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"Mit einem NPD-Verbot ist es nicht getan"

Beim Thema Rechtsradikalismus seien die Deutschen sehr mit Vergangenheitsbewältigung beschäftigt, schauten aber zu wenig auf gegenwärtige Entwicklungen, sagt der türkischstämmige Schriftsteller Zafer Senocak. Den Begriff "Dönermorde" empfindet er als verächtlich.

Zafer Senocak im Gespräch mit Friedbert Meurer | 17.11.2011
    Friedbert Meurer: Als Schande für Deutschland hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die Mordserie rechtsextremistischer Terroristen verurteilt. Bundespräsident Christian Wulff will sich jetzt morgen mit den Angehörigen der Mordopfer treffen und ihnen dabei sein Mitgefühl ausdrücken. Wulff fordert Aufklärung und er hat gestern Abend die Frage gestellt, ob die Behörden sich von Vorurteilen fehlleiten ließen. Jede Art von Fremdenfeindlichkeit müsse konsequent geächtet werden. Wulff hat sich ja schon einmal in die Debatte eingeschaltet, das war letztes Jahr am 3. Oktober, Tag der Einheit. Er sprach in Bremen davon, der Islam gehöre inzwischen auch zu Deutschland, und damals stieß er auf ein gespaltenes Echo. Am Telefon begrüße ich jetzt den Schriftsteller, Lyriker, Journalisten türkischer Herkunft, Zafer Senocak. Guten Morgen!

    Zafer Senocak: Guten Morgen.

    Meurer: Zehn Morde, Herr Senocak, acht Opfer waren türkischer Herkunft. Was sagt und denkt man da in Ihrem Freundeskreis über diese Fälle?

    Senocak: Ja, es herrscht natürlich schon Entsetzen. Aber was vielleicht noch schwieriger wiegt: Es ist nicht als eine große Überraschung so wahrgenommen worden. Ich glaube, die deutsche Öffentlichkeit ist überraschter als die deutsch-türkische, und das zeigt schon, dass sehr, sehr viel Misstrauen eigentlich bei vielen Menschen vorhanden ist gegenüber Behörden. Das beruht manchmal auch auf Alltagserfahrungen übrigens, die man macht, und auf natürlich einem Klima, das seit den 90er-Jahren ja in Deutschland vorhanden ist. Wir verdrängen das ja immer wieder. Es gibt einfach Gebiete in Deutschland, die können von Menschen, die etwas anders aussehen, nicht so einfach betreten werden. Und das ist ein Zustand, der einfach abgeschafft werden muss, und in diese Richtung müssen auch die Behörden arbeiten, die Sicherheitskräfte arbeiten, die Politiker arbeiten. Ich glaube, das geschieht nicht in ausreichendem Maße, und das ruft Misstrauen hervor. Das ist eigentlich verständlich.

    Meurer: Die Polizei hat in praktisch allen Fällen gemutmaßt, das muss die Mafia gewesen sein, da steckt Schutzgelderpressung dahinter. Das war auch hier in Köln so bei dem Nagelbombenüberfall in der Keupstraße. Haben wir da eine unterschiedliche Wahrnehmung? Deutsche nehmen das anders wahr als Türken?

    Senocak: Absolut, und das ist sehr, sehr gefährlich. Die Wahrnehmung ist absolut anders. Schauen Sie, nach diesen Morden hat man von Dönermorden gesprochen. Das war wirklich eine zweite, ganz starke Ohrfeige gegenüber allen Menschen, die irgendwie da sensibel sind, natürlich auch gegenüber den Hinterbliebenen der Opfer. Was heißt das eigentlich, Dönermorde? Die Sprache ist ja manchmal sehr verräterisch. Da stecken ja schon sehr viele Bilder drin, von dem Türken, von dem anderen, und darüber müssen wir sprechen. Die Taten sind schrecklich und es ist furchtbar, wir alle sind sehr, sehr entsetzt. Aber wir müssen auch darüber hinaus schauen und sehen, wohin geht eigentlich unsere Gesellschaft, wie führen wir eigentlich unsere Diskurse. Ich glaube, es gibt hier einen Bodensatz, aus dem auch so etwas wächst. Wir haben zum Beispiel auch verdrängt, dass in Teilen Deutschlands, vor allem auch im Osten, sehr viele Jugendliche immer wieder der Gefahr ausgesetzt sind, von Rechten verleitet zu werden, verführt zu werden von rechten Gruppen. Das ist eine Frage auch der Infrastruktur. Es gibt auch eine Infrastruktur. Darüber wird ja immer wieder auch geschrieben, aber das ist immer so eine Randbemerkung, und ich glaube, das geht uns mehr an. Das sollte wirklich jetzt ein Weckruf sein, diese schrecklichen Taten.

