Donnerstag, 25. April 2024

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Mit der Leichtigkeit Shakespeares

Mit einem tragischen Sturz beginnt Kiran Nagarkars neuer Roman "Ravan und Eddie". Als Baby fällt Ravan aus dem fünften Stock eines Mietshauses in Bombay. Als er von Eddies Vater Victor aufgefangen wird, erleidet dieser einen Herzinfakt. Der indischen Autorin ist eine Tragikkomödie mit Shakespear’scher Leichtigkeit gelungen.

22.03.2005
    "Die erste Idee für den Roman war ein Bild. Henry James sprach von einer bestimmten Vorstellung, als er das "Bildnis einer Dame" zu schreiben begann. Ich möchte mich nicht mit ihm vergleichen, aber auch ich hatte ein klares Bild im Kopf, nämlich das eines Jungen, der fällt und fällt und fällt, aus sehr großer Höhe..."

    Nagarkars Roman "Ravan und Eddie" beginnt mit einem Sturz. Es ist der Moment, wo der Junge Ram zu Ravan wird, denn er ist es, der als Baby aus dem fünften Stock eines Mietshauses in Bombay fällt. Und er ist es, der, selbst unschuldig, den Tod von Eddies Vater Victor herbeiführt. Dieser nämlich fängt Ram, vor dem Haus stehend, in seinen Armen auf und erleidet dabei einen Herzinfarkt. Die Tragikkomödie nimmt mit Shakespear’scher Leichtigkeit ihren Lauf: Rams Mutter Parvati glaubt fortan, die Geburt ihres Sohnes stehe unter einem Unglückszeichen und entschließt sich für einen Namenswechsel. Dieser hat, wie so häufig bei Kiran Nagarkar, eine mythologische Dimension: Ram ist der Name einer Inkarnation des hinduistischen Gottes Vishnu, ein vorbildlicher, edler Prinz. Ravan war dessen stärkster Widersacher, ein Dämonenkönig, der Rams Gemahlin Sita entführt hat. Bei Nagarkar nun fällt Ram mitten hinein in ein postkoloniales indisches Großstadtmilieu, nichts wird mehr wie zuvor:

    "Parvatis Sohn ging über Bord und mit ihm fast drei Viertel von Parvati selber, die sich lebensgefährlich weit über die Balkonbrüstung reckte. Victors Hände schossen wieder in die Höhe. In diesem Moment hatte er eine Vision vom Jesuskind. Die Sonne stand hinter dem Jungen wie ein sternenfunkelnder Strahlenkranz. Er hatte den Kopf in den Nacken geworfen und lachte. Seine Arme waren weit ausgebreitet. Wie kann jemand, fragte sich Victor, wie kann jemand außer dem Gotteskind einem anderen so rückhaltlos vertrauen? Niemand hätte mit Gewissheit sagen können, ob Victors Hände sich nach Parvatis hirnlosem Sohn oder nach Parvati selbst emporreckten. Und später erwies es sich als ein wenig schwierig, Victor zu diesem Thema zu befragen. Trotz des erschütternden Aufpralls ließ Victor den Jungen nicht los. Seine Hände hatten Ram unter den Achselhöhlen gepackt. Er tätschelte den Jungen den Rücken und setzte ihn behutsam auf den Boden. Dann sackte er, die Augen zum Himmel gewandt, neben dem Kind zusammen und streckte sich ruhig auf der Straße aus. "

    Fortan sind die zwei jungen Helden Ravan und Eddie schicksalhaft miteinander verbunden. Beide leben sie in einem der vielen "Shawls" in Bombay, einheitlich aussehende Wohnblocks, die vor rund 200 Jahren von den Briten für indische Arbeiter gebaut wurden. Kiran Nagarkar hat in ihnen eine besondere Sozialstruktur beobachtet: Hindus und Christen lebten zwar unter einem Dach, jedoch in klar getrennten Welten. Während Hindus die unteren Etagen der Mietshäuser bewohnen würden, wären Christen in die obersten Etagen gezogen. Kiran Nagarkar war fasziniert von der Idee in seinem Roman ein Crossover der Religionen zu evozieren und bestehende Parallelwelten zusammen zu führen. Mit Ravan und Eddie ist ihm diese Konfrontation gelungen. Ravan, ein Hindu, entwickelt sich hin zu einer westlich geprägten Welt, er lernt Englisch und Kampfsportarten. Eddie wiederum, der ein Katholik ist, interessiert sich mehr und mehr für Hinduismus. Durch den changierenden Blickwinkel der beiden gewinnt das Leben im "Chawl" Lebendigkeit und Humor.

