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Mit Kirchnerismus aus der Schuldenkrise?

Am 23. Dezember 2001 erklärte Argentinien die Zahlungsunfähigkeit. Die Schulden des Landes beliefen sich damals auf 132 Milliarden US-Dollar. Zehn Jahre danach hat sich vieles gewandelt. Und Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner hat gute Chancen, bei der morgigen Wahl im Amt bestätigt zu werden.

Von Victoria Eglau | 22.10.2011
    Die Plaza de Mayo ist der historische Platz vor dem Regierungspalast Casa Rosada in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires. Beschaulich liegt er an diesem Nachmittag im südamerikanischen Frühling in der Sonne, bevölkert von Touristen und Einheimischen. Victor Lebendiker, der in einem Verwaltungsgebäude in der Nähe arbeitet, hat Feierabend, er sitzt auf einer Bank. Vor fast zehn Jahren, am 19. Dezember 2001, erlebte er hier, im Regierungsviertel, die gewalttätigen Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der Polizei. Die argentinische Finanzkrise hatte ihren traurigen Höhepunkt erreicht.

    "Sehr viele Leute nahmen an den Protesten teil, die Polizei setzte Tränengas ein. Um fünf Uhr nachmittags, als ich das Büro verließ, sah das Zentrum von Buenos Aires so aus, wie ich es nie zuvor gesehen hatte. Alle Bürgersteige waren aufgebrochen, überall lagen Steine herum, und viele Schaufenster waren zu Bruch gegangen. An den Straßenecken brannten Autoreifen. Es sah aus wie nach einem Bombardement, schrecklich. Die Polizei unterdrückte die Proteste brutal und tötete etwa dreißig Menschen."

    Die Wut der Argentinier im Dezember 2001 richtete sich gegen die Politiker, die sie dafür verantwortlich machten, das Land finanziell und wirtschaftlich zugrunde gerichtet zu haben. "Sie sollen alle abhauen" – diesen Ruf hörte man während der Krise immer wieder. Aufgebrachte Bürger bekräftigten die Forderung, indem sie an Straßenkreuzungen auf Kochtöpfe trommelten.

    Am 20. Dezember 2001 trat Präsident Fernando de la Rua zurück und verließ fluchtartig den Regierungspalast. Drei Tage später erklärte Argentinien den Default, also die Zahlungsunfähigkeit. Die Schulden des Landes beliefen sich damals auf stolze 132 Milliarden US-Dollar. Der Politikwissenschaftler Sergio Berensztein:

    "Die Krise Argentiniens vor zehn Jahren ähnelt der Krise, die heute Griechenland durchmacht. Aber Argentinien bekam von niemandem Hilfe: nicht von der Europäischen Zentralbank, nicht vom IWF, nicht von irgendeinem Stabilitätsfonds. Nichts milderte die Schuldenlast, den Default und die darauffolgende Währungsabwertung. Es war eine große Katastrophe, der Staat begrenzte sogar den Zugriff der Bürger auf ihre Ersparnisse. Die Arbeitslosigkeit stieg auf mehr als zwanzig Prozent, rund die Hälfte der Argentinier lebte in Armut, es herrschten politische Instabilität, wirtschaftliches Chaos und natürlich eine große Unzufriedenheit mit der politischen Klasse."

    Ein Jahrzehnt nach dem Staatsbankrott scheint Argentinien ein anderes Land zu sein. Keiner fordert mehr, die Politiker sollten alle abhauen. Im Gegenteil, die Argentinier scheinen an ihrer Regierung zu hängen: Umfragen zufolge wird Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner bei der morgigen Wahl mit 52 bis 55 Prozent der Stimmen klar im Amt bestätigt werden. Kirchner hatte die Präsidentschaft vor vier Jahren von ihrem inzwischen verstorbenen Mann Nestor übernommen. Bei den Vorwahlen im August lag sie fast vierzig Prozentpunkte vor ihren Herausforderern. Wenn Cristina Kirchner diesen Triumph morgen wiederholt oder noch steigert, wird das peronistische Bündnis Frente para la Victoria, Front für den Sieg, Argentinien für weitere vier Jahre regieren.

    "Es gibt mehrere Gründe für den wahrscheinlichen Triumph Cristina Kirchners. An erster Stelle steht das Wirtschaftswachstum der letzten Jahre. Die Leute haben das Gefühl, dass die Wirtschaft floriert und das auch so weitergehen wird. In den letzten acht Jahren wurden Arbeitsplätze geschaffen, und der Konsum boomt. Hinzu kommt, dass die Präsidentin nach dem Tod ihres Mannes Nestor Kirchner vor einem Jahr ihr Image stark verbessern konnte. Solange er lebte, war Cristina Kirchner keine populäre Politikerin, aber durch Nestors Tod hat sie an Beliebtheit gewonnen. Und schließlich haben wir es mit einer schlechten und stark zersplitterten Opposition zu tun."

