Freitag, 29. März 2024

Archiv

Mircea Catarescu: "Die schönen Fremden"
Von Rumänien-Klischees und Anthrax-Hysterie

Der rumänische Schriftsteller Mircea Cartarescu hatte westliche Lesegewohnheiten in seiner "Orbitor"-Trilogie auf die Probe gestellt. Ganz anders in seinem neuen Erzählband. Ursprünglich für ein Bukarester Magazin verfasst, schildert er hier Episoden aus seinem Leben - und kitzelt noch aus den banalsten Erlebnissen Komik hervor.

Von Jan Koneffke | 27.12.2016
    Der Autor Mircea Cărtărescu
    In seinem Erzählband "Die schönen Fremden" zeigt der Autor Mircea Cartarescu seine komische Seite. (Imago Stock & People)
    Vom Höllentrip zwischen Realem und Imaginärem der knapp zweitausendseitigen "Orbitor"-Trilogie, mit der es Mircea Cartarescu zum Nobelpreis-Anwärter gebracht hat, ist sein neuer Erzählband meilenweit entfernt. Die drei autobiografischen Geschichten erinnern weder an die für Cartarescu typischen Phantasmagorien noch an seine "Elukubrationen", die in ihrer südosteuropäischen Mischung aus Schwarzer Romantik, Kafka, Borges plus entomologischen, neurobiologischen und anderen wissenschaftlichen Erkenntnissen so überwältigend wie einzigartig sind.
    Zielen die großen Romane, ausgehend von der Monade des Ich-Erzählers mit Namen Mircea, buchstäblich auf Alles, auf Mikro- und Makrokosmos, ja das Universum selbst, ohne sich an diesem Anspruch zu überheben – wenngleich mit einem nahezu heiligen Ernst, der unsere westlichen Lesegewohnheiten durchaus auf die Probe stellt – so halten "Die schönen Fremden" nicht nur die nüchterne Mittellage des Realismus, sondern bestechen in erster Linie durch ihre umwerfende Komik.
    Komischer und satirischer Ton
    Dabei waren Komik und Satire dem Autor auch zuvor nicht fremd. Angesichts der metaphysischen Welten, die er in seinem Werk durchstreifte, wurden sie aber von der Kritik regelmäßig "überlesen". Das ist bei "Die schönen Fremden" unvorstellbar.
    "Hier ist mein Ton ganz absichtlich komisch und satirisch, was mit der Entstehungsgeschichte des Buches zusammenhängt. Es wurde für ein breites Publikum geschrieben, das begierig ist – sagen wir mal so – gut und geistreich unterhalten zu werden."
    Bei seinem witzigen Ritt durch Frankreich, Italien oder die finstere rumänische Provinz zur Ceausescu-Zeit knüpft Cartarescu an der großen Komik- und Satiretradition seiner Heimat an. Nicht umsonst gehen sowohl der Dadaismus als auch das Theater des Absurden auf seine Landsleute Tristan Tzara beziehungsweise Eugen Ionesco zurück, während andere Meister der Groteske wie der schon 1912 in Berlin verstorbene, aber für die rumänische Gesellschaft bis heute aktuell gebliebene Caragiale oder der große Poet und Pamphletist Tudor Arghezi hierzulande leider unbekannt geblieben sind.
    Leichtigkeit dank Episodencharakter
    Die hakenschlagende Leichtigkeit der Erzählungen verdankt sich nicht zuletzt ihrem Episodencharakter, wurden sie doch von Cartarescu in wöchentlicher Folge für ein Bukarester Magazin verfasst.
    "Ich habe diese Rubrik dazu benutzt, mir einige, wie ich hoffe, amüsante Erlebnisse zu vergegenwärtigen, die mir im Laufe der Zeit, vom Studium bis zu dem Zeitpunkt, als ich sie aufschrieb, widerfahren sind. Also, das Ganze war nicht eigentlich als Text für ein Buch gedacht."
    Dennoch geht die Buch-Rechnung auf, denn die Kürze der Fortsetzungen sorgt sowohl für einen straffen Zusammenhalt des Ganzen als auch für die unterhaltsame Vielfalt des Geschehens. Dabei stattet der rumänische Autor seinen Ich-Erzähler mit der erforderlichen "Anmutung von Authentizität" aus, ohne jemals an die Peinlichkeit des persönlichen Berichts zu streifen.
    "In der ersten Person zu schreiben ist eine sehr anspruchsvolle Sache. Nur wenigen Autoren, die die erste Person benutzen, bringen etwas wahrhaft Interessantes und Kohärentes zustande. Der entscheidende Gewinn bei der narrativen Verwendung der ersten Person ist die Aufrichtigkeit, die Anmutung von Authentizität, die nur sehr schwer zu erzielen ist.
    Die reine Aufrichtigkeit bringt überhaupt nichts, es bedarf eines bestimmten Typs künstlerischer Aufrichtigkeit, die gewisse literarische Konventionen einhält, künstlerische Konventionen. Ich habe es mit dieser Stimme versucht, einer sehr realistischen Stimme ohne zu hohe Ansprüche, einer einfachen Stimme, die äußerst flexibel ist, in dem Sinne, dass sie ganz verschiedene Geschichten in sich vereint."
    Absurde Erzählung über Anthrax-Hysterie
    Und diese Geschichten haben es in sich: "An einem Wintermorgen vor etwa drei Jahren erhielt ich einen Anruf vom Direktor einer bekannten Kulturzeitschrift. "'Herr Cartarescu', sagte eine förmliche Stimme, 'Sie haben aus Dänemark einen Brief an unsere Adresse erhalten'." Das ist der noch völlig unverfängliche Beginn der sich in immer wahnwitzigere Höhen oder Tiefen schraubenden ersten Erzählung. Durch den Anruf neugierig geworden, macht sich der Erzähler auf den Weg, um besagten Brief abzuholen. Währenddessen rätselt er, wer der Absender sein könne, da er auf der ganzen Welt "außer Hamlet keinen weiteren Dänen" kennt.
