesem Abkommen ist, dass die Kontrolle über die ukrainische Grenze seitens des ukrainischen Staates im Grunde genommen erst dann abgeschlossen werden muss, wenn dieser komplexe politische Prozess, der in Gang gesetzt werden soll und über den wir vielleicht noch reden, abgeschlossen ist. Das heißt, bis dahin hat Putin, haben die Separatisten noch erheblichen Spielraum, Waffen nachzuliefern und weiterhin zu destabilisieren. Wie die OSZE das kontrollieren soll mit der Sicherung der Grenze, ist ebenfalls im Grunde genommen nicht gesichert. Also, es gibt prekäre Bruchstellen in diesem Abkommen.
    Armbrüster: Nun ist ja vorgesehen, dass, bis die OSZE diese Grenzen nach Russland überwachen und kontrollieren kann, dass bis dahin auch einiges an der Verfassung geändert werden soll, dass die unterschiedlichen Regionen im Osten der Ukraine mehr Mitbestimmungsrechte haben. Das soll auch unter anderem mit Kommunalwahlen geschehen. Können Sie sich ungefähr vorstellen, wie könnte die Ukraine dann in einem Jahr, wenn das alles durch ist und wenn das wirklich so funktionieren sollte, wie könnte die aussehen? Wie sehr hätte sie sich verändert?
    Jilge: Die Voraussetzung, damit das überhaupt für die Ukraine akzeptabel ist - denn im Grunde genommen wird ihr ja von außen ein Umbau in Teilen des Staatsaufbaus aufgedrängt - die Voraussetzung ist, dass die Wahlen erst einmal, die lokalen Wahlen, korrekt ablaufen. Was positiv ist an dem Abkommen, dass es ausdrücklich sagt, dass die Wahlen in Einklang mit der ukrainischen Gesetzgebung und unter Beobachtung der OSZE ablaufen müssen. Und ganz entscheidend ist, dass man hier auch die Langzeitbeobachtung sofort implementiert. Denn diese Wahlen können nur akzeptiert werden, wenn auch pro-ukrainische Parteien in diesen Gebieten, wo jetzt die Separatisten sind, für ihre Stimmen werben dürfen. Nur dann ist eine Legitimität des Prozesses gegeben. Wenn das dann so kommen sollte, und wenn das alles gelingen sollte, dann könnte es sein, dass es zu - und so heißt es ja auch im Abkommen - bestimmten Elementen der Dezentralisierung kommt in diesen Gebieten. Das heißt zum Beispiel, dass noch mal die Sprachenrechte festgesetzt werden. Das heißt zum Beispiel, dass bei der Erhebung von Steuern großzügiger verfahren wird. Aber über eines muss man sich auch klar sein: Bei dem Begriff Föderalisierung oder Autonomie macht die ukrainische Führung nicht mit, nicht ganz unverständlich, denn sie vermutet, dass das nur ein politisches Instrument sein soll, um den Einfluss Russlands in der Ukraine festzuschreiben. Was auf gar keinen Fall möglich und vertretbar wäre, wäre, wenn eine Region in außenpolitischen Fragen ein Mitspracherecht hätte, was kommunalen oder der Selbstverwaltung von Gebietskörperschaften nicht entspricht.
    Heinemann: Der Osteuropa-Historiker Wilfried Jilge von der Universität Leipzig. Die Fragen stellte mein Kollege Tobias Armbrüster.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.