    "Man könnte meinen, dass ich das Leben im "Chawl" exotisch darstelle, es ist ein Leben an der Armutsgrenze. Aber wenn du ein kleines Kind bist, ist dir nicht bewusst, was Reichtum bedeutet, das Leben ist ein Paradigma, es ist das einzige Leben. Und genau das wollte ich deutlich machen, dass Kinder auf das Leben blicken ohne Sentimentalität, sie nehmen es, wie es ist. Sie haben nicht diese Vorstellung von arm und reich, die wir voneinander trennen und denken: Oh, armer Ravan, armer Eddie."

    Ursprünglich als Drehbuch gedacht, lebt der Roman von Geschichten und Bildern. Er ist reich an Situationskomik, mythologischen Stoffen und in einer sinnlichen Sprache erzählt. Kiran Nagarkar vermittelt eine Warmherzigkeit gegenüber seinen Charakteren, insbesondere die Mütter von Ravan und Eddie sind es, die die Familien zusammenhalten. Der Autor glaubt an die Kraft des Erzählens, diese entfalte ihre Wirkung im Idealfall erst langsam, im Akt des Lesens.

    "Für mich ist die Story wichtig. Ich denke nicht, dass du mit der Intention beginnen solltest, eine Botschaft zu vermitteln. Die Botschaft kommt von allein. Und vielleicht, wenn du ein wirklich guter Geschichtenerzähler oder ein tiefer Denker bist, kommen deine Resonanzen wie Echos, wie Zeitkapseln, die verborgen im Geist des Lesers liegen."

    Das Weltbild des Romans ist ein zutiefst duales: Komik und Tragik halten sich in der Schwebe. Es ist die Naivität der kindlichen Perspektive, die wie in Imre Kertész’ preisgekröntem Buch "Roman eines Schicksallosen" über die Realität der Ereignisse hinausführt.
    "Wenn du in Indien geboren wurdest oder einem anderen Dritte-Welt-Land, in dem du von Armut umgeben bist und wenn du in dieser Armut aufwächst, gibt es, denke ich, nur zwei Arten, den Tag zu überstehen. Eine ist, dass du total abstumpfst, du erlaubst dir keine Gefühle. Auf der anderen Seite, wenn du Gefühle zulässt, ist der Schmerz viel zu groß, oder? Dann ist die einzige Zuflucht das Kultivieren von Humor, damit du es schaffst, dich wirklich mit dem Leben, wie es ist, zu konfrontieren."

    Kiran Nagarkar, selbst aus armen Verhältnissen stammend, schreibt, wie er sagt, für alle sozialen Schichten. Für den europäischen Leser bieten insbesondere die spielerisch in den Erzählfluss eingebauten Exkurse Einblick in Themen des zeitgenössischen Indiens. "Ravan und Eddie" ist ein Buch für all die, die mehr über ein indisches Lebensgefühl erfahren wollen - ohne Sentimentalität und Bollywood-Kitsch.

    "Hellhäutig zu sein bedeutete, Gottes Auserwählter zu sein. Hellhäutigkeit zählte mehr als Unsterblichkeit, "nirvana" oder "moksha". Sie stand auf einer Stufe mit der Jungfräulichkeit. Sie war begehrenswerter als alle Schätze der Mogul-Herrscher und die Inspiration der Dichter. Zugegebenermaßen nicht begehrter als Reichtum und Macht, aber ebenso einflussreich und unentbehrlich. Denn was sind Reichtum und Macht ohne eine helle Haut schon wert?
    Kein Zweifel. Es gibt Gerechtigkeit auf Erden. Gerechtigkeit und ein Gefühl für Fairplay bilden das Fundament der Reinkarnationslehre. Wer in seinem vorhergehenden Leben den Pfad der Rechtschaffenheit wandelte, wurde hellhäutig wiedergeboren. Dabei spielte es überhaupt keine Rolle, ob man so reizvoll wie eine getünchte Wand war und einen kränklichen Hämoglobinspiegel von 2,7 hatte. Wenn man hellhäutig war, war man automatisch schön. "