Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Mit den Ohren sehen

Medizintechnik.- Bisher ist der sogenannte Langstock für blinde Menschen noch immer die beste Hilfe. Doch er setzt allein auf den Tastsinn. In einem EU-Projekt haben Forscher nun versucht, die Welt für Blinde akustisch erfahrbar zu machen.

Von Tomma Schröder | 08.09.2009
    Ein Mann bewegt sich in Trippelschritten auf drei Pappsäulen zu. Er trägt einen Helm, auf den zwei Kameras aufgesetzt sind, eine große schwarze Brille und Köpfhörer. Manchmal stockt er, bewegt den Kopf leicht hin und her, konzentriert sich. Schließlich geht er sicher zwischen den Säulen hindurch. Der spanische Wissenschaftler Guillermo Peris hat ihn dabei filmen lassen. Die Videosequenz soll belegen: Der blinde Mann konnte die Hindernisse sehen – mit Hilfe seiner Ohren.

    "Wir stellen ein Werkzeug zur Verfügung, dass es möglich macht den Raum zu erfassen. Es überträgt räumliche Informationen in akustische."

    Guillermo Peris ist Koordinator des EU-Projektes Casblip. Die Abkürzung steht für "Cognitive Aid System for Blind People", zu Deutsch: Wahrnehmungshilfe für Blinde. Zusammen mit seinen internationalen Partnern will der Wissenschaftler aus Valencia die Dinge zum Klingen bringen.

    "Casblip hat zwei Informationsquellen. Zum einen den Infrarot-Laser, der in der Brille eingebaut ist. Er misst in Echtzeit den Abstand zu Objekten, die bis zu fünf Meter entfernt sind. Diese Informationen können wir dann in ein Geräusch umwandeln, das genau aus der Richtung zu kommen scheint, wo das Hindernis steht. Zum anderen sind da die beiden Stereo-Kameras. Sie können die Bewegung von Objekten erkennen und sie mit einem Geräusch nachzeichnen."

    Dieses Geräusch ist zunächst einmal ein ganz gewöhnliches Rauschen. Doch hinter diesem Ksch, Ksch verbergen sich jede Menge Informationen. Je nach Lautstärke, Tonhöhe und Position im Stereo-Klangbild ändert sich der Informationsgehalt des Geräusches. Bei einem tieferen Klang ist das Objekt noch weiter entfernt. Je näher es kommt, desto höher der Ton. Um den Anwender mit den akustischen Informationen nicht zu überfrachten, reduziert das System die Geräusche aufs Wesentliche. Ziel der Forscher um Guillermo Peris ist es, die Umgebung akustisch so darzustellen, dass die Probanden nicht mehr jedes Geräusch einzeln entschlüsseln müssen. Wie Sehende auch sollen sie die Umwelt intuitiv wahrnehmen können.

    "Wenn eine Person das System eine Weile benutzt, dann beginnt sie den Raum wahrzunehmen ohne die Geräusche bewusst zu hören. Die akustischen Informationen gehen direkt in die Gehirnregion, die für 3D-Informationen zuständig ist. Man kann sich dann unterhalten, ohne dass die akustische Wahrnehmung gestört wird."

    Soweit die Theorie. In der Praxis berichten einige der Testpersonen von Schwierigkeiten, die Geräusche zuzuordnen, und von hohem Trainingsaufwand. Auch der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband, der ebenfalls an dem EU-Projekt beteiligt ist und Tests durchführt, reagiert noch zurückhaltend. Die akustischen Informationen würden viele Probanden noch erschlagen und wichtige Umweltgeräusche wie etwa Autolärm abschirmen, heißt es. Zudem erfasst der Laserscanner zwar 60 Grad in der Horizontalen, vertikal wird aber nur ein sehr kleiner Winkel abgebildet. Kleine Gegenstände erkennt das System daher oft nicht. Und dann ist da noch das Problem mit Größe und Gewicht der Geräte. Zum Beispiel der Brille.

    "Stellen Sie sich vor, Sie müssten das Gewicht eines normalen Handys auf ihrer Nase tragen. Das ist schon ziemlich schwer. Aber dies ist erst der erste Prototyp. Wenn wir die Möglichkeit bekommen, weiter zu machen, dann wird das nicht mehr so sein."

    Trotz Kritik im Detail attestiert auch der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband der akustischen Orientierungshilfe großes Potential. In Langzeittests, bei denen die Personen sich an das System gewöhnen konnten, bewegten sich Blinde bereits viel autonomer. Um keine falschen Erwartungen zu wecken, will der Verband mit einem abschließenden Urteil aber lieber noch warten: Solange, bis aus dem vier bis fünf Kilo schweren Prototyp eine praxistauglichere, verfeinerte Variante geworden ist.