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"Mit der Haltung eines Römers"

Heimo Schwilk, seit langem einer der besten Kenner von Jüngers Werk und Leben, hat im Vorfeld des 10. Todestages eine große Biographie vorgelegt. Schwilk stützt sich dabei im Wesentlichen auf die schriftlichen Lebenszeugnisse und dabei vor allem auf den Jünger-Nachlaß im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Schwilk bietet keine grundlegend neue Sicht auf Jünger an, jedoch eine erweiterte.

Eine Kritik von Christoph Bartmann | 16.01.2008
    Am 29. März 1995 - Heimo Schwilk schildert die Szene in aller Ausführlichkeit - feiert Ernst Jünger in Wilflingen seinen 100. Geburtstag. Frankreichs Staatspräsident Francois, der Jünger schon zuvor mit Bundeskanzler Kohl einen Besuch abgestattet hat, schreibt aus Paris, Jünger sei "ein freier Mensch", seine Haltung "die eines Römers, stolz und aufrecht, unerschütterlich." Zur Geburtstagsfeier selbst kommen 160 Gäste,

    "an ihrer Spitze Bundespräsident Herzog und Bundeskanzler Helmut Kohl, die Jünger und seiner Gattin schon am Vormittag des 29. März in Wilflingen die Aufwartung machen. Zwischen den beiden korpulenten Politikern, die ihn um Kopfeslänge überragen wirkt der Hundertjährige schmal und zerbrechlich, ein wenig hölzern versucht er Schritt. Die hohe Politik aus Bonn und Berlin fühlt sich mitgeehrt durch die Zelebrität des Ereignisses."

    Was sich an diesem Tag tief in der oberschwäbischen Provinz zugetragen hat, ist die vielleicht merkwürdigste Begegnung zwischen Literatur und Politik, die es in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg gegeben hat. Internationale Regierungschefs, Sozialisten wie Konservative, verneigen sich vor einem Mann, der aus seiner Geringschätzung von Tagespolitik und parlamentarischer Demokratie selten ein Hehl gemacht hat. Welchem Jünger, wenn nicht dem Anti-Demokraten, erweisen die politischen Würdenträger dann die Ehre? Der Jahrhundertgestalt, die allein schon durch ihr Überleben in einen mythischen Rang aufgestiegen ist? Dem geläuterten Faschisten, der nicht nur Hitlers Lockrufen widerstanden hat, sondern sich vom Nationalrevolutionär in einen Propheten des Weltstaats verwandelt hat? Dem alten Kameraden, der mit seinen Kriegsbüchern aus dem Ersten Weltkrieg mehr für die deutsch-französische Verständigung geleistet hat als je ein Zivilist? Oder etwa dem Naturforscher, der führenden Kapazität auf dem Gebiet der Entomologie, also der Käferkunde? Welche Facette aus Jüngers langem Schreiben, Forschen und Handeln man auch herausgreift, sie verwebt sich mit den anderen zu einem an Faszination schwer zu überbietenden Lebenstext.

    Heimo Schwilk, seit Langem einer der besten Kenner von Jüngers Werk und Leben, hat nun im Vorfeld des 10. Todestages eine große Biographie vorgelegt. Schwilk stützt sich dabei im Wesentlichen auf die schriftlichen Lebenszeugnisse und dabei vor allem auf den Jünger-Nachlaß im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Schwilk bietet keine grundlegend neue Sicht auf Jünger an, jedoch eine erweiterte, vor allem, was Jüngers frühe Jahre betrifft. Er nimmt keine politisch-literarische Neubewertung vor, aber er lässt Jüngers Profil deutlicher werden. Schwilks Sympathie für Jünger hindert den Biographen nicht daran, die Dokumente auszubreiten, die Jünger ins Zwielicht rücken. Dem Leser geht es nicht viel anders als Mitterrand, Kohl oder Herzog: man kann nicht anders als Ernst Jünger, diesem "abenteuerlichen Herz" (so der Titel eines seiner besten Bücher) Respekt zu zollen.