    Meurer: Ich will noch mal kurz nach dem Begriff Dönermorde fragen. Empfinden Sie das als verächtlich?

    Senocak: Absolut! Absolut! Was heißt das denn? Was soll das denn bedeuten? Ist da ein Döner ermordet worden, oder was ist das für eine Sprache? Es ist einfach nicht zu verstehen, dass man solche Dinge in die Welt setzt. Das sind Menschen, die haben Namen. Da sagt man, das sind Morde an diesen und diesen Personen. Ich finde, nicht mal ihr Hintergrund ist wichtig, sondern dass sie einfach als Menschen sichtbar sind. Und das waren ja auch nicht alles Dönerverkäufer, mein Gott. Also es ist wirklich schrecklich! Und was ich auch immer wieder beobachte, seit Jahren, wenn so etwas passiert, wenn ein Mensch attackiert ist, angegriffen worden ist, verletzt worden ist, getötet worden ist, der nicht deutscher Herkunft ist: Unglaublich schnell ist die Polizei mit der Feststellung, ein ausländerfeindlicher Hintergrund sei auszuschließen. Das wird auch überhaupt nicht verstanden, muss man sagen. Man hat den Täter ja noch gar nicht gefasst, aber den Hintergrund kann man ganz schnell ausschließen, und dahinter steckt, glaube ich, ein System. Das muss einmal ganz klar zur Sprache gebracht werden. Die Behörden müssen ...

    Meurer: Da würden Sie dem Bundespräsidenten die Frage also mit Ja beantworten, die Behörden lassen sich von Vorurteilen leiten?

    Senocak: Absolut! Ich finde es sehr gut, dass der Bundespräsident zumindest das zur Sprache gebracht hat, und wir müssen das genauer untersuchen. Wir müssen wirklich genauer da reingehen. Ich weiß, dass das schwierig ist. Wissen Sie, warum das auch schwierig ist? Weil es gibt eine große Empfindlichkeit in Deutschland. Das hat mit verletztem Nationalstolz zu tun. Ich habe ja ein Buch darüber geschrieben, das "Deutschsein". Es ist der verletzte Nationalstolz, der eigentlich uns so ein bisschen hemmt, in diese Richtung genauer zu schauen, weil alles, was mit Rassismus, mit Verbrechen gegenüber anderen, Andersartigkeit zu tun hat, hat in Deutschland natürlich eine ganz, ganz starke Konnotation und das wird deswegen auch mittlerweile sehr stark verdrängt, wenn es die Gegenwart betrifft. Wir schauen hier stark in die Vergangenheit hinein.

    Meurer: Aber wir sind doch stolz darauf, Herr Senocak, dass wir unsere Vergangenheit verarbeitet hätten?

    Senocak: Ja! Wir schauen in die Vergangenheit, aber wir schauen nicht in die Gegenwart. Die Vergangenheitsverarbeitung versperrt mittlerweile unseren Blick in die Gegenwart und macht uns in der Gegenwart eigentlich auch sehr sensibel und sehr ängstlich, was diese Themen angeht. Das Land ist wirklich in dieser Hinsicht gespalten. Wir müssen schon sehr, sehr stark schauen, dass diese Migrationsfrage vor allem auch eine Zukunftsfrage ist, wo es darum geht, wie leben Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammen. Das ist die entscheidende Frage und nicht, dass wir sozusagen hier eine Stimmung schaffen, wo man das Gefühl hat, das Land wird von Fremden übernommen, das Land schafft sich ab. Also was es dafür alles für Begriffe gegeben hat in letzter Zeit, da wundert mich nicht, dass sich da Heimatschutz, solche Gruppen sich bilden mit diesen Begriffen, wenn eine Angst des Heimatverlustes so groß geworden ist.

    Meurer: Geben Sie Thilo Sarrazin da eine Mitschuld?

    Senocak: Nein! Es geht nicht um Mitschuld. Es ist auch nicht allein Herr Sarrazin. Wir müssen ja erst mal die Debatten der letzten zehn, 15 Jahre anschauen. Es wäre mal interessant, das mal ein bisschen objektiv anzuschauen: Welche Türkenbilder werden da geschaffen, wie geht man mit dem eigenen Land um, wie wird mit der Heimatfrage umgegangen, mit deutscher Identität? Das ist doch wichtig! Darüber müssen wir diskutieren. Es geht nicht um Namen, um bestimmte Bücher, um einzelne Personen, sondern die gesamte Debatte muss mal angeschaut werden. Da hat Herr Sarrazin sicher seinen Platz, aber bitte, das ist nicht nur er, sondern es ist im Grunde genommen eine lange, lange Reihe von einer Debattenstruktur, die wir einfach heute anschauen müssen. Es ist nicht so: Mit einem NPD-Verbot ist es nicht getan. Man kann das nicht so Orten, einfach nur bestimmten Leuten übertragen, sondern es gibt in der Gesellschaft eine Angst, die ernst genommen werden muss. Aus dieser Angst entsteht auch große Verirrung und anscheinend auch große Aggression. Aber die Angst ist auch sozusagen etwas löslich in allen Schichten vorhanden und über die müssen wir sprechen, sonst entfernen sich die Meinungen voneinander.