    Kaum aber hält er die Briefsendung in der Hand, auf der er die verdächtigen Worte "Why don’t you sneeze?" entziffert, meint er mit den Fingern durch die "komplexen, in Weichheit und Festigkeit variierenden Strukturen" des Umschlaginhalts "ein Tütchen mit einer Art Pulver" zu erspüren, und ist sich sofort sicher, worum es sich nur handeln kann: um den Milzbrand-Erreger Anthrax – denn die Dinge ereignen sich zur Zeit der Anthrax-Hysterie.
    Was folgt, ist in seiner Absurdität schwer zu überbieten: Wie der Erzähler, dessen Finger und Augen bereits zu jucken beginnen, den Umschlag in den "erstbesten Abfalleimer" wirft; wie er ihn, um ein Unglück zu verhüten, ein paar Stunden später behandschuht wieder daraus hervorzieht und zur Polizei bringt; wie er stundenlang auf den verschlungenen Korridoren des balkanischen Reviers verbringt, bis einer der Beamten ("hier ist die Expertenhand gefragt!") die verschlossene Tüte mit dem Brief aufreißt, aus dessen porösem Papier sich ein Staubwölkchen in alle Richtungen verbreitet: "Das Anthrax! Der Schwachkopf hatte es uns nun endgültig eingebrockt!"
    Erzählungen mit schönen Volten
    Wie die Sache ausgeht, soll nicht verraten werden, nur, dass das Ende der Geschichte nicht überraschender sein könnte. Überhaupt schlagen diese Erzählungen die schönsten Volten, etwa wenn der Autor, der sich in Italien einen Literaturpreis abholen darf, von den Gastgebern zu einer Lesung in ein "Gefangenenhospiz der höchsten Sicherheitsstufe" verschleppt wird.
    Nach der Veranstaltung, während eines kleinen Umtrunks mit den Delinquenten, erregt er das Mitleid einer auffallend "eleganten Assistentin", die sich eingehend nach Rumänien und den Arbeitsbedingungen eines rumänischen Schriftstellers erkundigt, nur dass sich bei der Rückkehr ins Büro des Direktors herausstellt, dass "die betreffende Dame keine Assistentin, sondern eine der ältesten Gefängnisinsassinnen ist. Sie hat ihre beiden Kinder umgebracht. Und doch wartet sie jeden Tag darauf, dass diese sie besuchen kommen. Deshalb zieht sie sich so schön an."
    In der Titelgeschichte erzählt Cartarescu von seinen Erlebnissen als "Dutzendautor" auf einer hindernisreichen Lesereise durch das geliebte Frankreich. Anlass zur Komik bieten dabei die westlichen Klischees über Rumänien, die von der offiziellen rumänischen Seite ihrerseits durchaus bedient werden.
    "Vor unseren Augen spielte sich der Gipfelpunkt einer jahrzehntelangen Kulturpolitik ab, die nichts kennt außer Krautwickel und Maisbrei, Jauchzer und Ringelreihen, Bauernmalerei, Bauernmusik, Bauernmetaphysik, Bauernzahnheilkunde, Bauerngynäkologie und weiß der Teufel was noch. Unsere, die nationale Eigenheit der Primitiven Europas. Im Orchester der Völker haben wir uns schlechterdings mit der Okarina unserer Vorfahren präsentiert. Und nun blickten unsere Offiziellen, darunter sogar der Herr Botschafter, peinlich berührt zu Boden."
    Rumänien als "No-Man's-Land"
    "Rumänien in den Augen der Fremden, in diesem Fall in den Augen der Franzosen, das ist zunächst mal ein Land, über das man nur sehr wenig weiß, ein Land, das nicht exotisch genug ist, als dass es so etwas wie einen Brand, eine Marke darstellt und sei es eine negative, wie das beispielsweise Ungarn oder Polen tun, Rumänien ist eher ein No-Man's-Land."
    "Die schönen Fremden" stellt im Oeuvre Mircea Cartarescus kein Hauptwerk dar – doch zu Recht beharrt der Autor auf der Bedeutung auch des weniger Bedeutenden:
    "Ein menschlicher Körper kann nicht nur aus lebensnotwendigen Organen bestehen, nur aus Gehirn, Herz, Lunge oder Leber. Auch der kleine Zeh am Fuß ist wichtig und niemand würde ihn sich gerne abtrennen lassen, nicht wahr?
    Deshalb glaube ich an die 'niedrige' Literatur und denke nicht, dass sie als Literatur gleich schwächer sein muss oder geringere Möglichkeiten haben muss, das verhält sich so wie in der Musik, wo die niedrigen Gattungen ebenso wichtig sind wie die bedeutenden und es auch in den niedrigen Gattungen außerordentliche Kompositionen gibt."
    Mircea Cartarescus neues Buch besticht durch erfrischende Leichtigkeit, stilistische Brillanz – die dank Ernest Wichners Übersetzung auch im Deutschen zum Tragen kommt – und durch die hohe Kunst des Autors, noch aus den banalsten Erlebnismücken Elefanten der Komik und (Selbst)Erkenntnis zu machen.
    Mircea Cartarescu: Die schönen Fremden.
    Erzählungen. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016. 301 Seiten, 21,90 Euro.