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"Mir geht es zum Beispiel darum, immer besser zu schreiben"

Eine neue Generation von Schriftstellerinnen und Schriftstellern ist in China herangewachsen. Geprägt von der politischen Öffnung des Landes und seinem wirtschaftlichen Aufstieg, spricht man von der "Nach-80er-Literatur". Xu Lu zählt zu dieser Generation - hier ihr Erstling.

Von Astrid Nettling | 14.06.2010
    Eine neue Generation von Schriftstellerinnen und Schriftstellern ist in China herangewachsen. Geprägt von der politischen Öffnung des Landes, seinem wirtschaftlichen Aufstieg seit den 90er-Jahren und den damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen, spricht man von der "Nach-80er-Literatur". Xu Lu zählt zu dieser Generation. Im letzten Jahr ist ihr erster Roman erschienen – "Dida". Eine Gedichtzeile des walisischen Dichters Dylan Thomas hat sie zu diesem Titel angeregt. "Und ich bin stumm, kann nicht den Wetterwinden sagen, wie Zeit den Himmel um die Sterne tickt". So gibt das Ticken der Zeit – im Chinesischen "Dida" – den Rhythmus ihres Romans vor.

    "Ich bin jetzt 27 Jahre alt, und in meinem ersten Roman 'Dida' beschreibe ich die Zeit von meiner Kindheit bis zum Alter von 22 Jahren, wo ich an der Uni war, und versuche in diesem Roman, diese Zeit so halb als Fiktion und halb als wirkliches Erleben miteinander zu verknüpfen und diesen Zeitraum auf eine sehr kunstvolle Art zu beschreiben und mich eben mit dem Problem der Zeit auseinanderzusetzen."

    "Dida" nimmt sowohl den Zeittakt der westlich geprägten "Nach-80er-Generation" auf, aber ebenso den Pulsschlag des Lebens: er begleitet vier junge Menschen, zwei weibliche und zwei männliche Protagonisten, durch ihre Jugendzeit, wobei kindliche Unbeschwertheit, frühe Hoffnungen und Träume sowie erste Enttäuschungen, Fragen und Zweifel an Sinn und Wert der bestehenden Welt aufeinanderfolgen. Auch auf sprachlicher Ebene rhythmisiert die Autorin ihren Roman durch geschickte Wechsel zwischen Jugendjargon, Alltagssprache und Hochsprache, gespickt mit Anspielungen und Zitaten aus der eigenen wie der westlichen Literatur. Was in der traditionellen chinesischen Literatur eine hoch entwickelte Kunst gewesen – die gekonnte, kenntnisreiche literarische Anspielung – galt lange Zeit als elitär. Für die "Nach-80er-Generation" heißt zu schreiben, auch an die eigene verpönte Tradition wieder anknüpfen zu können – an die klassische wie an die moderne, die gleichfalls dem ideologischen Kahlschlag zum Opfer gefallen war. Nicht zufällig zählt Lu Xun, der Gründungsvater der literarischen Moderne, zu den Lieblingsautoren der Schriftstellerin, ebenso von Vera, der literaturbesessenen Ich-Erzählerin des Romans.

    Ich werde nie vergessen, wie kalt es in jenen Tagen war. An einem Nachmittag am Wochenende gingen Huo Yining und ich ins Kranzgeschäft, um Yu Qian zu besuchen. Er erhob sich und reichte uns eine Tasse heißes Wasser, an der wir unsere Finger aufwärmen konnten. "Vera, warum sagst du nichts?" "Ich versuche mit A Q's geistiger Siegesmethode, die Kälte zu überwinden." Lu Xun und seine Figuren passten in jeder Lebenslage. "Ha, ha", lachte Huo Yining, "wie funktioniert das?" "Ich singe in Gedanken das Lied: Die Sonne kommt heraus, alle freuen sich..." Da lachten sie beide los und ich konnte nicht anders als mitlachen. Als das Lachen das Ganze Kranzgeschäft erfüllt hatte, schien das Zimmer gleich viel wärmer.