    Ein Blick auf Jüngers frühe Vita führt tief zurück in den Wilhelminismus, in den Größenwahn, den Fortschrittsglauben und den Militarismus einer Epoche, in der Deutschland nach der Weltmacht strebte. Der junge Ernst Jünger, Sohn eines unternehmerisch veranlagten, ständig den Wohnort wechselnden und dem naturwissenschaftlichen Zeitgeist huldigenden Apothekers, passt nicht ganz in diese Bürgerwelt. Er ist ein Außenseiter, aber einer von der romantischen Art, ein Abenteurer, der sich aus den Begrenzungen seines Schuldaseins hinaus schreibt und träumt. Einmal besucht er mit seinem Bruder das sogenannte Stöhrkreuz in der Nähe des niedersächsischen Bispingen und träumt sich beim Nachdenken über den hier verewigten Heideschäfer in einen regelrechten Ausnahmezustand. Ein "mysterium tremendum und fascinosum" ergreift ihn angesichts der Legende von der Wiederauferstehung des greisen Schäfers von seinem Totenbett. "Es war", schreibt Jünger später, "ein Gleichnis großer Geheimnisse". Schwilk erzählt hierzu:

    "Der Freiheitsdrang, Fluchtgedanken und die Suche nach dem Geheimnis des Lebens setzen die Begabung zum literarischen Ausdruck frei: Ernst schreibt Gedichte und trägt sie in eine in Wachs gebundene Kladde ein. Dann sucht sich das Ausbruchsverlangen ein anderes Ziel: Afrika. Angeregt durch die Lektüre von Henry Morton Stanleys Expeditionsbericht 'Im dunkelsten Afrika' phantasiert sich der Siebzehnjährige in schreckliche Tropenabenteuer hinein. Um sich für das Leben inter der Sonnenglut Afrikas zu stählen, setzt er sich mitten im Hochsommer in ein stark bewässertes und daher feucht-heißes Treibhaus, in dem sein Vater Gurken züchtet. Er liest Abenteuerbücher, darunter den "Robinson Crusoe", und raucht Pfeife, die entweder mit der feingeschnittenen schwarzen, starken Sorte ´Bambus´oder der blonden und leichten Brera´gestopft wird."

    Der junge Jünger, ein schlechter Schüler mit einem von den Lehrern beklagten Mangel an Disziplin, hat sich in eine Karl-May-Welt geflüchtet. Sie bleibt keine Traumwelt für ihn, sie wird zum Ernstfall, der sich im biographischen Dreischritt Wandervogel - Fremdenlegion - Mobilmachung zusammenfassen lässt. Jünger, ein Mann der Lektüren, der Tagträume und durchaus auch einer alkohol- und tabakhaltigen Behaglichkeit, liebt außerdem die Tat und vor allem die Heldentat. Und er ist, trotz oder wegen seines Außenseitertums, eine Führungsfigur. Kaum hat der Vater den Ausreißer aus der französischen Fremdenlegion zurückgeholt, stürzt sich Jünger in sein nächstes, in sein Lebensabenteuer, den Ersten Weltkrieg, die große Probe auf Mannesmut und -ehre und außerdem ein technikbewehrtes Gemetzel, wie es die Welt noch nicht sah. Als 1918 Generalmajor von Busse seinen Untergebenen, Leutnant Jünger, für den höchsten preußischen Kriegsorden, den "Pour le Mérite" vorschlägt, begründet er dies wie folgt:

    "Lt. Jünger ist in der ganzen Division bekannt als rücksichtsloser tapferer Führer, der von seinen Füsilieren alles verlangen kann, dem seine Kompanie unbedingt folgt, wohin er sie führt. Er war sechsmal verwundet und jedes Mal, wenn neue Kämpfe bevorstanden, wieder bei der Truppe. (...) Jetzt hat er bei schweren Vorfeldkämpfen am 22. und 25. Juli sich wieder so prächtig benommen und persönlich so wirksam eingegriffen, dass der Engländer erhebliche Verluste erlitt und seine Anschläge vereitelt wurden."