    Wahlkampf in Florencio Varela, einer Kleinstadt dreißig Kilometer südlich von Buenos Aires. Cristina Kirchner ist gekommen, um eine Fabrik zur Herstellung von Windrädern einzuweihen. Es ist offensichtlich, dass die Präsidentin den Jubel, die Sprechchöre und den Applaus ihrer fahnenschwenkenden Anhänger genießt. Die 58-Jährige, die seit dem Tod ihres Mannes stets Schwarz trägt, lächelt und bewegt sich kokett im Rhythmus der Trommeln. Dann preist sie in einer langen Rede die Errungenschaften der Kirchner-Regierungen in den letzten acht Jahren, etwa die Schaffung von Millionen neuer Arbeitsplätze oder die Einführung eines Kindergeldes für bedürftige Familien.

    "Als wir 2002 diese Stadt besuchten, fanden unsere politischen Veranstaltungen auf der Straße statt. Doch seit 2003, als Nestor Kirchner die Präsidentschaft übernahm, kommen wir nach Florencio Varela, um Krankenhäuser einzuweihen, Universitäten und Fabriken zu eröffnen. Unser wirtschaftliches und politisches, soziales und kulturelles Modell zielt darauf ab, den Argentiniern Chancen zu geben. Heute steht unser Land geordnet da, im Angesicht einer beispiellosen globalen Krise."

    Argentiniens Ausweg aus seiner eigenen Krise, der schlimmsten in der Geschichte des Landes, begann um den Jahreswechsel 2001/2002 mit der Erklärung der Zahlungsunfähigkeit und einer drastischen Währungs-Abwertung. Bis dahin war der Peso an den US-Dollar gekoppelt, nun verlor er fast dreißig Prozent. Der Verlust von Ersparnissen, unzählige Firmenpleiten, hohe Arbeitslosigkeit und eine sich extrem verschärfende Armut waren die verheerenden unmittelbaren Folgen.

    "Als ich 2002 Wirtschaftsminister wurde, war die Situation folgende: Meine drei Vorgänger hatten sich bemüht, vom Internationalen Währungsfonds einen Kredit in Höhe von 20 bis 25 Milliarden Dollar zu bekommen. Der IWF diskutierte auch darüber, wir hätten aber ein vom Währungsfonds entworfenes Sparprogramm umsetzen müssen. Ich habe dem IWF dann sofort mitgeteilt, dass Argentinien auf neue Kredite verzichtet und sich die Freiheit nimmt, sein eigenes Wirtschaftsprogramm zu gestalten."

    Der Ökonom Roberto Lavagna, Argentiniens Wirtschaftsminister von April 2002 bis November 2005, bekannt als der Mann, der das Land aus der Krise führte.
    "Der IWF schlug uns vor, Löhne und Renten zu senken und die Steuern zu erhöhen, um wieder einen Steuerüberschuss zu erzielen. All das, was Griechenland nun tun soll, wurde bereits 1999 auch von Argentinien verlangt. Mit dem eingesparten Geld wurden die Gläubiger bezahlt, dafür blutete die Bevölkerung finanziell aus. Unsere Alternative zu den Rezepten des IWF war: Eine Umschuldung und die Investition des freigewordenen Geldes im eigenen Land, um die Wirtschaft in Gang zu bringen. Damit hatten wir Erfolg. Wir erzielten einen Rekord-Steuerüberschuss von 4,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, indem wir Produktion und Beschäftigung wieder ankurbelten."

    Der von Roberto Lavagna für Argentinien ausgehandelte Schuldenerlass war der größte aller Zeiten. Lavagna machte den privaten Gläubigern ein Angebot, das den Verlust von knapp sechzig Prozent ihrer Ansprüche bedeutete. Nach anfänglichem Widerstand stimmten drei Viertel der Besitzer argentinischer Staatsanleihen zu. Ein neues Angebot der Regierung in Buenos Aires mit etwas geringeren Verlusten akzeptierten 2010 fast alle anderen Privatanleger. Noch ausstehend ist Argentiniens Schuld bei den Mitgliedern des Pariser Clubs, darunter Deutschland, in Höhe von sechseinhalb Milliarden Dollar. Dagegen zahlte Argentinien seine Schulden beim Internationalen Währungsfonds komplett zurück - eine Entscheidung mit hohem politischen Symbolwert, die Präsident Nestor Kirchner 2005 verkünden konnte. Seine Regierung griff dafür auf Devisenreserven der Zentralbank zurück, die vor allem durch Rekord-Erlöse aus dem Export von Agrarprodukten stark angestiegen waren.

