Donnerstag, 28. März 2024

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Minutennovellen

Eine neue Gattung ist geboren: die Minutennovelle. Sie kommt aus Ungarn und scheint wie geschaffen zu sein für diese schnelllebige Zeit, die immer noch die Sehnsucht nach Buchstaben hat, aber keine Muse mehr, sie zu entziffern. Dabei ist sie, wie György Konrad in seinem Nachwort zur Anthologie berichtet, als Gesellschaftsspiel in einem Kreis von Menschen entstanden, die wenig vorgefertigte Unterhaltung hatten. Ihr Verfasser, István Örkeny, der 1912 in Budapest geborene jüdische Apotheker und Romanschriftsteller, setzte mit seinen Freunden die Tradition des mündlichen Erzählens fort, wenngleich dabei nicht gerade, wie in Boccaccios Runde aus adeligen Damen und Herren, zehnseitige Geschichten vom Ehebruch, sondern lediglich blitzschnelle Impromptus, meist aus dem kleinbürgerlichen Alltagsleben, entstanden. Im Buch gesammelt, füllen sie je eine halbe bis anderthalb Seiten und lassen sich gut verdauen in dem kurzen Augenblick, da man den Kochlöffel weglegt und das Omelett in der Pfanne stockt.

Hannelore Schlaffer | 28.10.2002
    Wer sich Zeit nimmt, wird freilich gewahr, dass die Miniaturen mehr sind als Lückenbüßer in einer Gesprächspause. Zwar wählt Örkeny in Stoff und Sprache jenes Understatement, auf dem der Tratsch gedeiht. Da wird geschwätzt von einer Frau, die beim Fensterputzen in konvulsivische Krämpfe verfiel, von einer Lehrerin, die ihre Klasse durch ein Heimatmuseum zu führen hat, vom Kauf einer aufblasbaren Gummimatratze. Örkeny sondert sich aber schnell aus der Gesellschaft der Klatschbasen aus, indem er sich weigert, die Banalität, damit sie des Erzählens überhaupt wert erscheine, gehörig aufzublähen. Die Langeweile ist bei ihm so lange langweilig, bis sie tiefsinnig wird. Nichts Unauffälligeres lässt sich denken als die Erzählung vom Herrn im Lunapark, der Karussell fährt, wobei ihm schwindelig, aber nicht schlecht wird. Der Autor bricht, scheinbar phantasielos, seine Erzählung ab, sobald das Karussell aufhört, sich zu drehen:

    "Nachdem er die Probe so gut bestanden hat, bleibt das Ringelspiel stehen, der Schwindel lässt nach, und alles bleibt beim alten." Die gespielte Einfallslosigkeit des Autors fordert den Leser, will er das Buch nicht sofort weglegen, zum Weiterdichten und Weiterdenken heraus. Beiträge zur geselligen Unterhaltung sind Örkenys Novellen gerade deshalb, weil sie zu keinem Ende kommen. Im Grunde ist Örkeny ein poetischer Herrnhuter, dessen Glaubensbekenntnis es zulässt, dass jeder Priester, dass jeder Dichter ist - jeder seiner Freunde soll mitdichten.

    Ganz so generös, wie es scheint, ist freilich Örkeny seinen Hörern gegenüber dann doch nicht. Immer wieder blockiert er das Nachdenken, mit dem sie gerade beginnen wollen, indem er, ein intellektueller Harlekin, seine Geschichte ins Absurde treibt. Die Alltagsszenen, die erfolglosen Wechselreden der kleinen Leute, die sich begegnen wie die Wagen beim Autoskooter: sie stupsen sich an und kommen sich doch nicht näher - diese scheinbaren Beiläufigkeiten sind ein Spiegel der Geschichte, die in der Generation des Autors durch so manches Schreckszenarium führte. Als Jude diente Örkeny in einem Arbeitsbataillon an der russischen Front und geriet in Kriegsgefangenschaft. 1956 erhielt er noch einmal Schreibverbot. Die Anthologie seiner Minutennovellen gliedert sich in Kapitel, die den Etappen dieses wechselvollen Lebens folgen: in Krieg, Judenverfolgung, Auferstehung des Ostens im Sozialismus, in den Budapester Alltag.

    Klage, Mitleid und Moral, die bei diesen politischen Themen so nahe lägen, braucht Örkeny nur, um sie zu übergehen. Der Polsterer F. N. etwa, der so leidenschaftlich gern Geisterbahn fährt, könnte sehr wohl in den dunklen Schächten die Erinnerung an die Schrecken der Internierung und Folterung suchen, die er als Jude hatte erdulden müssen, nur weil ein Sofa mit einem Überzug bespannt hatte, der etwas der amerikanischen Flagge glich. Allerlei Vermutungen über seine perverse Lust gibt denn auch zunächst der Autor hin, bis er sich endlich an den Polsterer selbst wendet: "Wenn wir ihn selber fragen, stellt sich heraus, daß er sich nicht gruselt und auch nicht lächelt. Er setzt sich ganz einfach deswegen immer wieder in die Geisterbahn, weil hier eine Reihe alter Geschichten aus seiner Erinnerung auftaucht, über die er nachdenkt. Es fallen ihm Wünsche und Hoffnungen ein, vergangene Lieben, die verflogene Jugend und warum er nur jenen gestreiften Überzug ausgesucht hat, wo doch der mit dem Blumenmuster genauso schön gewesen wäre."

    Örkenys Zynismus besteht nicht aus einer ausdrücklichen Zurückweisung der Moral; seine Reserve gegen die Normalität, mit der moralisch reagiert wird entspringt vielmehr einer Erfahrung mit dem menschlichen Kopf. Diese gerinnt ihm zur Psychologie der Vergesslichkeit. Sich nicht zu erinnern, ist Glück, sich nicht auf Handlungen und Worte anderer einzulassen, heißt leEentoie Minutennovellen erzählen von den Minuten, in denen die Menschen aneinander und an der Wirklichkeit vorbeisehen und gehören deshalb, bei aller oberflächlichen Harmlosigkeit des Sujets, wie alle guten Novellen in die Sparte des schwarzen Humors.