    Aus dem Ersten Weltkrieg kehrt Jünger in ein gedemütigtes und zerrüttetes Deutschland zurück, in dem er, mehr noch als die meisten seiner Generationsgenossen, einen politischen und gesellschaftlichen Ort sucht, ohne ihn zu finden. Ein Bürger war er nie und will er auch nun nicht werden. Der Liberalismus ist ihm ebenso ein Übel wie der Sozialismus, und auch die national-sozialistische Option, die in diesen Jahren sichtbar wird, stößt ihn ab. Jünger, der Mann der kriegerischen Kollektive, ist zugleich ein Solitär. Seine Kriegsbücher, vor allem in "Stahlgewittern", machen ihn berühmt und verschaffen ihm Einfluß in politischen und militärischen Kreisen. Jünger, unschlüssig, ob und wie er sich in der unübersichtlichen ideologischen Lage Geltung verschaffen soll, wählt wieder den Weg des Außenseiters und findet dabei wieder glühende Verehrer. Die politische Radikalisierung geht bei ihm einher mit der Ausbildung eines neuen Phänotyps: zum Abenteurer und Frontsoldaten tritt der Dandy, der Stoiker, der Naturforscher und, um Jüngers Wort zu verwenden, "Anarch". Interessant, wie Jünger bei aller Kühnheit im Denken und Handeln dennoch darauf achtet, den guten Sitten, etwa den familiären, Genüge zu tun, wenn er etwa im Jahre 1925 seiner Großmutter schreibt:

    "Ich möchte Dir nun mitteilen, liebe Großmutter, dass ich mich in den nächsten Tagen zu verheiraten gedenke, und zwar mit dem Fräulein v. Jeinsen, mit dem ich ja bereits fast drei Jahre lang verlobt bin. Sie ist jetzt 19 Jahre alt und ich 30, und da wird es allmählich Zeit, dass ich an die Gründung einer Familie denke. Da die äußeren Verhältnisse zufrieden stellend sind, so bestehen hinsichtlich unserer Verbindung keine Bedenken mehr, ich habe das Bedürfnis, in ein ruhigeres Leben einzutreten."

    Das "ruhigere Leben" hat Ernst Jünger dann auch tatsächlich geführt; von den Kriegsjahren an der Front und später im besetzten Paris und von einigen turbulenten Berlin-Jahren abgesehen, hat er zurückgezogen im Hannoverschen, am Bodensee und später in Oberschwaben gelebt, zugleich aber auf der Suche nach Käfern und Kometen die Welt bereist. Seiner Lebensform nach gehörte Jünger am Ehesten wohl ins 18. Jahrhundert, seinen Gedanken und literarischen Motiven nach hingegen ganz ins 20., wenn nicht ins 21. Jahrhundert. Der Nationalrevolutionär, der mit fasziniertem Schauder die totale Herrschaft Hitlers heraufziehen sah und sich dann doch bis an die Grenze der eigenen Gefährdung von ihm fern hielt, hat die Diagnostik seiner und unserer Gegenwart um wichtige Stichwörter bereichert. "Die totale Mobilmachung" und "Der Arbeiter", zwei Groß-Essays Jüngers aus den späten Tagen der Weimarer Republik, behalten ihre Aktualität als frühe, hellsichtige Profile des "technischen Zeitalters". Jüngers literarische Werk, allen voran das "Abenteuerliche Herz" in seinen zwei Fassungen, weisen ihn als einen der wenigen deutschen Weggefährten des Surrealismus aus. Nie mehr hat Jüngers literarisches und publizistisches Werk ein solches Momentum erlebt wie in den Krisenjahren um 1930. Schon in der von Vielen als Widerstandszeugnis gelesenen Schrift "Auf Marmorklippen" bahnt sich dann ein Rückzug (oder eine Öffnung) ins Zeitlose an. Fortan dominiert in Jüngers Denken das Planetarische über das Deutsche, der Weltstaat über die Nationalrevolution und der Friede über den Krieg. Die jüngerschen Motive von einst, der Schock, der Schrecken, die Kälte, sie sind nicht verschwunden, doch wie verwandelt, fast wie ein Käfer im Bernstein. Auf seine ganz alten Tage ist Ernst Jünger dann noch zum Katholizismus konvertiert, Heimo Schwilk schildert die Umstände. "Unser Pfarrer Niebel sorgt für die örtliche Harmonie", erwähnt Jünger in seinem Tagebuch - fürwahr ein weiter Weg, den Ernst Jünger in seinem fast einhundertunddreijährigen Leben gegangen ist.

    Heimo Schwilk: Ernst Jünger. Die Biographie. Piper Verlag. München 2007. 598 S. , Euro 24, 90