    Ende 2002 hatte Argentiniens Wirtschaft die Talsohle durchschritten. Die Abwertung des Peso machte argentinische Exporte extrem wettbewerbsfähig und sorgte für eine positive Handelsbilanz. Seit 2003 verzeichnet die Wirtschaft des südamerikanischen Landes jährliche Wachstumsraten von im Schnitt fast acht Prozent. Insbesondere hat Argentinien vom hohen Weltmarktpreis für Gen-Soja profitiert, seinem wichtigsten Ausfuhrprodukt. Allein durch die Exportsteuer auf Soja-Exporte von 35 Prozent flossen im vergangenen Jahr rund 6,3 Milliarden Dollar in die Staatskasse. Eine weitere Säule des Wachstums: der Inlandskonsum, den die Regierungen seit der Krise konstant stimuliert haben. Hector Valle, Direktor der Stiftung für Entwicklungsforschung FIDE in Buenos Aires:

    "Argentinien verfügte über genug Steuereinnahmen, um eine stark keynesianisch geprägte Wirtschaftspolitik zu betreiben: die Finanzierung öffentlicher Bauprojekte und dadurch die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Unterstützung für einkommensschwache Schichten und Lohnerhöhungen. Es ist die Kombination günstiger außenwirtschaftlicher Bedingungen und keynesianischer Politik im Innern, die unsere Wirtschaft so stark wachsen lässt. Als 2008 die internationale Finanzkrise begann, spürte Argentinien das zwar, litt aber weniger als andere Länder. "

    Die aktuelle Krise in Europa und den USA nimmt Präsidentin Cristina Kirchner gerne zum Anlass, um – mehr oder weniger direkt – gegen den Internationalen Währungsfonds zu wettern, und die wirtschaftspolitische Autonomie Argentiniens zu bekräftigen.

    "Die direkten Verantwortlichen des Scheiterns hier in Argentinien, im Jahr 2001, und des heutigen Scheiterns in Europa und den USA wollen der Welt immer noch dieselbe Medizin verabreichen, die sie uns Argentiniern in den neunziger Jahren gaben, um uns zu ruinieren. So viel Starrköpfigkeit ist wirklich nicht zu verstehen. Wir Argentinier haben ein gutes Gedächtnis, wir vergessen nicht, was passiert ist. Unsere Wirtschaftspolitik wird in der Casa Rosada, unserem Regierungspalast, entschieden!"

    Ist Argentinien ein Beispiel, ein Vorbild für einen erfolgreichen Ausweg aus der Krise? Für den Politologen Sergio Berensztein, Direktor des renommierten Meinungsforschungsinstitutes Poliarquía in Buenos Aires, steht die Antwort fest:

    "Argentinien ist in keinster Weise ein Vorbild. 2003 kam mit Nestor Kirchner ein sehr populistischer Politiker an die Macht, eine starke Führungsfigur, die das während der Krise entstandene Machtvakuum füllte, und von den hohen Preisen für argentinische Rohstoffe profitierte. Unser Land kann kein Beispiel dafür sein, wie man eine Situation hoher Verschuldung überwindet, da wir unseren Ruf für viele Generationen ruiniert haben. Wir haben seit acht Jahren eine populistische Regierung, die uns anlügt und die tatsächliche Inflation verschweigt, die korrupt ist, die uns Informationen vorenthält, die ein investitions- und entwicklungsfeindliches Klima schafft und den Privatsektor drangsaliert."

    Sergio Berensztein steht mit seinem harten Urteil über den Kirchnerismo, den Kirchnerismus, nicht allein da. Auch andere politische Beobachter sehen die Regierung kritisch. Mehrere große Medien, darunter Argentiniens auflagenstärkste Tageszeitung Clarín und das konservative Blatt La Nación, befinden sich in Opposition zur Kirchner-Regierung. Die eigentliche politische Opposition ist jedoch seit den Vorwahlen im August, bei denen ihre Kandidaten weit abgeschlagen hinter der Präsidentin landeten, wie gelähmt.

    Die Ausnahme ist der Sozialist Hermes Binner. Ihm werden die besten Chancen eingeräumt, beim morgigen Urnengang das zweitbeste Ergebnis zu erzielen. Laut Umfragen kann der Präsidentschaftskandidat des Mitte-Links-Bündnisses Frente Amplio Progresista mit vierzehn bis sechzehn Prozent der Stimmen rechnen.

