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Mit den Augen eines Kindes

Sinnlichkeit und Körperlichkeit, das sind die zentralen Begriffe des auf Deutsch geschriebenen Romans "Der Körper meines Bruders". Eingebettet in die schweren Zeiten der ungarischen Revolution und rollender sowjetischer Panzer, schildert die Autorin Léda Forgó auf sehr eindringliche Art und Weise die persönliche Situation eines Mädchens und seiner Familie. Ein unbefangener Rückblick auf das grausame Schicksal der Bevölkerung Ungarns.

Von Lerke von Saalfeld | 23.11.2007
    Einen Debüt-Roman möchte ich heute vorstellen; Autorin ist Léda Forgó, 1973 in Ungarn geboren und aufgewachsen in Budapest:

    "Wenn ich so richtig nachdenke, sage ich immer, ich bin eine Ungarin, ich bin aber eine deutsche Schriftstellerin. Das ist ein Zwiespalt, aber trotzdem ist es für mich die natürlichste Sache und einfach harmonisch, trotzdem."

    Mit 21 Jahren ging Léda Forgó nach Stuttgart, wo sie Geschichte studierte und sich anschließend mit Figurentheater beschäftigte. 1998 zog sie um nach Berlin und diese Stadt ist nun der Ort ihres Lebens und Schreibens - bisher waren es hauptsächlich Theaterstücke, jetzt hat sich die Autorin an den ersten Roman gewagt, und sie hat ihn nicht auf Ungarisch, sondern auf Deutsch geschrieben, in der Sprache, in der sie seit dreizehn Jahren lebt:

    "Deutsch ist für mich viel dynamischer, ich schreibe dann knapper, wenn ich auf Deutsch schreibe. Es ist so, dass ich versuche, nicht vom Ungarischen zu übersetzen, sondern meine Gefühle zu übersetzen, ich schreibe, ohne darüber großartig formal nachzudenken und wenn ich das zurücklese - wenn ich es auf Deutsch geschrieben hatte - das ist für mich immer wieder ein kleines Wunder, weil es für mich doch eine Fremdsprache ist. Wenn ich auf Ungarisch schreibe, kann ich gleichzeitig während des Schreibens mithören; auf Deutsch versuche ich, einfach meine Gedanken mitzuteilen und dann erstaunt es mich, dass es eine Form hat."

    Eingerahmt wird der Stoff, den Léda Forgó erzählt, durch zwei politisch traumatische Ereignisse, die ungarische Revolution von 1956 und den Einmarsch sowjetischer Panzer 1968 in die Tschechoslowakei. Aber nicht die Politik steht im Vordergrund ihres Romangeschehens, der Autorin geht es um etwas anderes:

    "Genauer gesagt die Atmosphäre, die sich aus dieser geschichtlichen Situation ergab. Das war für mich das Wichtigste. Ich habe versucht nachzuempfinden, was für Ängste die damals Lebenden haben mussten oder wie der Bezug zum Staat war und zu einander und worüber sie sich getraut haben miteinander zu sprechen oder wie Einschränkungen gingen - also nicht direkt die Geschichte, sondern die Atmosphäre, die sich daraus ergab."

    Ort der Handlung ist Budapest. Der Roman setzt ein mit einer großartig beschriebenen Geburtsszene, es ist November 1953. Eine Frau gebiert einen Knaben, fühlt sich erleichtert, und dann geht die schreckeinflößende Pein von Neuem los; unerwartet kommt noch ein zweites Kind, ein Mädchen, zur Welt. Die Mutter Mo lehnt spontan die Zwillinge ab, sie empfindet sie wie "zwei bissige, stinkende Köter". Der Vater erzieht die Kinder, weil die Mutter sich verweigert. Die Kinder wachsen in enger Symbiose auf.

    Während der Straßenkämpfe im Herbst 56 passiert das Unglück. Der Bruder, den die Mutter durch das aufständische Budapest trägt, wird ihr vom Rücken geschossen und ist tot. Der Vater verwindet diesen Schmerz nicht und begeht auf dem Dachboden des Wohnhauses Selbstmord. Mutter Mo und Tochter Borka, aus deren Perspektive der Roman in Ich-Form erzählt wird, sind nun auf sich allein zurückgeworfen und müssen versuchen, über die Leerstellen in dieser zerborstenen Familie hinweg weiterzuleben - mit Ängsten, mit Vorwürfen, mit Erinnerungen. Borka wächst in einer unruhigen Zeit heran, die Erwachsenen sind ebenso orientierungslos wie das Kind, das die Welt der Großen beobachtet und zu verstehen versucht.

    Wie ein Schatten liegt der Bruder über dem Geschehen, er löst bei Borka Schuldkomplexe aus, sie versucht für ihn mitzuleben, aber sie will sich auch von ihm befreien, ein eigenes Leben leben. Bewusst hat die Autorin den Romantitel "Der Körper meines Bruders" gewählt:

    "Am Anfang war meine Zielsetzung einen sinnlichen Roman ohne Sexualität zu schreiben. Ich wollte etwas sehr Körperliches aber doch ohne diesen körperlichen Bezug schreiben. Ich habe versucht alles plastisch zu beschreiben, es geht alles über den Körper, aber dennoch sind da reflektierende Gedanken, körperlos. Durch den Körper die Körperlosigkeit. Der Körper ist für mich ein wichtiger Begriff...Es ist die abgeklungene Erinnerung von etwas sehr Körperlichem."

