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Miss Bukarest

Die Leiche wird aus dem Wasser gezogen – und ihre Geschichte könnte einem Kolportageroman entstammen. Erika Binder lebt als Angehörige der deutschen Minderheit in Rumänien. Einige ihrer Freunde sind Dissidenten, und das veranlasst die Staatssicherheit sie mit allen Mitteln abzuschöpfen. Die Aussichtslosigkeit der Verhältnisse treibt die junge Frau in die Arme eines westdeutschen Geschäftsmannes, der zwar Osthoff heißt, also der Frau aus dem Osten Hoffnung verheißen sollte, seinerseits aber mit der Staatssicherheit verkuppelt ist.

Jan Koneffke | 11.08.2003
    Das Embargo missachtend, das der Westen gegen den Osten wegen des Einmarsches der Roten Armee in Afghanistan verhängt hat, verkauft er Software an Rumänien. Erika heiratet den Herrn aus dem Westen, ohne zu wissen, was der auf dem Kerbholz hat, und darf, als seine Ehefrau, ausreisen. Erst viel später erfährt sie, wie Osthoff sein Geld gemacht hat, das er nach dem Fall der Mauer der von ihm schon entfremdeten Erika überlässt, um das BKA irrezuführen. Doch nun weigert sie sich, es zurückzuzahlen, will stattdessen mit dem Geld ein Heim für rumänische Kinder finanzieren. Und diese erste souveräne Entscheidung, die Erika Osthoff, geborene Binder, trifft, ja treffen kann, weil sie zum erstenmal eingeweiht ist in die Geheimnisse ihres Lebens, die andere um sie gesponnen haben, bezahlt sie mit dem Leben.

    Der Plot des neuen Romans von Richard Wagner, der sich dem Leser freilich nur nach und nach erschließt, wie es sich für einen echten Agenten- und Kriminalroman gehört, wirkt reichlich trivial, und ist auch mit allen Ingredienzien gewürzt, die Geschichten im Geheimdienstmilieu so an sich haben. Doch der rumänendeutsche Dichter und Schriftsteller Wagner, der 1987 nach quälenden Prozeduren aus Rumänien ausreisen durfte, ist ein gewiefter Erzähler. Er weiß sehr wohl, dass die Wirklichkeit nie trivial, allenfalls banal sein kann – und die der Geheimdienste ist es fast immer –, dass aber die Banalität der Wirklichkeit in der literarischen Darstellung leicht zu trivialen patterns erstarrt.

    In seinem Buch Miss Bukarest hat Richard Wagner eine überzeugende literarische Antwort auf das Dilemma gefunden. Zum einen bedient er sich des Kunstgriffes, die Geschichte aus drei Perspektiven erzählen zu lassen. Der erste Erzähler heißt Dinu Schullerus und war selber einmal beim gefürchteten rumänischen Geheimdienst. Doch einige Jahre vor dem Fall der Mauer hat er das Land seiner Herkunft verlassen.

    Mittlerweile arbeitet Schullerus, der sich nun Dino nennt, damit man ihn für einen Italiener hält, in einer Berliner Detektei. Dieser Dinu – oder Dino – ist die überzeugendste Figur des Romans. Denn weit entfernt, dem Klischee zu entsprechen, das man sich von einem ehemaligen Securitate-Mann machen mag, räsoniert der seine Geschichte durchaus vernünftig, gelegentlich fast symphatisch. Mit dieser Figur gelingt Wagner ein hintergründige Psychogramm: Im Räsonement Schullerus‘ schlägt immer wieder die nationalistische Mentalität durch, wie sie für den Durchschnittsrumänen so typisch ist. Doch gleichzeitig ist es dem Aussteiger von einst sehr ernst damit, sich an die neuen Verhältnisse anzupassen.

    Zynisch spricht er über die engen Familienbande, wie sie für die rumänische Welt bis heute bezeichnend sind: "Das Blut ist eben stärker als das politische System. Mindestens auf dem Balkan ist es so." Böse urteilt er über die orthodoxe Kirche: "Zuerst hat mich der Kommunismus gestraft, jetzt erwischt mich sein Ende nochmals kalt. So pathetisch bin ich manchmal. Strafe muß jedenfalls sein. Da hat unsere Orthodoxe Kirche schon recht. Auch wenn sie das Diktum nicht auf sich selber bezieht."

    In dieser Mischung aus Einsicht und Chuzpe, Selbstmitleid und sentimentalen Anflügen, verrät das Räsonement des Ex-Securisten dem Leser einiges über die Vergangenheit und Gegenwart der rumänischen Welt und der rumänischen Emigranten. Die Geschichte der Erika, zu der Dinu Schullerus seinerzeit ein Verhältnis unterhielt, um sie für seine Oberen besser aushorchen zu können, dient da im Wesentlichen als roter Faden in der Erzählung des eigenen beschädigten Lebens.

    Moralischer, aber nicht weniger witzig, geht es beim zweiten Erzähler zu, dem alter ego des Autors Richard Wagner. Auch der rumänendeutsche Essayist Klaus Richartz hatte ein Verhältnis mit Erika Binder, die er damals "Miss Bukarest" nannte. Die Erinnerung an die tote Frau kommt nicht ohne Selbstvorwürfe aus: "Ich hatte das westliche Ufer nicht nur ohne sie, sondern auf ihre Kosten erreicht. Erika war ein Opfer." Wenn Richartz an anderer Stelle, und von abstrakter Höhe herab, bemerkt: "Die Aufarbeitung der Vergangenheit macht das Mißtrauen nur noch größer. Sie zerstört unser Leben rückwirkend", um dann doch an der Notwendigkeit der Erinnerung festzuhalten, dann bietet uns Richard Wagner zwar keine aufregend neuen Erkenntisse.

    Im Zusammenhang mit Erikas Geschichte wird die Selbstreflexion des Erzählers aber schließlich zur schmerzlichen Erfahrung: "Alles, was wir geschrieben haben, ist wahr, nur, es ist nicht unsere persönliche Wahrheit, und so ist es auch nicht die ganze Wahrheit." Was tragisch klingt und auch tragisch ist, wird immer wieder von bissig-komischen Schilderungen unterbrochen, etwa wenn Richartz von Christine erzählt, der Freundin eines Dichterkollegen, die einen Hang zu politisch verfolgten Männern aus dem Osten hat. Nicht nur Rumänien ist der Stoff des Romans, sondern auch das Deutschland der jüngsten Vergangenheit, und das macht nicht den geringsten Reiz dieser Prosa aus.

    Der dritte Erzähler, Dinu Schullerus‘ Sohn, muß den schwächsten Part übernehmen. Und das im doppelten Wortsinn: Denn Christian soll sich nun mit einer Vergangenheit herumschlagen, für die er keine Verantwortung trägt. Trotzdem holt sie ihn ein. Den schwächsten Part übernimmt er aber auch als Erzähler, denn für diese Problematik des Nachgeborenen fehlte Richard Wagner dann offenbar doch die Erfahrung – oder die nötige Phantasie – um sie überzeugend zu gestalten.

    Schließlich ist es die lakonische Sprache Richard Wagners, sind es seine kurzen, prägnanten, schnörkellosen Sätze, die aus der Agenten- und Kriminalgeschichte authentische Literatur machen. Freilich steht die Sprache, die alle drei Erzähler gleichermaßen teilen, quer zur Rollenprosa: Das ändert aber nichts daran, daß Richard Wagner mit seinem fünften Roman ein komplexes und gleichzeitig spannendes Buch gelungen ist.