    Ende September im Theater Gran Rex in Buenos Aires. Hermes Binner stellt der Öffentlichkeit das Wahlprogramm der "Breiten Progressiven Front" vor. Ein außergewöhnlicher Moment im stark personalisierten argentinischen Wahlkampf, in dem Parteien und Programme kaum eine Rolle spielen. Binner ist ein hochgewachsener, grauhaariger Arzt, dem es an Charisma und rhetorischer Schärfe fehlt, der aber den Ruf eines seriösen und sauberen Politikers besitzt. Gerne verweist er auf seine Regierungserfahrung und seine Erfolge als Gouverneur der Agrar-Provinz Santa Fe und als Bürgermeister der Großstadt Rosario. Binner verspricht den Wählern eine Regierung ohne Korruption und einen funktionierenden Rechtsstaat.

    "Wir sind die schwerwiegenden Vorkommnisse in unserem Land leid. Normale Gesellschaften wären darüber ernsthaft besorgt. Aber hier in Argentinien herrscht Straflosigkeit. Jede Menge abscheulicher Taten bleiben ungesühnt, die Justiz erfüllt ihre Aufgabe nicht. Die Straflosigkeit ist das Schlimmste, das einer Gesellschaft widerfahren kann."

    In der Wirtschaftspolitik will Kandidat Binner Korrekturen vornehmen, insbesondere Argentiniens Abhängigkeit vom Rohstoff-Export verringern.

    "Wir wollen nicht reiner Rohstofflieferant, sondern Industrieland sein. Es ist nötig, dass wir mehr Wissen, Forschung und Technik generieren, damit unser Land wächst. Argentinien hat eine große Chance, nicht nur Rohstoffe zu exportieren, sondern eine weiterverarbeitende Industrie und damit neue Arbeitsplätze zu schaffen."

    Bremsen will Cristina Kirchners Herausforderer Binner die Inflation. Diese wird von der Regierung seit Jahren beschönigt und lag laut Nationaler Statistik-Behörde INDEC in den zurückliegenden zwölf Monaten bei knapp zehn Prozent, während unabhängige Institute eine viel höhere Inflationsrate, nämlich 25 Prozent, ermittelten.

    "Wir brauchen eine klare Anti-Inflations-Politik, denn die Inflation ist die ungerechteste Steuer, die es gibt. Unter ihr leiden vor allem Menschen, deren Einkommen nicht steigen, sowie Sozialhilfeempfänger und Rentner."

    Für Argentiniens ehemaligen Wirtschaftsminister Roberto Lavagna hat der galoppierende Preisanstieg mehrere Gründe. Es werde zu wenig investiert, die Produktion halte mit der hohen Nachfrage nicht Schritt. Außerdem hänge die Inflation damit zusammen, dass der Steuerüberschuss in den letzten Jahren zusammengeschmolzen sei. Auch Lavagna beunruhigen die sozialen Folgen.

    "Keine Sozialpolitik kann erfolgreich sein, wenn die Inflation hoch ist. Dass seit 2007 die Armut wieder wächst, hat mit der Beschleunigung des Preisanstiegs zu tun."

    Offiziellen Angaben zufolge sind heute, zehn Jahre nach der Krise, 8,3 Prozent der Argentinier arm. Doch ähnlich wie die Inflationsrate gilt diese Zahl als unrealistisch. Nach Erkenntnissen unabhängiger Experten liegt die Armutsrate in Argentinien zwischen zwanzig und dreißig Prozent. Eines der gravierendsten sozialen Probleme ist der Wohnungsmangel. Eine Nichtregierungsorganisation veröffentlichte kürzlich alarmierende Zahlen: In Buenos Aires und seinem großen Einzugsgebiet, dem Conurbano, gibt es fast neunhundert Elendssiedlungen, neunzig davon seien in den letzten fünf Jahren entstanden. Präsidentin Cristina Kirchner betonte unlängst, die Regierung habe seit 2003 achthunderttausend Wohnungen gebaut. Das reiche nicht, meint der Wirtschaftswissenschaftler Hector Valle.

    "Argentinien braucht nun tiefer gehende Reformen, Wohnungen für das Volk statt Luxus-Apartments. Wenn man eine gerechtere Verteilung des Wohlstands erreichen will, muss man Arbeitsplätze schaffen, und das geschieht. Aber der Staat muss auch dafür sorgen, dass die Menschen mit ihren Löhnen ein eigenes Heim bezahlen können. Das Ziel sollte sein, drei Millionen erschwingliche Unterkünfte zu bauen. Wenn die Präsidentin, wirklich eine sehr intelligente Person, das Problem der Wohnungsnot in den nächsten Jahren löst, wäre das ein substanzieller Fortschritt."