    Borka betrachtet mit wachem Blick, was um sie herum passiert, ohne dass sie immer einordnen kann, welcher Sinn dahinter steckt. Die Mutter verliebt sich in einen Genossen. Borka erfährt erst später seinen Namen Endre; sie fühlt sich angezogen und abgestoßen von diesem Mann, der plötzlich zwischen sie und die Mutter tritt; sie verdächtigt ihn auch, ein Spitzel zu sein.

    Endre ist gewalttätig gegenüber dem widerborstigen, eifersüchtigen kleinen Mädchen und doch, einige Jahre später, nachdem Endre ihre Mutter längst verlassen hat, trifft sie ihn in einem Ferienlager wieder - in der Ferne hört man Panzergeräusche, es ist August 1968. Die 15jährige Borka wird von Endre im Zustand der Volltrunkenheit vergewaltigt und geschwängert. Und so wie der Roman mit einer Geburt beginnt, endet er auch mit einer Geburt. Die Mutter Mo, die langsam herausfindet, dass der Samengeber ihr Ex-Geliebter ist, empfindet in dieser Situation plötzlich eine liebevolle Vertrautheit zu ihrer Tochter und erzählt, wie am Anfang des Romans, ihr eigenes Geburtserlebnis. Das legt die Vermutung nah, für die Autorin ist der Geburtsvorgang ein überhöhtes, mythisches Ereignis. Die Anwort von Léda Forgó erstaunt:

    "Als ich diese Geburtsszene das erste Mal aufs Papier warf, da hatte ich selbst noch keine Kinder. Ich dachte mir, so fängt eine Lebensgeschichte an und dass es mit einer Geburt endet, das hat sich einfach so ergeben, das Rahmendenken, ich habe nicht einen besonders starken Bezug zu Geburten, denke ich nicht."

    Rahmen hin, Rahmen her, die zweite Geburt am Ende des Romans ist nicht unbedingt einleuchtend, mutet ein wenig zu dick aufgetragen an. Darüber lässt sich jedoch hinwegsehen, denn Léda Forgó ist in ihrem ersten Roman ein erstaunliches dichtes Werk von widersprüchlichen Gefühlswelten in einer widersprüchlichen Zeit gelungen. Das gesellschaftliche Klima, das Verhalten der Menschen aus der Sicht eines Kindes zu porträtieren, eröffnet die Möglichkeit, das, was als normal gilt, durch das naive Staunen des heranwachsenden Mädchens in Frage zu stellen und neu zu beleuchten. Vielleicht ist auch deshalb ein so überzeugendes Stimmungsbild entstanden, weil die Autorin, geboren 1973, mit dem Blick der Nachgeborenen unbefangener in die bedrückenden Jahre nach 1956 eintauchen konnte:

    "Das ist die Zeit meiner Eltern, und ich hatte immer eine Sehnsucht nach dieser Zeit, weil sie mir sehr viel darüber erzählt hatten oder andere befreundete Erwachsene aus ihrem Kreis. Es ist für mich Geschichte, es ist für mich fremd, weil ich nicht in der Zeit lebte. Die Nähe kommt nicht aus der Selbsterfahrung. Ich habe auch ganz viele Filme aus dieser Zeit mir gekauft, irgendwie musste ich mir ja dieses Zeitgefühl aneignen. Ich habe auch versucht, meine Verwandtschaft und Bekannten zu interviewen, aber sie haben entweder mit sehr viel Pathos über die Zeit gesprochen oder so reflektiert, dass es nichts mehr mit einem richtigen Gefühl zu tun hatte. Ich habe mir Ausstellungen reingezogen, sehr viele Geschichtsbücher, sehr viel recherchiert. Und was mir wichtig war, die Gegenstände zu suchen, was im Alltag da war, Fotos. Sehr viele Geständnisse, Berichte über die Zeit, nicht in Bücherform sondern von privaten Personen."

    Mit Léda Forgós Roman "Der Bruder meines Körpers" ist ein sehr eigenwilliger, persönlicher Ton in die Betrachtung der Anfänge der Kádár-Zeit in Ungarn gekommen. Die Autorin lebt zwar und schreibt aus Erinnerungen, aber sie ist emotional nicht so blockiert wie die ältere Generation, auch wenn ihr Roman eine sympathetische Annäherung ist. Mit großer sprachlicher Eindringlichkeit, mit einer aufregenden Mischung aus Sinnlichkeit und Reflektion beschreibt sie mit literarischer Hingabe das schwierige Leben in dramatischen Zeiten.


    Léda Forgó: Der Körper meines Bruders. Roman
    Atrium Verlag
    333 Seiten. 19,90 Euro