    Meurer: Da Sie ja sagen, wir sollen mehr über die Gegenwart reden, kann man da in der Diskussion ausblenden Zwangsheiraten und all diese Themen?

    Senocak: Nein! Ja man braucht überhaupt gar nichts ausblenden. Nur man braucht das nicht immer national zu etikettieren. Das ist einfach absurd. Es geht nicht darum. Wir haben ja alles vermischt. Wenn es in bestimmten Familien bestimmte menschenrechtsverachtende Praktiken gibt, archaische Praktiken gibt, die es ja auch gibt, dann muss das zur Sprache gebracht werden. Aber das betrifft diese Familien, das ist nicht eine nationale, eine religiöse Zuordnung.

    Meurer: Offenbar doch! Die Statistiken zeigen, dass das doch besonders in türkischen Familien vorkommt.

    Senocak: Nein! Das kommt vor allem, das kommt in bestimmten Regionen der Türkei vor, das ist richtig. Aber es hat keine religiöse oder nationale Konnotation. Das ist genauso, wenn ich sagen würde, der Rassismus ist eine deutsche Angelegenheit, ist genetisch sozusagen den Deutschen zuzuschreiben, weil der hier immer wieder auftaucht. Das mache ich ja nicht! Aber genau diese Denkweise herrscht mittlerweile mehr und mehr in der Mehrheitsgesellschaft, was die anderen angeht, übrigens nicht nur die Türken. Da sind ja auch andere betroffen, Menschen mit dunkler Hautfarbe und so weiter. Das wird ja auch alles gar nicht mehr so groß thematisiert. Aber das hat eine historische Konnotation und es hat mittlerweile in der Gegenwart, was ich teilweise ja auch verstehe, das Land hat sich ja auch stark verändert. Deutschland hat sich stark verändert in den letzten 20, 30, 40 Jahren durch Migration. Das muss verarbeitet werden, das muss aufgenommen werden. Aber die Frage, wohin es geht, diese Frage müssen wir uns alle gemeinsam stellen, und ich glaube, es kann nur gehen mit einem starken Rechtsstaat, mit Rechtsstaatlichkeit. Das ist das, was Deutschland auszeichnet.

    Meurer: Wie groß ist Ihre Sorge, dass deutsch-türkische Jugendliche jetzt gewalttätig werden als Reaktion auf die Taten?

    Senocak: Das kann ich nicht beurteilen. Da bin ich überfragt. Es mag sein, dass es Wut gibt, aber bisher ist es ja eigentlich relativ friedlich hier. Es gibt immer wieder typisch jugendtypische Ereignisse, aber jetzt keinen direkten Hass oder so etwas. Dieses Land wird ja auch geliebt, das ist ja das Seltsame. Man muss ja immer wieder auch sagen, trotz der großen Schwierigkeiten wird Deutschland ja auch von vielen, vielen Einwanderern und ihren Kindern geliebt. Man ist gerne hier, man möchte sich eigentlich einbringen und ich finde, das wird zu wenig gesehen. Wir können einfach unsere Probleme nicht lösen, indem wir nur auf Zwangsheirat und Ehrenmorde schauen. Das können wir nicht. Diese Sachen gibt es, die muss man benennen, aber das ist nicht alles. Es gibt noch mehr. Und vor allem: Es gibt auch in der deutschen Gesellschaft eben große Probleme. Wenn wir nur auf die Probleme schauen, die einen schauen auf die Zwangsheirat, die anderen schauen auf den Rassismus, wo kommen wir denn dann hin? Was ist denn das für eine Debatte? Das funktioniert so nicht. Wir müssen wirklich schauen, dass wir das Gemeinsame, das Verbindende finden, eine aufklärerische Sprache schaffen. Vor allem: Wir müssen in den Schulen viel mehr tun. Was wird eigentlich zum Beispiel in den ostdeutschen Schulen gemacht? Das ist eine Frage, die mich sehr interessiert. Wenn man weiß, dass da eine große Zahl von Jugendlichen mittlerweile auch rechtem Gedankengut zuneigt, dann muss in den Schulen etwas passieren.

    Meurer: Viele Fragen, die wir nicht alle heute Morgen beantworten und klären können. Danke schön! Das war Zafer Senocak, Schriftsteller, Lyriker, Journalist, bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk. Ihnen besten Dank und auf Wiederhören!

    Senocak: Tschüß!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.