    Die eher unauffällige, nachdenkliche Vera, die ihren Namen einer Figur des russischen Schriftstellers Tschernyschewski verdankt, der in sich selbst ruhende Yu Qian mit den starken Augenbrauen, der gut aussehende, ziemlich eitle, aber charmante Huo Yining sowie die schöne, lebenshungrige und exzentrische John-Lennon-Begeisterte Di Xia haben sich seit ihrer frühsten Schulzeit zu einer sympathischen und quicklebendigen "Viererbande" zusammengeschlossen – den "Vier großen Kung-Fu-Schulen", die Freud und Leid, Träume, Hoffnung und Enttäuschung miteinander teilen. Die Autorin schildert in kurzen Kapiteln, in knappen, aber prägnanten Ausschnitten und schönen erzählerischen Details die Jugendzeit dieser Vier. Ihre kleine Welt in der Phönixstraße mit dem gemütlichen Kranzgeschäft von Yu Qians Großvater, dem kleinen Buchladen von Herrn Su, der berühmt-berüchtigten Shangde-Schule und dem heiß begehrten Hotspot-Lokal neben dem Kino. Frech, witzig, fantasievoll, mit Schwung und Sinn fürs sprachliche Timing gelingt ihr ein lebendiges Porträt dieser Freunde, ihrer Schul- und Jugendzeit und darüber hinaus der jungen Generation Chinas in den 80er und 90er-Jahren, die anders als die Generation davor weltanschaulich weniger festgelegt ist als auf dem Weg und Sinnfragen gegenüber offen. Bis dahin überzeugt "Dida", das heißt bis zum Abschied der Vier von der Phönixstraße und dem Eintritt in Studium und Erwachsenenleben. Wie viele Autoren erliegt auch Xu Lu bei ihrem Romanerstling der Versuchung, zu viel hineinzupacken. Die großen Lebensfragen müssen dann doch aufs Tapet gebracht und abgehandelt werden, womit sie die zweite Hälfte ihres Romans gründlich überfrachtet. Denn geradezu schicksalhaft bricht der Ernst des Lebens über die vier jungen Menschen herein: so gerät etwa Huo Yining in eine lebensbedrohliche Krise, als er das Schwulsein seines Vaters entdeckt, die vaterlos aufgewachsene Ich-Erzählerin trifft unverhofft ihren Vater, dessen Lebensbeichte mit den notorischen Gräuelgeschichten aus der Kulturrevolution aufwartet, Di Xia erlebt mehrere unglückliche Liebesaffären und stirbt am Ende an Leukämie. Was erzählerisch leicht und lebensnah begonnen hat, wirkt nun wie aus einem Musterbuch menschlicher Lebensschicksale konstruiert und in das Schema eines Entwicklungsromans gepresst, der mit der Selbstfindung der Ich-Erzählerin endet – einer vorläufigen zumindest, die erfolgreich ihr Literaturstudium abschließt und zum Weiterstudium nach England geht. "Außerschulische Texte über Ideale" hat Xu Lu eine Sammlung kleiner Texte aus dem Jahr 2007 genannt, in Anspielung auf ein Klassenlied aus ihrer Schulzeit. Denn um Ideale geht es der Autorin nach wie vor. Auf die Frage, was es für sie heißt, Ideale zu haben, erklärt sie –

    "Ich denke, ein Ideal bedeutet nicht, dass man an einem Punkt ankommt, und dann ist das Ideal erreicht, sondern es bedeutet eigentlich, erwachsen zu werden, und das ist ein Prozess, der nie zu Ende geht. Also, mir geht es zum Beispiel darum, immer besser zu schreiben, dass mein kreativer Prozess sich verbessert, dann geht es auch darum, dass ich ein Mitglied der Gesellschaft bin und da auch zum Fortschritt beitragen möchte, dass ich ein besserer Mensch werden möchte, und das sind alles Ziele oder Ideale, die eben nicht im Klassenzimmer zu erreichen sind."

    Xu Lu: "Dida". Roman. Aus dem Chinesischen von Anna Stecher, Zhang Weiyi. Edition Raetia Bozen, 2009, 418 S., Euro 15,00